Jahrgang 4 Nr. 22 vom 20.06.2007
 

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Wahlkampf und Nachrichten

von Stefan Hibbeler

In der vergangenen Woche bewegten insbesondere zwei Nachrichten die politische Diskussion: die eine bezog sich auf ein Planspiel am Hudson Institut in Washington, die andere auf den Fund von Handgranaten in Ümraniye. Beide Nachrichten sind - wenn auch indirekt - mit der Wahlkampfstrategie der AK Partei verbunden, die sich als liberale Reformkraft präsentiert und ihrer Hauptrivalin, der CHP, die Verteidigung eines autoritären Staatsdenkens vorwirft.

Am Freitag wurde über einen Workshop am Hudson Institut in Washington, einem konservativen Politikberatungsinstitut ("think tank" um es neudeutsch zu sagen), berichtet. Ausgangspunkt eines Planspiels, bei dem es um die US-Reaktion auf einen türkischen Einmarsch in den Nord-Irak ging, war ein Szenario, das ein Attentat auf die Präsidentin des Verfassungsgerichts Tülay Tugcu sowie einen Bombenanschlag auf der Istiklal Caddesi (Istanbul) mit 50 Todesopfern beinhaltete. Mitgeteilt wurde weiterhin, dass ein türkischer General an dem Workshop teilgenommen habe und dass türkische Diplomaten fehlten. Auch habe sich ein Kurde unter den Teilnehmern befunden. Während des Szenarios sei auch die Frage aufgeworfen worden, ob die Auslieferung führender PKK-Funktionäre an die Türkei zur Deeskalation beitragen könne. Dem solle ein türkischer Offizier widersprochen haben, dass eine solche Maßnahme nur der AK Partei und der Regierung nützen werde.

Die Nachricht löste eine breite Diskussion aus. Zum einen wurde die These geäußert, dass solche Szenarien, wenn sie einmal geschrieben seien, eine Aufforderung für deren Umsetzung darstellen können. Von verschiedenen Kommentatoren wurde außerdem erklärt, türkische Offiziere hätten angesichts eines solchen Szenarios unverzüglich den Workshop verlassen müssen.

Am 20. Juni gab der Generalstab eine Presseerklärung zur Veranstaltung des Hudson Instituts ab. Zur Anwesenheit eines Generals wird erklärt, dass eine Delegation des Generalstabs im Rahmen ihres Washington Besuchs mehrere "think tanks" besucht habe. Die Delegation habe vor dem Mittagessen kurz den Workshop besucht. Von den in der türkischen Öffentlichkeit heiß diskutierten Angelegenheiten sei zu diesem Zeitpunkt keine Rede gewesen. Außerdem wird darauf hingewiesen, dass der Militärataché der türkischen Botschaft teilgenommen habe. Dieser sei jedoch in seinen Beiträgen den Linien der türkischen Außenpolitik gefolgt. Der Generalstab verband seine Stellungnahme mit der Bewertung, dass die Nachricht eine böswillige Verzerrung von Informationen sei und die Diskussion darauf ziele, dem Ansehen der türkischen Armee zu schaden.

Planspiel und Wirklichkeit

Planspiele sind eine verbreitete Methode, Ideen und Strategien zu entwickeln. Im Hinblick auf das Planspiel im Hudson Institut war in der Ankündigung erklärt worden, man habe ein "einleuchtendes" Szenario entwickelt. Tatsächlich hat es vor einigen Wochen auf einer belebten Einkaufsstraße in Ankara einen Bombenanschlag gegeben. Es ist drei Jahre her, dass bei drei Anschlägen in Istanbul Dutzende von Menschen getötet wurden. Der Anschlag auf den Verwaltungsgerichtshof liegt gerade etwas mehr als ein Jahr zurück. Bei diesem Anschlag war ein Kammervorsitzender im Gerichtssaal erschossen und mehrere weitere Menschen verletzt worden...

Interessanter ist vielleicht die Zusammensetzung der Teilnehmer. An dem Workshop nahmen Beamte von US-Ministerien, Mitarbeiter des Hudson Instituts und türkische Offiziere teil - so die offizielle Angabe. Vom türkischen Generalstab wird außerdem bestätigt, dass "der Sohn eines kurdischen Führers" (Kubad Talabani, offizieller Vertreter des kurdischen Bundesstaates des Irak in Washington) an dem Workshop teilnahm.

Ali Bayramoglu wirft in diesem Zusammenhang der Armeeführung vor, sich hinter verschlossenen Türen doch mit kurdischen Repräsentanten an einen Tisch zu setzen, obwohl sie dies offiziell ausgeschlossen habe (Yeni Safak, 21.06.07). - Der Generalstab teilt in seiner Erklärung mit, es hätten jedoch keine Gespräche mit Talabani stattgefunden. - Ob sie gesprochen haben oder nicht: Ist es nicht grundsätzlich begrüßenswert und alles andere als abwegig, dass türkische Diplomaten, Offiziere, Beamte etc. im Rahmen eines Krisenszenarios mit anderen zusammentreffen, die an einer solchen Krise ebenfalls beteiligt wären? Zielte die Veranstaltung nicht gerade darauf, Ideen zu entwickeln, wie eine mögliche Krise gehandhabt werden könnte? Wobei anzumerken bleibt, dass die Teilnahme an einem Workshop nicht mit "offiziellen Gesprächen" gleichgesetzt werden kann.

Bei der Kritik der Teilnahme türkischer Offiziere an dem Workshop stand außerdem eine Äußerung im Mittelpunkt: "Zum jetzigen Zeitpunkt sollten Führungskräfte der PKK nicht an die Türkei ausgeliefert werden, weil dies die Wahlchancen der AKP vergrößere." Ein "Verantwortlicher" soll diese Position bestätigt haben. Kann daraus geschlossen werden, dass der türkische Generalstab zu diesem Zeitpunkt nicht daran interessiert ist, wirksame Maßnahmen gegen die PKK zu ergreifen, "weil dies der AKP nützen könnte"? Wohl kaum. In unterschiedlichen Zusammenhängen - größtenteils voraussichtlich in Parteien, Ministerien und Armeen - werden weitere Szenarien entwickelt. Szenarien werden entwickelt, um politische Optionen zu haben, wenn Entscheidungen getroffen werden müssen. Die türkische Armeeführung hat mehrfach deutlich gemacht, dass sie zurzeit zwei vom Irak ausgehende Sicherheitsrisiken sieht: Das eine betrifft kurzfristig die Aktivitäten der PKK vom Nord-Irak aus. Das andere betrifft die Entstehung eines vollständig unabhängigen kurdischen Staates im Nord-Irak, der dem kurdischen Nationalismus weiteren Auftrieb geben und die türkischen Südostprovinzen destabilisieren könnte. Der aktuelle Truppenaufmarsch an der irakischen Grenze trägt neben dem vordergründigen Ziel, das Einsickern von PKK-Militanten in die Türkei zu behindern zugleich auch darauf, Druck auf die irakische Führung und die USA auszuüben, gegen die PKK-Präsenz im Irak vorzugehen. Der Aufmarsch kann weiter auch als Drohung im Hinblick auf die Frage eines vollständig unabhängigen Kurdistans verstanden werden. Vor diesem Hintergrund sind die aktuellen Maßnahmen des türkischen Militärs kaum auf innenpolitische Erwägungen wie die Stärkung bzw. Schwächung der AKP-Regierung zu reduzieren...

Doch jenseits all dieser Feinheiten findet das Thema auch Eingang in den türkischen Wahlkampf. Am 19. Juni sagte Ministerpräsident Erdogan bei einer Wahlkampfrede in Agri: "Kein Szenario, dass in dunklen Räumen in der Türkei oder anderswo geschrieben wird, kann die Stabilität der Demokratie dieses Landes erschüttern. Die Türkei ist mächtig genug, all diese Szenarien beiseite zu schieben. Die Institutionen wurden gefestigt. Sowohl unsere Bürger als auch der Staat wurden gefestigt."

Die Position, die Erdogan zur "Szenario-Diskussion" einnimmt, birgt für ihn verschiedene Vorteile. Bereits seit Antritt der ersten AKP-Regierung im Dezember 2002 hatte sich die AKP darüber beklagt, dass sie weitergehende Reformen verwirklichen wolle, jedoch immer vom Beamtenapparat, der Gerichtsbarkeit und "dunklen Kreisen" (dem "tiefen Staat") gehindert werde. Spätestens seit der Krise um die Wahl des Staatspräsidenten ist dieses Motiv stärker hervorgetreten. Die Vorstellung, dass für politische Entscheidungen der Türkei eigentlich die USA maßgeblich sind, ist weit verbreitet. Der "Szenario-Nachricht" kam in diesem Zusammenhang hohe Bedeutung zu. Es war eine "inoffizielle" Veranstaltung, deren Inhalt nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war. Sie zu enthüllen birgt das Prickeln, ein Geheimnis zu teilen. Der Rahmen des Szenarios war realistisch genug, um die Angst vor Terrorakten weiter anzuheizen. Dabei geht der Verdacht um, dass hinter diesen Anschlägen neben der PKK auch der "tiefe Staat" stehe. In seiner Rede unterstreicht Erdogan, dass er sich in der Lage sieht "jede Art von Szenario zu durchkreuzen". Dem Szenario setzt Erdogan die legitimen Institutionen und das Vertrauen in die Bürger entgegen.

Es ist rhetorisch brillant - aber eben vor allem auch Teil einer Wahlkampfstrategie. Betrachtet man das Verhalten der AKP im vergangenen November und Dezember im Zusammenhang mit der Diskussion über die Änderung des Artikels 3o1 Strafgesetzbuch (u.a. Beleidigung des Türkentums) oder auch die Ausfälle von Justizminister Cemil Cicek gegen die an der Bosporus Universität geplante Armenier Konferenz vor zwei Jahren, die Auflösung des Beratungsgremiums für Menschenrechte der Staatskanzlei oder die Vielzahl von Klagen des Ministerpräsidenten gegen Karikaturisten, mischen sich Grautöne in das Bild einer liberalen Reformpartei.

Handgranaten in Ümraniye

Am 13. Juni fand die Polizei bei einer Hausdurchsuchung in Ümraniye (Istanbul) 27 Handgranaten sowie Sprengstoffmaterial. Im Zusammenhang mit den Ermittlungen erfolgten drei Festnahmen, unter anderem die des Vorsitzenden der Istanbuler Sektion des Vereins Kuvvay Milliye. Dieser Verein ist insbesondere im Zusammenhang mit Beleidigungen von Schriftstellern und Journalisten im Umfeld der Strafverfahren gemäß Artikel 301 Strafgesetzbuch hervorgetreten. Mutmaßungen werden außerdem über personelle Verbindungen zum Attentäter auf den Verwaltungsgerichtshof hergestellt.

Unter den Meldungen zu den Ermittlungen findet sich der Hinweis, dass die gefundenen Handgranaten vom gleichen Typ seien wie die, die im vergangenen Jahr bei den Anschlägen auf die Tageszeitung Cumhuriyet verwendet wurden. Für diese Anschläge wiederum wird der Attentäter auf den Verwaltungsgerichtshof verantwortlich gemacht. Eine offizielle Bestätigung der Polizei liegt jedoch nicht vor.

Gemeldet wird außerdem, dass bei der Hausdurchsuchung Protokolle von Sitzungen des Nationalen Sicherheitsrates gefunden wurden. Solche Protokolle sind geheim. Das Generalsekretariat des Nationalen Sicherheitsrates dementierte diese Meldung.

Aufgrund von Pressefotos lassen sich personelle Querverbindungen zwischen dem Wohnungsinhaber, dem Verdächtigenkreis des Anschlages auf den Verwaltungsgerichtshof bis hin zu Akteuren des Susurluk-Skandals herstellen (vgl. Radikal, 17.06.07).

Während Ministerpräsident Erdogan den Handgranatenfund als Beleg für die Existenz des "tiefen Staates" bewertet, dem "das tiefe Volk" entgegentreten müsse (Milliyet-internet, 21.06.07), warf Oppositionsführer Deniz Baykal dem Ministerpräsidenten vor, sich hinter dem "tiefen Staat" zu verstecken.

Betrachtet man Analysen zu den Terrorereignissen der 1970-er Jahre und insbesondere die Verbindungen, die im Zuge des Susurluk Skandals ans Tageslicht kamen, liegen zumindest für die Vergangenheit recht einleuchtende Belege für die Existenz außergesetzlicher Verbindungen zwischen Polizei, Geheimdienst, Mafia, Politik und Geschäftsleuten vor. Trotz der Verurteilung einiger führender Akteure des Susurluk Skandals blieben einige Fragen offen, die auch durch den Bericht des parlamentarischen Untersuchungsausschusses nicht geklärt wurden.

Parallelen zum Susurluk-Skandal wurden auch im Zusammenhang mit dem Bombenanschlag in Semdinli im November 2005 hergestellt. Erstinstanzlich wurde der Vorwurf, dass zwei Unteroffiziere der Gendarmerie und ein informelle Mitarbeiter des Gendarmeriegeheimdienstes auf eigene Faust "Terrorismusbekämpfung" betrieben bestätigt. Doch das Verfahren ist noch nicht abgeschlossen...

Die vorliegenden Indizien lassen den Schluss zu, dass es ein informelles Netzwerk gibt, das nach wie vor zwischen rechtsextremistischen Aktionen und organisierter Kriminalität hin und herpendelt. Auch gibt es im Zusammenhang mit dem Mord an Hrant Dink Hinweise, dass die Polizei beim Schutz linker und liberaler Intellektueller sowie Angehörigen der Minderheiten ein Maß an Fahrlässigkeit zeigte, dass ihr den Vorwurf der Begünstigung des Anschlages eingebracht hat. Konkrete Hinweise für die Verbindung staatlicher Stellen, insbesondere auch des Militärs, gibt es jedoch nicht.

Seit dem Scheitern der Präsidentenwahl präsentiert sich die AKP als Hüterin der türkischen Demokratie: Gegen den „tiefen Staat“ das „tiefe Volk“. Dies knüpft nicht zuletzt die bereits vorhandenen Verschwörungstheorien an. Sie gewinnt Sympathie im In- und Ausland nicht zuletzt durch diese Positionierung. Sie trägt mit dieser Strategie jedoch zugleich auch zur Krisenstimmung bei: Um sich als glaubwürdige Verteidigerin der Demokratie zu zeigen, bedarf es einer Bedrohung der Demokratie. Vor diesem Hintergrund werden Nachrichten wie die aus dem Hudson Institut oder der Handgranatenfund in Ümraniye dankbar aufgegriffen.

 

 

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