Jahrgang 4 Nr. 18 vom 22.05.2007
 

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Drei Tage im Mai

von Hans-Peter Laqueur

Als ich heute auf der Zeitung das Datum „14. Mai“ las, wurden Erinnerungen lebendig, Erinnerungen einen politischen Feiertag, der in der Türkei zum letzten Male vor 47 Jahren begangen wurde, und an den sich heute wohl kaum noch jemand erinnert. Genauer gesagt wurde er vor 48 Jahren zuletzt feierlich begangen, denn 1960 fiel er in das Vorfeld jenes Ereignisses, dessen danach mit dem Dritten der hier behandelten Tage im Mai gedacht wurde: der 14. Mai 1960 war in Ankara und Istanbul mehr von Demonstrationen und Tränengas geprägt, als von der Festtagsstimmung der vorangegangenen zehn Jahre.
In die knapp zwei Wochen zwischen dem 14. und dem 27. Mai fallen drei Jahrestage wesentlicher politischer Ereignisse der neueren türkischen Geschichte, die als Feiertage begangen wurden oder werden:
- Am 19. Mai 1919 landete Mustafa Kemal Paşa (Atatürk) in Samsun, von der Regierung des Sultans entsandt, um die Aufrührer in Anatolien zu entwaffnen. Entgegen diesem Auftrag stellte er sich an ihre Spitze und begann so den nationalen Befreiungskrieg, der mit dem Frieden von Lausanne und der Ausrufung der Republik am 29. Oktober 1923 endete. – Dieses Ereignis wird bis heute gefeiert als Tag der Jugend und des Sports, wie der 23. April (Tag des Kindes) ein politischer Gedenktag, der einer sozialen Gruppe gewidmet wurde.
- Am 14. Mai 1950 waren die Bürger der Türkei aufgerufen, ein neues Parlament zu wählen. In den ersten wirklich freien Wahlen seit der Gründung der Republik errang die Ende 1945 entstandene Demokratische Partei DP um Celal Bayar und Adnan Menderes einen Erdrutsch-Sieg: Mit 53,6 % der Wählerstimmen gewann sie auf Grund des Mehrheitswahlrechts 408 (von 487) Parlamentssitze und verdrängte die seit 1923 regierende Republikanische Volkspartei CHP (40%, 69 Sitze) in die politische Bedeutungslosigkeit. Acht Tage später wurde Celal Bayar zum dritten Präsidenten der Republik gewählt, Adnan Menderes bildete die Regierung.
   Für die nächsten Jahre war der 14. Mai Feiertag, neu gebaute Stadtviertel, wie das heutige „Gaziosmanpaşa“ in Ankara, wurden nach dem Ereignis „Ondört Mayis Evleri“ genannt. Knapp zwei Wochen nach seiner zehnten Wiederkehr endete die Tradition dieses Feiertages abrupt:
- Am 27. Mai 1960 zog das türkische Militär erstmals die „Notbremse“: In ihrer scheinbar unerschütterlichen Machtposition hatte die Regierung Menderes zunehmend autoritäre Züge angenommen: Oppositionelle Politiker wie der ehemalige Staatspräsident İnönü wurden bei Wahlkampfauftritten an Leib und Leben bedroht, Provinzen (il), die nicht die Regierungspartei gewählt hatten, zu Landkreisen (ilçe) degradiert, und die Staatsprinzipien Atatürks, wie sie in der Verfassung festgeschrieben waren und sind, wurden unterhöhlt, vor allem – und das war für das Militär 1960 ebenso das Wesentlichste, wie in der aktuellen Situation 2007 – das Prinzip des Laizismus.
   Unter der Führung von General Cemal Gürsel übernahm das Militär die Macht mit dem erklärten Ziel, die Macht baldmöglichst an eine demokratisch gewählte Zivilregierung abzugeben. Die nachhaltigsten Ereignisse der militärischen Regierung waren die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung, die für die Türkei die liberalste Verfassung schrieb, die das Land jemals hatte, und die Einsetzung eines Tribunals, das 1961 auf der Insel Yassıada zu Gericht saß über den ehemaligen Staatspräsidenten, den Ministerpräsidenten, die Kabinettsmitglieder und die Abgeordneten der Demokratischen Partei. Nach einer halbjährigen Verhandlung wurden im Herbst 1961 die Urteile verkündet:  Von den 15 zum Tode Verurteilten wurden 11 zu lebenslanger Haft begnadigt, das Todesurteil gegen den Staatspräsidenten Bayar wurde mit Rücksicht auf sein hohes Alter in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt  (wie alle „Lebenslänglichen“ kam er nach wenigen Jahren frei, er starb 1986 in seinem 104. Lebensjahr), die Urteile gegen den Ministerpräsidenten Menderes (nach dem heute u.a. der Flughafen in İzmir und die Universität in Aydın benannt sind), den Finanzminister Polatkan und den Außenminister Zorlu wurden vollstreckt.
Auch die „Karriere“ des 27. Mai als Feiertag – dessen in den ersten Jahren sogar durch Sonderbriefmarken gedacht wurde - sollte nicht lang währen. Nach wenigen Jahren schon wurde der arbeitsfreie Tag gestrichen, und als das Militär – nach mehreren Eingriffen in die Staatsführung – diese am 12. September 1980 erneut übernahm, war jede Erinnerung an ihn nicht mehr erwünscht.
So bleibt heute von den drei Feiertagen im Mai nur der eine, der Älteste am 19. Mai.
Angesichts der Geschichte dieser Feiertage drängt sich eine Assoziation auf zum Schicksal der Denkmäler auf dem Taksim-Platz in Istanbul. „Der Denkmäler? Da ist doch nur eines!“ wird der Leser fragen. Das ist heute so, aber es war zeitweilig anders:
- Das erste Denkmal ist das einzige, das auch heute noch dort steht. Das Republik-Denkmal des italienischen Bildhauers Pietro Canonica wurde 1928 im Zentrum des neu geschaffenen und als Rondell gegliederten Taksim-Platzes aufgestellt.
- Im Zuge der Stadtplanung durch den französischen Architekten Henri Prost seit den 1930er-Jahren wurde der Platz zu seiner heutigen Gestalt erweitert, und der anschließende Taksim-Park angelegt. Auf der Esplanade zwischen Platz und Park wurde der Standort geschaffen für ein Denkmal. 1943/44 schuf der deutsche Bildhauer Rudolf Belling – einer derer, die, von den Nazis vertrieben, in der Türkei Zuflucht und eine neue Wirkungsstätte gefunden hatten – ein Reiterstandbild des zweiten Staatspräsidenten İsmet İnönü, das dort aufgestellt werden sollte. Zunächst waren es die Bedingungen der Kriegsjahre, dann die sich wandelnde politische Atmosphäre, die es nicht dazu kommen ließen, und nach dem Regierungswechsel von 1950 wäre ein solches Denkmal ohnehin nicht mehr vorstellbar gewesen. – Das Denkmal wurde eingelagert und vergessen, erst 1982, nach der zweiten militärischen Machtübernahme, wurde es in Maçka aufgestellt.
- Das dritte Denkmal schließlich, ein mehrere Meter hohes Schwert mit einem Ölzweig, stand von etwa 1961 bis 1981 (oder 1982?) mitten auf dem Platz, ungefähr dort, wo heute der Zugang zur Metro ist. Es war ein Massenprodukt aus Holz, mit Goldbroze angestrichen, wie es damals in allen Provinz- und Kreisstädten des Landes aufgestellt wurde. Nach dem 12. September 1980 war dieses Denkmal für den – letztendlich gescheiterten – ersten Eingriff der Streitkräfte in die Regierung des Landes inopportun, und es verschwand buchstäblich über Nacht.
Es sind unübersehbare Parallelen zwischen den Schicksalen der Feiertage und denen der Denkmäler: Die Geschichte läßt sich von der Tagespolitik nichts vorschreiben! Bestimmende Ereignisse behalten ihren Rang auch nach mehr als 80 Jahren:
- Der „19. Mai“ wird bis heute als Feiertag begangen und das Republikdenkmal ziert weiterhin – wenn auch durch die Verkehrsplanung inzwischen an seinen Rand gedrängt – den Taksim-Platz. - Das Denkmal für İsmet İnönü - den engsten Weggefährten Atatürks – hat fast 40 Jahre nach seiner Entstehung einen würdigen Standort gefunden.
- Das Datum „14. Mai“ dürfte heute kaum noch jemandem in der Türkei etwas sagen, aber Straßen, Plätze, ein Flughafen und eine Universität sind nach seiner zentralen Person benannt, nach Adnan Menderes, den die Staatsmacht 1961 hinrichten ließ, und dem sie 1990 einen monumentalen Grabbau, „Anıt Mezar“ vor den Mauern der Stadt Istanbul, errichtete.
- Auch der „27. Mai“, der damals von großen Teilen der städtischen Bevölkerung euphorisch gefeiert wurde, ist längst ebenso vergessen, wie die für ihn errichteten Denkmäler.
In ihrer Bedeutung mögen diese „Drei Tage im Mai“ recht unterschiedlich sein, aber jeder von ihnen hat auf seine Weise die Geschichte der Türkischen Republik geprägt; ohne die Kenntnis der Entstehung und der Auswirkungen jedes dieser Tage ist ein Verständnis der heutigen Lage nicht möglich.

Das Republik-Denkmal auf dem Taksim-Platz, Pietro Canonica 1928

Das für den Taksim bestimmte İnönü-Denkmal, heute in Maçka, Rudolf Belling 1943/44

Das Denkmal für den 27. Mai 1960, 1961-ca. 1981 auf dem Taksim-Platz

 „Anıt Mezar“, der Grabbau für die 1961 hingerichteten Menderes, Polatkan und Zorlu, vor den Stadtmauern, 1990

 

 

 

 

 

 

 

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