Murat Kurnaz und die "graue Effizienz"
Bremer Türke noch immer nicht aus Lager Guantanamo entlassen
Von Claus Stille
In der allgemeinen Hysterie in Folge der schrecklichen 9/11-Terroranschläge
des Jahres 2001 in den USA drückten ihm die Medien ohne mit der Wimper
zu zucken den Stempel "Bremer Taliban" auf.
Selbiger pappt ihm noch heute an. Obwohl inzwischen als erwiesen gilt,
dass Murat Kurnaz nichts mit den Taliban zutun hatte; und vor seiner Festnahme
2001 in Pakistan weder Verbrechen gegen die Supermacht USA plante bzw.
in die Tat umsetzte.
Bekannt ist lediglich - und so haben es auch die Eltern erlebt - dass
sich ihr Sohn Murat, der vorher ein ganz "normaler" junger Mann,
mit bestimmten Interessen, Sorgen und Nöten wie viele andere seines
Alters auch gewesen war - ab einem bestimmten Zeitpunkt zusehnds zu einem
religiösen Menschen entwickelte.
Deshalb zog es ihn wohl auch nach Pakistan. Um in dem Lande eine der zahlreichen
Koran-Schulen zu besuchen.
Dort bescheinigte man Journalisten auf Nachfragen nach Murat Kurnaz einzig
ein starkes Interesse am Koran. Und die Schule selbst steht weder im Ruf
noch im Verdacht, ein Hort des Terrorismus zu sein.
Dass Murat Kurnaz damals dennoch auf pakistanischen Boden von den dortigen
Behörden als offenkundig Terrorismus-Verdächtiger verhaftet
und dann übergangslos
an die US-Kräfte überstellt, und von denen wiederum in das von
der Bush-Administration installierte Gefangenlager Guantánamo Bay
auf Kuba deportiert wurde, ist mit Sicherheit auf die damalige Terror-Hysterie
zurückzuführen. (Lesen Sie dazu auch den Beitrag "Der verlorene
Sohn aus Bremen", Istanbul Post vom 26.12.2005)
Unterdessen ist Murat Kurnaz 24 Jahre alt. Und noch immer bangen seine
Eltern in Bremen um ihren Sohn im Folterlager Guantánamo.
Dabei ist längst klar - was eben nicht einmal mehr die US-Behörden
bezweifeln: Murat Kurnaz ist absulut nichts vorzuwerfen.
Vier Jahre nun schon kämpfen Diplomaten, Murat Kurnaz' Eltern und
sein Bremer Anwalt Bernhard Docke im Verein mit einem US-Advokaten um
dessen Freilassung.
Selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel will sich bei ihrem USA-Besuch im
Februar diesen Jahres um eine Lösung des Falles bemüht haben.
War zu hören.
Von ihrem Vorgänger Gerhard Schröder ist uns diesbezüglich
nichts zu Ohren gekommen.
Wieder einmal war für kurze Zeit in den Medien vom "Bremer Taliban"
die Rede. Jetzt herrscht abermals Funkstille.
Dabei könnte Murat Kurnaz längst wieder bei seinen Lieben in
Bremen sein! Selbst die obskure deutsche Einreisesperre, die dies noch
hätte verhindern können, ist seit dem
19. Januar 2006 aufgehoben worden.
Der deutsche Innenminister Schäuble (CDU) kündigte am 28. März
2006 an, Kurnaz käme "bald" frei.
Dass der Türke aus Bremen indes nun dennoch nicht frei ist und immer
noch in Guantánamo statt in Bremen weilt, ist nicht nur sehr bedauerlich
und unverständlich, sondern letztlich ein Skandal.
Nämlich deshalb, weil Kurnaz bereits im Oktober 2002 (!!!) hätte
ein freier Mann und in Bremen sein können!
Jedenfalls steht jetzt unbestritten fest, dass die US-Gefangenwärter
zu dieser Zeit den Vorschlag machten, Kurnaz nach Deutschland zurückzuschicken.
Doch dort war er offenbar aber unerwünscht. Im Bundeskanzleramt hieß
es nur lapidar: Kurnaz sei Türke. Niemand interessierte, scheint's,
dass Kurnaz' Lebensmittelpunkt Bremen war.
Die ebenfalls befragte türkische Regierung sah nun offenbar gerade
darin wiederum einen Grund ihrerseits nicht wesentlich stärker bei
den USA für Kurnaz zu intervenieren, als das vielleicht möglich
gewesen wäre, wenn dieser in der Türkei gelebt hätte.
Die US-Seite muss damals ziemlich verwundert über Berlin gewesen
sein: nun wollte man schon mal als einen der ersten Gefangenen von Guantánamo
überhaupt einen aus Deutschland entlassen und die Krauts zeigten
gar kein Interesse an dem Mann!
Dieser Fakt der verpassten Chance für Kurnaz ist nicht nur skandalös
- hatte das Bundeskanzleramt der inzwischen verflossenen Schröder-Fischer-Regierung
Rabiye Kurnaz doch immer wieder versichert, sich für ihren Sohn einzusetzen
- sondern läßt heute auch ahnen, was da sicherlich noch so
alles an Schmutz nach oben kommen könnte, wenn der
bereits beschlossene und am 11.Mai seine Arbeit aufnehmende "BND-Untersuchungsausschuss"
erst einmal richtig in Fahrt gekommen sein wird!
Auch der CIA-Untersuchungsausschuss des EU-Parlaments dürfte über
den Fall "Kurnaz" hinaus nebenbei bemerkt noch so manch anderes
Unerquickliches zu Tage fördern. Am 26. April 2006 stellte dieser
schon einmal fest: die CIA sei "eindeutig verantwortlich für
die Entführung ... und ilegale Gefangennahme mutmaßlicher Terroristen
auf dem Grundgebiet der EU-Mitgliedsstaaten..."
Laut Kurnaz' Rechtsanwalt Docke zeige der von ihm vertretene Fall deutlich,
wie vor allem im US-Interesse Deutsches Recht gebeugt wurde.
Als die US-Geheimdienste beispielsweise Informationen über etwaige
Kontakte Kurnaz' in die terroristische Szene von Deutschland begehrten,
lehnte die verantwortliche Bremer Staatsanwaltschaft ab, weil man über
den späteren Gebrauch jener Erkenntnisse seitens der US-Behörden
nichts wisse, bzw. gar einen Mißbrauch damit befürchtete.
Das Bundeskriminalamt in Wiesbaden aber erwies sich dann als treuer "Bruder"
der US-Geheimdienste und hatte dagegen keinerlei Skrupel, die vom Bremer
Landeskriminalamt erlangten Erkenntnisse postwendend an die Staaten auszuliefern.
Heute schweigt das BKA im Gegensatz zu damals allerdings fein still und
verweist stattdessen pflichtbewußt und sich gesetzestreu gebend
auf die Geheimhaltungspflicht.
Der frühere Innenminister Schily (SPD) und sein Nachfolger im Amte
Schäuble (CDU) machen jedenfalls im Falle "Kurnaz" ganz
und gar keine gute Figur.
In einem Bericht der Zeitung "Neues Deutschland" heißt
es etwa, beide "würden immer mehr zur Schande für den Rechtsstaat,
indem sie mindestens fahrlässig, vielleicht sogar absichtlich duldeten,
dass Kurnaz seit mittlererweile vier Jahren ohne Anklage und Gerichtsverfahren
in einem Folterknast einsitzen muss."
Ebenfalls dieser Tage beleuchtete die Wochenzeitung "Die Zeit"
abermals den Fall und verwies darauf, dass er doch für jedermann
seit vielen Monaten einsichtig ist.
Dennoch bleibt Murat Kurnaz immer noch eingekerkert.
Aus der Politik kommt Kritik vor allem aus der linken Ecke des deutschen
Parlaments.
So verlangt der Bundestagsabgeordnete Jan Korte (Die Linke) von der Bundesregierung
betreffs des Falls Kurnaz "endlich in die Gänge zu kommen".
Auch seine Fraktionskollegin Ulla Jelpke macht der deutschen Regierung
schwere Vorwürfe. Sie griff besonders deren Informationspolitik an.
Denn die deutsche Regierung habe immer wieder versucht die Freilassungsverzögerungen
den USA in die Schuhe zu schieben.
Kommen diese Erklärungen aber - da wir nun wissen, dass die USA den
Deutschen die Freilassung von Murat Kurnaz schon im Jahre 2002 angeboten
haben - nicht einer Lüge gleich?
Also: Wußte man nicht in Berlin? Das wäre eine Blamage für
die Regierung Schröder/Fischer. Und ein Armutszeugnis. Für jede
Regierung.
Oder wollte man nicht wissen? Das wäre dann schon bösartig.
Und erfüllte eigentlich den Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung
des Deutschen Staates für einen Menschen, welcher immerhin vor seiner
Überstellung in das US-Gefangenenlager rechtmäßig in Deutschland
gelebt hat; und der unschuldig in eine schlimme Lage geraten ist!
Und da hätte es auch ein Geschmäckle, wenn man sich damit herauszureden
versuchte, dass Murat Kurnaz ja kein deutscher Staatsbürger und eben
"nur" ein Türke mit Aufenthaltsstatus ist. Dem zu helfen
man nicht verpflichtet ist.
Besonders die ehemalige Schröder-Regierung hätte nicht so denken
dürfen, weil sie so häufig das Wort "Menschenrechte"
im Munde führte. Wenngleich sie sich andererseits ohne groß
mit der Wimper zu zucken als erste deutsche Nachkriegsregierung wieder
an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg (gegen Jugoslawien) -
wenn freilich auch aus gewichtigen "humanitären" Gründen
- beteiligte.
Wie auch immer: Murat Kurnaz, der vom Medienhype - wie inzwischen völlig
klar ist - völlig ohne Beweise fahrlässig zum "Bremer Taliban"
gestempelt worden ist, muss endlich und unverzüglich freikommen!
Vor nicht allzu langer Zeit beschied ein US-amerikanisches Gericht, dass
die US-Regierung alle Namen der auf Guantánamo Inhaftierten veröffentlichen
müsse. Dies ist inzwischen geschehen.
Für Insider waren diese Namen sowieso in großen Teilen längst
kein Geheimnis mehr. Und böse Terroristen im Sinne der Bush-Administration
befinden sich auch gar nicht unter ihnen.
Nicht einmal der CIA dürfte dies anders sehen.
Deshalb gehen informierte Kreise und einige Journalisten schon jetzt davon
aus, dass die USA das Lager deshalb wohl bald auflösen und die ohne
Gerichtsbeschluß dort inhaftierten rechtlosen Menschen - die so
genannten "Feindlichen Kämpfer" - in ihre Heimatländer
zurück schicken wird.
Der Weg des geringsten Widerstandes für die derzeitige deutsche
Bundesregierung wäre nun freilich der, bis dahin zu warten. Denn
dann käme ja automatisch auch Murat Kurnaz frei.
Aber das wäre eine weitere Schande für Deutschland. Schließlich
hat man sich im Falle Kurnaz ja schon bisher nicht gerade mit Ruhm bekleckert.
In dem Kontext wäre es auch einmal ganz interessant zu erfahren,
was eigentlich Frank-Walter Steinmeier, der jetzige SPD-Außenminister,
von dieser Sache wußte und persönlich in dem Falle tat bzw.
unterließ.
Er nämlich war in der letzten Regierung Chef des Kanzleramtes unter
Schröder. Man nannte den grauhaarigen wichtigen Mann im Hintergrund
des Bundeskanzlers, offenbar seiner peniblen Gründlichkeit wegen,
damals SCHRÖDERS GRAUE EFFIZIENZ. Manche sollen ihn auch als "Dr.
Makellos" bezeichnet haben.
Im Falle Murat Kurnaz hat sie offensichtlich versagt. Diese viel gerühmte
Effizienz. Noch heute läßt sie in diesem Falle sehr zu wünschen
übrig. Oder war gar gerade - ein Schelm, der Arges dabei denkt -
jener Effekt gar erwünscht und schiere Ausgeburt von Effizienz?
Wird der "BND-Untersuchungsausschuss" herausbringen warum?
Murat Kurnaz - dem bitteres Unrecht geschah - wird's interessieren.
Davon hängt nicht zuletzt ab, wie die sich dessen weitere Integration
in die deutsche Gesellschaft vollzieht.
Eine Integration, von der in diesen Tagen so viel geredet und geschrieben
wird, aber für die in Wirklichkeit nur (zu) wenig getan wird.
|