Jahrgang 4 Nr. 31 vom 8.08.2006
 

Jetzt kostenlos!



 

 Das Alevitentum als Forschungsobjekt
Interview mit Dr. Martin Sökefeld

Interview von Ali Sirin

Das Alevitentum ist längst ein Forschungsobjekt viele deutscher Wissenschaftler geworden. Sie forschen und lehren über das Alevitentum. Einer von ihnen ist Dr. Martin Sökefeld von der Uni Hamburg. Die AAGB führte daher mit ihm ein Interview, warum gerade diese Glaubensgemeinschaft für ihn zum Forschungsgegenstand wurde.

 

1) Warum beschäftigen Sie sich mit dem Alevitentum? Woher kommt das Interesse?

Mein Interesse an den Aleviten ist zufällig entstanden: Ich bin im April 1993 nach Hamburg-Altona gezogen und habe dort gleich neben dem Alevitischen Kulturzentrum gewohnt. Auf der Tafel am Eingang des Zentrums habe ich zum ersten Mal von Aleviten gelesen. Kurze Zeit später geschah das Sivas-Massaker, über das ich in der Presse las. Der Kontakt zu Aleviten entstand aber erst knapp zwei Jahre später, als ich in einem interkulturellen Zentrum in Altona arbeitete, das direkt neben dem Alevitischen Kulturzentrum gelegen war und von den Aleviten, vor allem von Jugendlichen, für Kurse und Veranstaltungen genutzt wurde. Im Mai 1995 gab es dann das Massaker in Gazi, und daraufhin habe ich mich ausführlicher mit verschiedenen Mitgliedern des Zentrums unterhalten, um mehr über Aleviten zu erfahren. Ich war ziemlich beeindruckt davon, dass sich junge Aleviten sehr engagiert für das Alevitentum einsetzten und an allem Alevitischen sehr interessiert waren. Das war für die alevitischen Jugendlichen damals ja auch noch ziemlich neu, da die Aleviten erst wenige Jahre zuvor an die Öffentlichkeit getreten waren. Für mich als Ethnologen war das eine sehr interessante neue Identitätsbewegung, und langsam entstand die Idee, mich damit wissenschaftlich zu beschäftigen.


2) Wie bewerten Sie die bisherige Entwicklung der alevitischen Gemeinde in Deutschland?

Die alevitische Gemeinde hat in relativ kurzer Zeit sehr viel erreicht. Der Religionsunterricht ist hier ein wichtiges Stichwort, aber auch die generelle Anerkennung der Aleviten in der deutschen Politik und Gesellschaft. So wird heute viel differenzierter etwa über Einwanderer aus der Türkei diskutiert, als noch vor einigen Jahren. Mehr Menschen in Deutschland wissen inzwischen, dass es Aleviten gibt, auch wenn der allgemeine Kenntnisstand über das Alevitentum ziemlich gering ist. Daran hat die Institutionalisierung des Alevitentums in Deutschland in den lokalen Vereinen, vor allem aber im Dachverband der Alevitischen Gemeinde Deutschland entscheidenden Anteil. Auch dass etwa in der Diskussion um den EU-Beitritt der Türkei auf die Situation der Aleviten in der Türkei eingegangen wird, ist ein Verdienst der Alevitischen Gemeinde.


3) Wird Ihrer Meinung die Einführung des alevitischen Religionsunterrichts in Deutschland auf die Religionspolitik der Türkei Einfluss nehmen?

Ich glaube, dass die Einführung des alevitischen Religionsunterrichts in Deutschland an sich auf die Politik der Türkei keinen Einfluss hat. Vielleicht führt der Unterricht in Deutschland als Vorbild aber dazu, dass Aleviten in der Türkei noch stärker für die Anerkennung des Alevitentums dort mobilisieren. Ich denke aber, dass tatsächliche Änderungen der türkischen Religionspolitik nur durch internationalen Druck zustande kommen, also vor allem dadurch, dass die EU entsprechende Bedingungen für den Beitritt der Türkei stellt. Selbst dann ist es von der Änderung in der Theorie bis zu einer neuen Praxis noch sehr weit, wie ja auch die anderen Reformen in der Türkei bisher gezeigt haben.


4) Findet zurzeit unter den Aleviten eine Rekonstruktion der eigenen Identität statt?

Ja, und das ist ganz normal. Identität entwickelt sich immer in Auseinandersetzung und Kommunikation mit anderen, und da sich diese gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ständig ändern, ändert sich auch das Verständnis der eigenen Identität. Im gegenwärtigen Prozess der Erneuerung des Alevitentums gehen vermutlich viele Details etwa in Riten und Glaubensüberzeugungen verloren, da sie lange nicht praktiziert wurden. Dafür haben Aleviten ein neues Selbstbewusstsein gewonnen, und das ist sicher positiv.


5) Wie verfolgen Sie den Generationswechsel unter den Aleviten? Wie werden die Jugendlichen Ihrer Meinung das Alevitentum fortführen? (Vielleicht konservativer?)

Es ist eine sehr interessante Frage, was aus dem Alevitentum in Deutschland wird, wenn es von Menschen dominiert wird, die nicht mehr selbst aus der Türkei eingewandert, sondern in Deutschland aufgewachsen sind. Ich schätze, dass sich dadurch das Alevitentum eher an in Deutschland vorherrschende Modelle religiöser Organisation angleichen wird. Eine gewisse "Verkirchlichung" kann man ja auch heute schon beobachten, etwa in der stärkeren Institutionalisierung, oder in dem Versuch, Beziehungen zwischen Vereinen und Dedes auf eine quasi "vertragliche" Grundlage zu stellen. Die Frage ist vor allem, ob das Alevitentum für die "dritte Generation" noch "interessant" sein wird, so dass sie sich dafür engagiert. Da nach meiner Erfahrung heute eher wenig Tradierung des Alevitentums in den Familien stattfindet, wird das wohl vor allem davon abhängen, wie sehr die Vereine dazu in der Lage sind, junge Aleviten zu mobilisieren und ihnen die entscheidenden Werte und Praktiken zu vermitteln.


6) Zum Schluss eine ehrliche Meinung eines Außenstehenden: Wie sehr setzen die Aleviten ihre Ideale in der Praxis wirklich um?
 
Ich glaube, da geht es den Aleviten so wie allen Menschen: Ideale sind deswegen Ideale, weil sie eben normalerweise nicht vollständig umgesetzt werden, sondern weil sie ein Ziel darstellen, nach dem man streben soll. Man kann das gut am Ideal der Geschlechtergleichheit aufzeigen: Im Gegensatz zum Ideal der Gleichheit werden die alevitischen Organisationen ziemlich eindeutig von Männern dominiert, Frauen spielen insgesamt eine untergeordnete Rolle. Das hat natürlich verschiedene Gründe (die nicht alle unbedingt den Männern "anzulasten" sind), und daraus sollte man sicher nicht die Konsequenz ziehen, das Ideal aufzugeben, sondern sich noch mehr für seine Verwirklichung zu engagieren.
Vielen Dank für das Gespräch 
Interview Ali Sirin

 

 

 

 

Archiv

Zurück