Jahrgang 4 Nr. 46 vom 21.11.2006
 

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Im Spagat zwischen Orient und Okzident:       
Istanbul wird neben Essen und Pécs Kulturhauptstadt Europas 2010

Von Claus Stille

Nun ist es offiziell. Letzte Woche hat der Europäische Rat verkündet, dass Essen - die deutsche Stadt steht stellvertretend für das Ruhrgebiet - Kulturhauptstadt Europas 2010 sein wird.
Weitere Kulturhauptstädte neben Essen werden Pécs in Ungarn und die türkische Megametropole Istanbul sein.

Dass die Stadt am Bosporus durch den Europäischen Rat neben den erwähnten beiden anderen Städten ebenfalls Berücksichtigung fand und damit auch eine nicht zu unterschätzende hohe Anerkennung erfuhr,  zeugt von der der Geschichte, der aus Byzanz und Konstantinopel hervorgegangenen Stadt Istanbul heute beigemessenen Bedeutung einerseits und einem feinen Gespür dafür andererseits, welchen Einfluß die türkische Metropole in der Gegenwart  - auch für Europa ingesamt - und hier besonders in kultureller Hinsicht  auf uns bereits hat bzw. haben kann oder wird.

Trotzdem die Stadt Istanbul vor allem auf Grund der in den letzten Jahrzehnten erfolgten enormen Zuwanderung von Arbeit und Wohnraum suchenden Menschen aus vorwiegend ländlichen und wirtschaftlich rückständigen Teilen der Türkei und den daraus erwachsenen sozialen Verwerfungen, sowie den damit gleichzeitig einhergehenden enormen Umwelt- und Verkehrsproblemen durchaus eine mit so manchen Schwierigkeiten und Widrigkeiten kämpfende Megacity ist; ist sie nach wie vor ein bei Menschen in aller Welt beliebtes touristisches und lohnendes - weil geschichtsträchtiges -  Ziel, sondern daürberhinaus auch eine Metropole, die mit atemberaubendem Tempo durchaus zuversichtlich und für alle Augen sichtbar mit Macht in die Zukunft drängt.

Hier die Gecekondus der im Schatten der Gesellschaft stehenden armen, bildungsfernen Schichten der Istanbuler Stadtbevölkerung, dort die wie Pilze einer nach dem anderen in den Himmel schiessenden, im Licht der grellen Sonne überm Bosporus glänzenden und blinkenden Glaspaläste der Banken und Konzernzentralen - Istanbul ist eine Stadt der auf- und erregenden, sich manchmal gegenseitig anziehender oder auch abstoßender krassen Gegensätze.

Das brodelnde und quirlige Leben der scheinbar niemals schlafenden Stadt spielt sich überdies auch noch auf zwei Säulen, bzw. zwischen ihnen ab, die beim ersten Gedanken unterschiedlicher nicht sein können und doch unmittelbar zusammengehören: einer asiatischen und einer europäischen Seite. Standbeine gewissermaßen, zwei Teile einer gemeinsamen Stadt, deren Gegensätze zwar hier und da hart zusammenprallen mögen, gleichzeitig aber dank einer architektonischen Meisterleistung - einer den Bosporus kühn überspannenden Brückenkonstruktion, welche genial und auf wundersame Weise sozusagen auch gleichzeitig zu einen der eigentlichen Entwicklung vorauseilenden Blick in eine mögliche Zukunft eines dicht und friedlich an Europa gebundenen asiatischen Kontinents inspirieren kann - harmonisch zusammengeführt werden.

Gerade diese einzigartige geografische Lage der Stadt Istanbul ist es im Grunde, welche - weitergedacht - zu dem politischen Begriff der "Brückenfunktion" hinführt, zu welcher die Türkei als künftiges Mitglied der Europäischen Union im Hinblick auf die nahe arabische Welt und deren Beziehungen zu Europa einzunehmen ureigentlich prädistiniert wäre!
Nur leider ist es derzeit noch so, dass bestimmte "Strategen" in Europa diese für die Zukunft der EU  nicht gerade unwichtige Tatsache entweder aus egoistischen oder anderen, letzten Endes überhaupt nicht nachvollziebaren, Gründen heraus nicht sehen wollen oder von ihrem von Borniertheit bestimmten Standpunkt aus nicht können.
Die Folgen, würde die Türkei letztlich nicht in die EU aufgenommen, mahnen Experten, welche klarer und tiefer in die Zukunft hinein zu denken imstande sind, immer wiede, könnten für uns alle fatal und die daraus erwachsenden Verletzungen und politischen Verwerfungen in der Region unter Umständen kaum oder nur schwer und allein unter enormen Verlusten wieder reparabel sein.

In diesem Kontext gesehen, ist die Entscheidung des Europäischen Rates von letzter Woche für Istanbul als Kulturhauptstadt 2010 eine äußerst erfreuliche Angelegenheit.
Schließlich tut sich in der Metropole am Bosporus einiges in puncto Kultur.
Wie die Türkei als ganzes selbst, ist auch Istanbul eine junge Stadt. Wie die Türkei - was seine Bevölkerung angeht -  ein junges Land ist.
Jung, weil eine sicherlich überwiegende Mehrheit der Bevölkerung mindestens unter dreißig Jahre alt ist.
So nimmt es dann natürlich nicht wunder, dass sich in Istanbul auch eine reichhaltige Szene an jungen, aufstrebenden Künstlern findet.
Selbst ihre Musikszene betreffend steht die Stadt Istanbul Paris, New York oder London kaum nach.  Auch die Theaterlandschaft Istanbuls mit seinen Sprech- und Opernbühnen, Ballettkompagnies und Orchestern ist äußerst vielfältig und braucht sich gewiß im Weltmaßstab gesehen ganz und gar nicht zu verstecken.
Überdies ist die Modebranche der Stadt von je her als innovativ bekannt, durchaus  weiter im Aufwind begriffen, weshalb sie längst auch über die Grenzen der Türkei hinaus Schlagzeilen macht und neugierige Besucher anzieht.

Die Filmbranche erhält durch junge hoffnungsvolle, gut ausgebildete Talente ebenfalls stetig frische positive und anspornende Impulse, welche die Produktionsfirmen sich immer öfters auch an neue Stoffe heranwagen läßt, die Themen und Problemstellungen behandeln, welche den Menschen gegenwärtig auf den Nägeln brennen. Was den nationalen türkischen Film als solchen nur befruchten kann, welcher lange im Schatten kitschiger und immer gleicher wieder und wieder bedienter abgedroschener Sujets verharrte  und deshalb international so gut wie keinen Fuß in die Tür bekommen konnte.
Nicht zuletzt wird Istanbul auch immer einmal wieder von Auslandstürken, wie beispielsweise dem in Hamburg lebenden Filmregisseur Fatih Akin (u.a. "Gegen die Wand"),  als interessanter Drehort -  u.a. auch wegen seiner manigfaltigen und nicht nur Kenner berauschenden Musikszene -  entdeckt. Was wiederum ganz neue Arbeits- und Kooperationsmöglichkeiten zum beiderseitigen Nutzen mit einheimischen Filmemachern und Schauspielerinnen und Schauspielern eröffnet, von denen immer wieder einmal wechselseitige Inspirationen ausgehen, von denen man bisher kaum zu träumen wagte.

Natürlich sitzen in Istanbul auch die großen türkischen Fernsehstationen. Wie es überhaupt eine große Medienkonzentration in der Stadt gibt. Auch was den Print-Bereich anlangt. Selbst unter diesen vielen, zugebenermaßen nicht selten in eher niederen boulvardesk angehauchten Regionen fischenden Medien dürfte es in naher Zukunft auch andere geben, denen die Kulturhauptstadtnominierung Istanbuls vielleicht Möglichkeiten erkennen läßt, ein höheres Niveau zu erklimmen. Schließlich wächst auch in Istanbul etwa mehr und mehr ein Bildungsbürgertum heran, dass entsprechende Ansprüche erhebt.

Selbst auf dem Gebiete der Kunst gerät Istanbul noch weiter als das bisher bereits der Fall ist, zunehmend in den internationalen Fokus.
Schon jetzt existieren auf dem Gebiete der Stadt nicht wenige wichtige Galerien.
Darüberhinaus wirft schon jetzt ein neues, interessantes Kunst-Projekt seine Schatten weit voraus: Die Kunsthalle SANTRAL ISTANBUL.
Die Vorbereitungen für deren Eröffnung im kommenden Jahr laufen auf Hochtouren.
 
Die Kunsthalle SANTRAL (Zentrale) ISTANBUL ersteht in den baulichen Hinterlassenschaften eines veralteten, außer Dienst gestellten Elektrizitätswerks im Herzen der Stadt, welches sich in einem ihrer ältesten Industrieviertel befindet.
Die Idee dazu entsprang im Mai 2005 unter den Teilnehmern einer an der Istanbuler Bilgi-Universität veranstalteten Konferenz.
Die künftige Kunsthalle soll zu einem Ort vielfältigen Begegnungen werden. Auf dem Terrain wird es ein Museum für zeitgenössische Kunst, eine Künstlerresidenz, eine Bibliothek sowie ein Energie-Museum geben.

SANTRAL ISTANBUL mit seinen zukünftigen Gegebenheiten verspricht jedenfalls auf einer Fläche von 118 000 Quadratmetern national wie international betrachtet eine interessante Angelegenheit und damit eine Bereicherung für die Kunstszene - auch weltweit betrachtet - zu werden.
"Auch Sie können ihre eigne Tate Modern haben", prophezeite seinerzeit der Leiter des berühmten britischen Museums, Donald Hyslop voller Optimismus.  

Es ist stark zu hoffen, dass die Metropole Istanbul, welche auf ihren Stadtgebiet Europa und Asien geografisch miteinander verbindet, sich als Kulturhauptstadt des Jahres 2010 (zusammen mit Essen und Pécs) der sich bietenden Chancen bedient, und diese einmalige Möglichkeit  mit den Mitteln von Kultur und Kunst nutzt, um auch in geistig-kultureller Form eine Brücke zwischen Orient und Okzident zu schlagen.
Denn gerade das ist es doch, was die Welt von heute so dringend bedarf!

Nicht uninteressant dürfte ebenfalls sein, zu beobachten, welchen Einfluß Istanbul als Kulturhauptstadt 2010 - und den damit verbundenen Aktionen, Initiativen und eventuell dadurch ausgelösten Inspirationen - auf den derzeit gefährlich ins Stocken geratenen weiteren Verlauf des Beitrittsprozess der Türkei zur Europäischen Union haben wird.
Neben der Jahresmarke 2008 (wenn die Türkei Gastland der Frankfurter Buchmesse sein wird) rückt die Station 2010 die Türkische Republik abermals ins internationale Blickfeld.
Möglich, dass in diesen beiden Jahren der EU-Beitrittsprozess per der damit hoffentlich verbundener Impulse ebenfalls neuen Schwung erhält.

Keinesfalls ungenutzt sollte die - wenn man sich einmal die Mühe macht, die daraus möglicherweise erwachsenden positiven Ergebnisse vorauszudenken - Konstellation der Kulturhauptstädte zueinander bleiben.
Gerade zwischen der türkischen  Megametropole Istanbul und Essen als Stellvertreterin für das deutsche Ballungsgebiet Ruhrgebiet dürften sich interessante gegenseitige Befruchtungen der gegenseitigen Beziehungen auf vielen verschiedenen Ebenen ergeben, welche bei verantwortungsvoller und engagierter Hege und Pflege auch über das Jahr 2010 hinaus Bestand haben können.
Schließlich leben im Ruhrgebiet viele Menschen mit türkischen Wurzeln, die ihrerseits auch in der zweiten und dritten Generation noch über die vielfältigsten Verbindungen in die alte Heimat verfügen.
Und das sind heute nicht mehr nur ausschließlich familiäre Beziehungen, sondern oft bereits auch welche wirtschaftlicher oder kultureller Natur.

Selbst zur ungarischen Kulturhauptstadt Pécs läßt sich bei genauerer Betrachtung eine Beziehung zu Istanbul erkennen und herstellen.
Die Stadt, deren Name sich von fünf  Kirchen ableitet, soll laut Wikipedia ursprünglich auf das türkische Wort bes (fünf) zurückgehen.
Pécs stand nämlich von 1543 bis 1686 unter osmanischer Herrschaft.
Noch heute leben in der Stadt neun unterschiedliche ethnische Minderheiten zusammen.

Dem glücklichen Umstand, dass der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk, einem Kind Istanbuls, dieses Jahr den Literaturnobelpreis verliehen bekommt, ist es geschuldet, dass der deutsche Verlag dessen neuestes Buch "Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt" bereits jetzt in den Buchhandel gebracht hat.
Pamuk und sein Werk sind natürlich Pfunde mit denen Istanbul u.a. auch im Kulturhauptstadtjahr 2010 gehörig wird wuchern können.
Und mich sollte es in diesem Kontext nicht wundern, wenn es nicht gerade hauptsächlich  Pamuk-Leser sein werden, die schon jetzt oder spätestens dann im Jahre 2010 eine Reise in die berückend-schöne, wie erschreckend große, arme, reiche und mit Abenteuern und Geheimnissen aller Art bis förmlich zum Stehkragen angefüllte Stadt am Bosporus planen.
Wie ein Bekannter von mir es nun zu tun vorhat, der sich eigentlich immer geschworen hat: Türkei - Nie!
Alle seine Vorurteile über das Land mit den so vielen unterschiedlichen Gesichtern wird er sicherlich nicht den Wassern des Goldenen Horns überantworten können oder wollen, aber einige mit Sicherheit doch.

Das zumindest kann das Wunder Istanbul bewirken. Jetzt oder unter dem Titel Kulturhauptstadt 2010. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Aus der orientalisch-europäischen Weltstadt, auf seinen zwischen Orient und Okzident zum Spagat gespreizten Standbeinen, mit einer großer Vergangenheit im Rücken und einer hoffentlich erfreulichen Zukunft vor sich, ist jedenfalls schon so manch Reisender als ein anderer zurückgekehrt, als der er ursprünglich an den Bosporus gekommen war. 

 

 

 

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