Jahrgang 4 Nr. 11 vom 27.03.2007
 

Jetzt kostenlos!



 

Detailreiche Umfrage zu Identitätsfragen

von Stefan Hibbeler

Die Tageszeitung Milliyet veröffentlichte eine Artikelserie, in der sie die Ergebnisse einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts KONDA zu Identitätsfragen der türkischen Bevölkerung wiedergab. In acht Folgen, die am 19. März begannen, wird detailliert Auskunft über ethnische und religiöse Aspekte kollektiver Identität Auskunft gegeben. Es handelt sich um eine ausgesprochen umfangreiche Umfrage, die mit rund 48.000 Teilnehmern an 2.721 Orten der Türkei in Interview-Form durchgeführt wurde.
Wie verschiedene andere in den vergangenen Jahren durchgeführte Umfragen löste auch diese Diskussionen aus. In der Milliyet findet sich der Hinweis, dass eine Reihe von Fragen eigentlich Teil der Volkszählung sein müsse. Da sie dort aber nicht gestellt werden, bleibe kein anderer Weg als über Stichprobenerhebungen Schätzungen vorzunehmen.
Im Zentrum der Milliyet-Umfrage stand die Frage nach der Identität der Menschen. Menschen definieren sich nicht allein über eine Identität, was die Feststellung ethnischer und religiöser Zugehörigkeiten zu einem komplizierten Prozess werden lässt. Dies gilt umso mehr in einem Klima, wo bestimmte ethnische und religiöse Zugehörigkeiten aufgrund gesellschaftlichen Drucks problematisch sein können. So zeigen sich bei der Schätzung, wie viele Aleviten und Kurden in der Türkei leben, beträchtliche Unterschiede zwischen verschiedenen Studien. Die folgende Übersicht über die Ergebnisse sollte darum nicht als Widergabe „objektiver Tatsachen“ sondern als ein weiterer Mosaikstein in der Diskussion über Strukturen türkischer Öffentlichkeit verstanden werden.

Wer ist türkischer Bürger?

 

Bedingung

Neutral

Keine Bedingung

Wer die Türkei liebt

82,0

6,52

11,49

Wer Muslim ist

54,3

10,0

35,7

Wer sich zugehörig erklärt (Türkiyelim)

63,8

11,5

24,7

Wer ethnisch Türke ist

45,6

9,9

44,5

Für eine staatliche Unterstützung ethnischer Gruppen zur Pflege ihrer Kultur und Sprache traten 56,58 % der Befragten ein. Eine staatliche Unterstützung der Ausübung des religiösen Bekenntnisses wurde von 76,45 % der Befragten unterstützt.

Im Hinblick auf die sozioökonomische Lage ergab sich, dass mehr als die Hälfte der Befragten angab, über ein Einkommen von weniger als 700 YTL zu verfügen.

Einkommensverteilung (%)


300 YTL und weniger

16,4

300 – 700 YTL

44

700 – 1200 YTL

27

1200 – 3000 YTL

11

Mehr als 3000 YTL

2

 

Aus der Tabelle ergibt sich, dass 60,4 % der Befragten angaben, über ein monatliches Einkommen von weniger als 700 YTL/380 Euro zu verfügen. Während die Studie auf der einen Seite das bekannte Wohlstandsgefälle zwischen Westen und Osten der Türkei wiedergibt, zeigt sich auch, dass krasse Unterschiede zwischen Städten und Dörfern bestehen. So liegt der Bevölkerungsanteil in der niedrigsten Einkommensgruppe in den Städten der Ägäis-Region bei 6,37 %, in den Dörfern aber bei 39,33 %.
Die Arbeitslosigkeit wird mit 16,3 % angegeben (offiziell 9,9 % - Gewerkschaftsschätzungen gehen von mehr als 20 % aus).

Nur 62 % der Befragten geben an, am Ort ihrer Geburt zu leben. Unter den Menschen mit Migrationserfahrung liegt diese bei 13 % der Befragten weniger als 10 Jahre zurück.
Nur 28 % der Bevölkerung Istanbuls ist dort geboren. Wichtigste Herkunftsgebiete für die Istanbuler Bevölkerung sind mit 14,25 % die westliche und 10,99 % die östliche Schwarzmeerregion. 59,47 % der Befragten definieren sich nicht über den Ort, wo sie leben, sondern den Geburtsort.

Nach religiösem Bekenntnis befragt gaben 99 % an, Muslime zu sein. Von ihnen gehören 82 % der sunitischen Hanefi Konfession, 9,06 % der sunitischen Schafili-Richtung und 5,73 % dem Alevismus/Schia an.
Auf die Bevölkerung hochgerechnet ergibt sich auf dieser Grundlage die Zahl von 4,5 Millionen Aleviten in der Türkei. Ein Drittel der Aleviten lebt in Istanbul. Andere Provinzen mit bedeutendem Alevitenanteil sind Bingöl, Elazig, Malatya, Tunceli, Bitlis, Hakkari, Mus, Van sowie die Mittelmeerregion.
Der Anteil der Aleviten in der Umfrage liegt deutlich unter anderen Schätzungen bzw. zeigt im Vergleich mit anderen Studien, dass eine starke Streuung der Ergebnisse vorliegt. Im Milliyet-Beitrag wird darauf hingewiesen, dass dies damit zusammenhängen könnte, dass Aleviten nach wie vor ihre Religionszugehörigkeit verstecken. Gestützt wird diese Vermutung nicht zuletzt dadurch, dass die Zahl der Aleviten in Ballungszentren mit geringerer sozialer Kontrolle sowie unter Gruppen mit höherem Bildungs- und Einkommensniveau zunimmt.

Die Befragung wurde außerdem nach ethnischer Zugehörigkeit ausgewertet. Nach dem Frageblock zum religiösen Bekenntnis und eingeleitet mit der Zugehörigkeit zum türkischen Staat wurden die Teilnehmer nach ihren unterschiedlichen Wurzeln und Herkunftsorten befragt.

 

Ethnische Zuordnung der Befragten über 18 Jahren (%)


Türken

76,0

Kurden/Zaza

15,7

Türkischstämmig

2,8

Arabisch

0,7

Allgemeine Bestimmung

3,9

Andere

0,8

 

Angesichts der höheren Kinderzahl steigt der Anteil der Kurden der Berechnung des Konda-Institut zufolge auf 15,68 %, was einer Zahl von 11,445 Millionen entspräche.
Nach ihrer Muttersprache befragt gaben 85 % Türkisch, 13 % Kurdisch, 1,38 % Arabisch und 1,1 % andere Sprachen an.

Die ethnische Zugehörigkeit korrespondiert mit sozialen Indikatoren wie Bildungsabschluss, Einkommen und Haushaltsgröße. Kurden und Araber sind die Gruppen mit dem geringsten Bildungsabschluss und Einkommen sowie der größten Zahl an Haushaltsmitgliedern.

Ethnische Identitätsbestimmungen finden sich vor allem in Südost- und Mittelanatolien. Demgegenüber liegt der Schwerpunkt in der Gesamtbefragung bei der Staatszugehörigkeit, der Religion oder der Herkunftsstadt.

82,35 % der Befragten geben an, ihre Identität uneingeschränkt leben zu können. Jedoch gehen nur 53,57 % davon aus, dass dies auch für andere zutrifft. Das Antwortverhalten variiert jedoch deutlich zwischen unterschiedlichen Gruppen. Frauen unter 29 Jahren mit hohem Bildungsabschluss erklären nur zu 25,74 %, dass sie ihre Identität frei leben können. Unter Kurden liegt dieser Anteil bei 39,2 %, unter Aleviten bei 53 %.

In der sechsten Folge der Veröffentlichung in der Milliyet geht es um die Wahrnehmung des Kurden-Problems. 87,03 % der Befragten geben an, dass das Problem auf Anstiftung anderer Staaten zurückgehe. 74,53 % glauben, dass die Kurden einen eigenen Staat wollen.
In Mittelanatolien (Hakkari, Bitlis, Bingöl, Elazig, Malatya, Mus, Tunceli, Van) geben 60,99 % als Ursache das „Problem der kurdischen Identität“ an. 56,61 % sind es in der Südost-Region (Adiyaman, Batman, Diyarbakir, Gaziantep, Kilis, Mardin, Siirt, Sanli Urfa, Sirnak).

Im Hinblick auf Maßnahmen zur Lösung des Problems lagen die Befürwortungen bei: (%)

 

Recht auf Unterricht in der Muttersprache

34,95

Recht auf Sendungen in Kurdisch

36,25

Stärkere Kompetenz von Provinzräten und Kommunen

48,33

Staatliche Förderung ethnischer Kulturen

42,37

Aufhebung der Sperrklausel für das Parlament

38,84

Vernichtung des Terrorismus

80,3

 

 

Eine Diskussion der Umfrage mit anderen auf dem Gebiet der Meinungsforschung tätigen Instituten und Wissenschaften findet sich im Protokoll der Sendung "Neden" vom 27.03.07 von Can Dündar

 

Archiv

Zurück