Jahrgang 4 Nr. 32 vom 6.09.2007
 

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Ein Buch, das in die Zeit passt:Junge Muslime in Deutschland“

Von Claus Stille

Vor 40 Jahren begann die Einwanderung von Muslimen aus islamischen Ländern nach Deutschland. Längst sind diese Muslime – viele von ihnen stammen aus der Türkei – unübersehbarer Teil der Gesellschaft geworden. Wie die private Lebenslage dieser Menschen aussieht, was sie denken, was für Probleme sie haben – darüber weiß die Mehrheitsgesellschaft nur wenig.

Aufgeregte Diskussionen in der Öffentlichkeit bezüglich des Islam entzünden sich meist an Erscheinungen, wie Zwangsheirat, Kopftuch und so genannten Ehrenmorden. Oder man ereifert sich heftig über den Bau einer Moschee. Wie zuletzt über die für Köln-Ehrenfeld geplante der DITIB. Niemand bestreitet, dass solche Diskussionen notwendig sind. Traurig ist nur, dass sie meist allzu schnell in schädlichem Alarmismus münden oder gar in Fremdenfeindlichkeit abgleiten.

Die sich sowohl an traditionellen Ansichten, als auch am Koran orientierenden Lebenswerte muslimischer Familien können mit der aus deren Sicht sicherlich allzu freizügigen Lebensart der christlich-säkularen Mehrheitskultur kollidieren.

So müssen auf beiden Seiten fast zwangsläufig Vorurteile entstehen.

In der deutschen Mehrheitsgesellschaft ist das Interesse am Islam gestiegen. Der Grund dafür ist jedoch eher unerfreulich: die Terroranschläge des „11. September“.

So mancher als Muslim erkennbarer Mensch fühlt sich seither manchmal etwas misstrauisch beäugt. Und denken nicht einige sogar, dass „islamisch“ gleich „islamistisch“ ist?

Dass diverse Diskussionen innerhalb der deutschen Gesellschaft zwischen Muslimen und Nichtmuslimen in Gang gekommen sind, ist gar keine negative Entwicklung. Nur muss die Diskussion auch aufs richtige Gleis gelenkt werden.

Denn mitunter geriet bisher der Islam dabei nur in die Kritik, unter ständigen Erklärungsdruck und so immer öfters in die Defensive. Zusätzlich malten Politiker und Presse das Problem von den Parallelgesellschaften an die Wand. Sahen da angesichts solcher Szenarien nicht so manche bereits Krawalle jugendlicher Muslime a´ la französischer Banlieues auch in deutschen Städten voraus?

Mutmaßungen und Vorurteile sind das Eine. Wer sich ernsthaft für das Leben junger Muslime interessiert, muss schon tiefer in die Materie eindringen.

Dr. Hans-Jürgen von Wensierski, Professor für Erziehungswissenschaft und Claudia Lübcke, Diplompädagogin (beide Universität Rostock), haben sich dieser Mühe unterzogen. Die dabei gewonnenen Ergebnisse liegen nun vor. Neben deren Beiträgen sind die Arbeiten von weiteren 20 Autorinnen und Autoren unter dem Titel „Junge Muslime in Deutschland“ versammelt und veröffentlicht worden.

Als Basis für den Sammelband diente ein seit Oktober 2006 an der Universität Rostock laufendes Forschungsprojekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zum Thema „Junge Muslime“.

Faruk Sen, Direktor des Zentrums für Türkeistudien, blickt in seinem Beitrag optimistisch in die Zukunft. Zwar erkennt er bei jungen Muslimen aus türkischen Zuwandererfamilien seit dem Jahr 2000 eine gestiegene Religiosität, sowie eine Neigung zu konservativeren Einstellungen. Die Gefahr der zunehmenden Fundamentalisierung bzw. eine vermehrte Unterstützung dokrinärer Organisationen durch junge türkischstämmige Muslime sieht Dr. Sen aber ausdrücklich nicht.

Der überwiegenden Mehrheit von ihnen attestiert Sen eine „moderate Einstellung“. Obzwar auch orthodoxe Organisationen eine gewisse Anziehungskraft auf die junge Generation ausübten, finde unter der muslimisch-türkischen Community die Trennung von Staat und Religion große Zustimmung. Das türkische Modell staatlicher Organisation des religiösen Lebens werde bevorzugt.

Sen rät allerdings dazu, die besonders konservativ eingestellten, sich zu doktriniären Organisationen hingezogen fühlenden jungen Muslime nicht zu übersehen und sich mit ihnen konstruktiv auseinander zusetzen, um deren Selbstausgrenzung entgegen zu wirken.

Das Bild der Sozialstruktur und Lebenslagen türkischer Muslime stellt sich gemäß der im Buch dargelegten Untersuchungen differenziert dar. Noch immer sind sie geringer qualifiziert als gleichaltrige Deutsche. Wobei junge türkische Musliminnen über eine meist noch schlechtere Ausbildung verfügen, in überwiegender Anzahl verheiratet sind und Kinder haben. Viele türkische Muslime fühlen sich weder in Deutschland noch in ihrer Herkunftsgesellschaft richtig heimisch. Bei den für die Studie untersuchten jungen türkischen Muslimen fiel auf, dass sie was die in einer Wohnung zusammenlebenden Personen und die Anzahl der Kinder angeht, den Deutschen ähnlicher sind, als Muslime in der BRD insgesamt.

Junge Muslime im Westen wachsen in einem kritischen Spannungsfeld auf. Daraus erwachsen Widersprüche für junge Muslime, auf die das Buch ausführlich eingeht. Hier und dort kann auch von Wandel gesprochen werden. Davon profitieren vor allem junge türkische Mädchen, die inzwischen im Vergleich zu früher mehr Selbstbewusstsein entwickeln und auch verstärkt mittlere und höhere Bildungsabschlüsse erwerben.

Ob den „möglichen modernisierten Akkulturations- und Sozialisationsprozessen von Kindern und Jugendlichen“ (von Wensierski) allerdings Grenzen gesetzt oder sie überhaupt zugelassen werden, kommt in der Hauptsache auf das Herkunftsmilieu der jungen Muslime an. Schnell können sich nämlich Familienorientierung, Sexualmoral, Geschlechterverhältnisse und überliefertes Heiratsverhalten als diesen Prozess behindernde Merkmale herausstellen.

Religion soll übrigens kaum die Bildungschancen junger türkischer Muslime beeinflussen.

Während das Freizeitverhalten von deutschen Jugendlichen kaum geschlechtsspezifische Unterschiede aufweist, ist das bei türkischen Muslimen sehr wohl der Fall.

Hans-Jürgen von Wensierski meint, man müsse bei der muslimische Jugendphase überhaupt von einer spezifisch weiblichen und einer männlichen Variante“ sprechen.

Die Sexualentwicklung junger Muslime, schreibt er, sei „durch eine gravierende Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in ihren Lebenswelten gekennzeichnet“. Franziska Schäfer und Melissa Schwarz bezeichnen dies im Buch als „Paralellität einer Sexualmoral“ der 1950er und der 1990er Jahre.

Beim Thema Sexualität ist immer auch Doppelmoral im Spiele. Während bei den männlichen Jugendlichen vorehelicher Geschlechtsverkehr (mit deutschen Mädchen oder befördert von Brüdern oder Vätern im Bordell) meist stillschweigend geduldet wird, gilt für türkische Mädchen Jungfräulichkeit als Muss.

Allerdings, so das Buch, ist inzwischen auch bei manchen jungen Muslimen ein Prozess in Gang gekommen, der Sexualität und Körperlichkeit thematisiert und so zunehmend von Tabus befreit.

Ein von Michael Bochow verfasstes Kapitel befasst sich eingehend mit einem gerade bei Muslimen tabuisierten Thema, nämlich der Homosexualität (auf Basis qualitativer Studien zur Situation homosexueller Türken und Kurden in der BRD untersucht), speziell mit Anmerkungen zu gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten unter Männern in Westeuropa. Eine Problematik, die unmittelbar mit einer in der muslimisch-patriarchal geprägten Gesellschaft traditionell konstruierten korrespondiert.

Der Sachbuch liefert interessante Erkenntnisse und ein nahezu komplettes Bild vom Leben junger Muslime. Ob Freizeitverhalten, Werte und Moralvorstellungen, Mediennutzung und der daraus resultierenden kulturellen Orientierung türkischstämmiger Jugendlicher – alle Themen sind mit eingehenden Betrachtungen präsent.

Der Beitrag von Ursula Boos-Nünning beschäftigt sich speziell mit der Frage nach den sozialen Bedingungen und Einstellungen, die für eine stärkere Religiosität junger Muslima verantwortlich sind.

Die Autorin nimmt sich auch der Kopftuch-Debatte an. Interessant daran: Kopftuchtragende Muslima sind zwar religiöser und stärker Traditionen verhaftet, stehen jedoch der kulturellen Integration in die deutsche Gesellschaft keineswegs ablehnender gegenüber, als etwa muslimische Frauen ohne Kopftuch.

Dass Selbstbewusstsein, Emanzipation und islamisch ausgerichtete Lebensführung muslimischer Frauen einander nicht ausschließen, zeigt Sigrid Nökel in ihrer Betrachtung der so genannten „Neo-Muslima“ auf.

Offenbar wird eine religiöse Erziehung von den jungen Muslimen durchaus gewünscht. Doch einerseits sind die Eltern meist nicht in der Lage dazu; andererseits ist eine islamische Bildung seitens staatlicher deutscher Bildungseinrichtungen bis heute nicht ernsthaft ins Auge gefasst worden.

Bei aller Kritik an sicherlich bei muslimischen Paaren (auch) anzutreffenden orientalisch geprägten Lebensformen (übrigens ein gern benutztes Vorurteil gegenüber Muslimen), beweist die Analyse von Gaby Straßburger, dass muslimische Familien unterdessen durchaus auch bemüht sind, traditionelle Familienkonzepte mit einer westlich-individualisierten Lebensführung in Einklang zu bringen.

Arbeitgeber sollten sich allmählich einmal fragen, warum sich die auf junge Muslime zutreffenden Befunde wie Migrationshintergrund und islamische Konfessionszugehörigkeit (im Vergleich zu nichtmuslimischen Altersgenossen gleichen Bildungsstandes) als diskriminierende Einflussfaktoren erweisen. Ein Stigma, dass Chancen auf eine Lehrausbildung und einen späteren Beruf rasch zunichte machen kann. Ähnliches geschieht bereits viel früher in der Schule. Dort werden Kinder mit Migrationshintergrund oft sehr früh und mit der Begründung den Eltern gegenüber, „Das schafft ihr Kind sowieso nicht!“, aussortiert, und so von höherer Schulbildung ferngehalten.

Martina Sauer gibt darüber Auskunft, ob und wie sich mangelnde Integration und Ausgrenzung auf junge Muslime auswirkt.

Wie schon Dr. Sen vor ihr, kann auch Martina Sauer keine parallelgesellschaftlichen Strukturen in der deutschen Gesellschaft feststellen. Allenfalls, fand sie Hinweise darauf, dass es unter jungen Muslimen durchaus kleinere Gruppen gibt, welche sich entweder entgegen ihren Willen isoliert sehen bzw. von sich aus auf Ausgrenzung setzen.

Die vorliegende Publikation ist eine vielschichtige, differenzierte Zusammenschau der Lebensumstände junger Muslime. Der vorherige Wissensstand war – Fachleuten zufolge - weder erschöpfend noch ausreichend. Das Buch ist somit eine nützliche Ergänzung des Vorhandenen.

Mag es auch künftig im Zusammenleben von Muslimen und Nichtmuslimen Probleme und Reibepunkte geben - eine pessimistische Betrachtung der Zukunft dürfte fehl am Platze sein.

Integration jedoch muss stärker zweigleisig gedacht und verstärkt betrieben werden. Ein positiver Effekt gelebter Integration sind diejenigen türkischstämmigen jungen Menschen mit Migrationshintergrund, die schon jetzt dank guter Bildung höher qualifizierte Berufe ausüben und auf diese Weise mit der Zeit und (hoffentlich) vermehrt zur Normalität und so zum Vorbild für andere werden.

„Junge Muslime in Deutschland“ enthält die Befunde von 80 narrativen Interviews und 4 Gruppendiskussionen mit jungen Muslimen zwischen 20 und 30 Jahren, welche in Deutschland geboren bzw. seit der Kindheit dort aufgewachsen sind. Deren Familien stammen aus der Türkei, verschiedenen arabischen Staaten und dem Iran. Das Buch sollte unbedingt das Interesse von Pädagogen, Politikern, Journalisten und anderen Menschen finden, denen Vorurteile, Allgemeinplätze und Vermutungen über eine nicht geringe Anzahl junger Muslime in der Gesellschaft – die im Buch „als selbstverständlicher Teil einer pluralistischen Jugendpopulation in Deutschland“ betrachtet werden - einfach nicht mehr ausreichen und sich deshalb selbst eine Meinung bilden möchten.

Ein Buch, das in die Zeit passt!

 

Hans-Jürgen von Wensierski,

Claudia Lübcke (Hrsg.)

Junge Muslime in Deutschland

Lebenslagen, Aufwachsprozesse und Jugendkulturen; 360 Seiten, Karton, 29,90 Euro (D),

30,80 Euro (A), 50,50 SFr (Ch)

Erschienen 2007 im Verlag Barbara Budrich, Opladen & Farmington Hills


 

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