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„Sichere Rückführung“ im Namen der EU kann tödlich endenVon Claus Stille Vor zwei Jahren unternahmen wir von Cesme aus mit dem Fährboot einen Tagesausflug zur nahen griechischen Insel Chios. Es war sehr heiß. Deshalb hatten wir uns ein klimatisiertes Taxi gemietet. Dessen Fahrer war uns ein guter Fremdenführer. Wir besichtigten einige historische Orte und Kirchen. Chios blieb uns – abgesehen, von einem uns von dem älteren Besitzer eines Cafés (augenscheinlich eines Bekannten des Taxifahrers) verabreichten, ungenießbaren Getränks namens Kaffee - gut in Erinnerung. Gegen Abend verließen wir Chios wieder. Die Sakiz-Insel, wie sie die Türken wegen des Kaugummis nennen, welcher aus dem Harz der auf der Insel wachsenden Mastix-Pistazienbäume hergestellt wird. Mastix wird übrigens auch von Maskenbildnern verwendet, um etwa Bärte in Schauspieler-Gesichtern festzukleben. Noch heute erinnert mich eine von diesem Ausflug mitgebrachte handbemalte Tasse an Chios. Und ein Rostfleck an der Hose, welche ich damals trug. Den muss ich mir an einer Bank auf dem Deck der türkischen Fähre geholt haben. Damals ahnte ich nicht im Geringsten, dass die jüngere Geschichte dieser griechischen Insel dunkle Flecken aufweist. Immer wieder werden nämlich Flüchtlinge, illegale Migranten, mit Booten von Schleppern nach Chios geschleust. Die Flüchtlinge kommen aus Palästina, dem Libanon, dem Irak, Tunesien und anderen Länder Afrikas. Die westtürkische Küste ist für Menschenschmuggler und Flüchtlinge ideal. Denn Chios ist EU-Gebiet. Es liegt in Sichtweite der türkischen Karabun-Inseln und ist von dort lediglich acht Kilometer entfernt. Dort, am Strand des Dorfes Kücükbahce, waren im vergangenen Jahr 31 überlebende Flüchtlinge gestrandet. Sechs andere Personen dieser Einwanderergruppe konnten die türkischen Behörden nur noch tot bergen. Die Lebenden sagten in der Türkei aus, sie seien wenige Stunden vorher auf der griechischen Insel Chios festgenommen und dann von einem Boot der griechischen Küstenwache 100 Meter vor der türkischen Küste ins Wasser geworfen worden. Das griechische Handelsmarine-Ministerium erklärte damals, die Anschuldigungen seien frei erfunden. Das Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) bat die türkische wie die griechische Regierung um Aufklärung des Falles. Der Sprecher des türkischen UNHCR-Büros Corabatir sagte später der Süddeutschen Zeitung: „Wir brauchen dringend bessere Mechanismen, um solche Vorfälle künftig zu verhindern. Beide Länder müssen sich zusammensetzen.“ Anfang dieser Woche zeigte der WDR einen Film von Ludger Pfanz und Gülsel Özkan zu dieser Thematik. Der Beitrag mit dem Titel „Ertrunken vor meinen Augen“ lief in der Reihe „die story“. Die Menschen in Kücükbahce sind noch heute traumatisiert. Der Totengräber berichtete über den späteren Besuch von Angehörigen der sechs Ertrunkenen, die er begraben hatte und dann wieder hatte ausgraben müssen. Und ein Ehepaar, welches ein kleines Restaurant am Strand betreibt, sieht noch immer die Toten aufgereiht dicht am Wasser liegen, als sei es eben erst passiert. Immer noch klingen ihnen die Schreie der Menschen in den Ohren, welche um ihr Leben kämpften. Auch der junge Somali Ualid Nasur war ein solcher Flüchtling. Er hatte sich auf die Odyssee über die Türkei nach Europa gemacht. Auch sein Boot wurde von der griechischen Küstenwache aufgebracht. Und beschossen. Auch andere Flüchtlinge berichten das. Man schoss, so Ualid, keineswegs in die Luft, wie es normal gewesen wäre. In Panik versuchten einige – vielen Flüchtlingen ist das Meer völlig fremd – ins Wasser zu springen. Dadurch muss das Boot gekentert sein. Eine Frau hatte sich in ein Seil verstrickt und war in die Tiefe gezogen worden. Ualid Nasur wollte helfen. Dabei zerfetzte die Schiffschraube seine Beine. Im Krankenhaus von Chios – wo der junge Somalier nach der Not-OP erwachte – hat man ihn wieder zusammengeflickt. Heute lebt der junge Mann, der einst Fußballer werden wollte, ohne sicheren Status in Athen. Für den Film ist er noch einmal nach Chios zurückgekehrt. Er besuchte das Krankenhaus, wo man ihn das Leben gerettet hat. Ualid bedankte sich bei den Schwestern und seinen Chirurgen. Ein Doktor zeigt sich gerührt: Jedes Jahr helfen wir so vielen Griechen. Keiner von denen hat sich je bei uns bedankt... Ualid Nasur sagt heute: „Ich möchte die jungen Menschen bitten, ihr Leben nicht in die Hände von Menschenhändlern zu legen. Ich habe es getan und teuer dafür bezahlt, und wenn ich es euch erzähle, erlebe ich alles wieder und es tut mir sehr weh.“ Dennoch werden sich jedes Jahr wieder Flüchtlinge aufmachen, um die EU zu erreichen. Jedenfalls solange, bis sich die Gründe, warum das eigne geliebte Land verlassen wird, beseitigt sein werden. Die Menschen auf Chios verstehen die Flüchtlinge. Viele Inselbewohner stammen selbst von Flüchtlingen ab, die einst Kleinasien den Rücken kehren mussten. Nicht alle Soldaten der griechischen Küstenwache überlassen die Flüchtlinge ihrem Schicksal. Aber sie stehen unter großem Druck. Den baut die EU gegenüber den Ländern auf, welche an Nicht-EU-Länder grenzen. Rigoros werden diese Länder aufgerüstet, um die Flüchtlinge von Europa fernzuhalten. Von denen man glaubt, sie sich nicht mehr leisten zu können. Ein Soldat der griechischen Küstenwache zeigt im Film das Dilemma auf: “Wir versuchen alles, um Menschenleben zu retten, aber es ist auch unser Auftrag, die europäische Küste zu schützen.“ In den Ländern der EU ist in den Medien Jahr für Jahr von sinkenden Asylbewerberzahlen die Rede. Auch in Deutschland verkündet man diese Botschaft. Der Grund: die EU setzt auf immer mehr Abschottung. Doch die Not in den Herkunftstländern der Flüchtlinge ist groß. Und manchmal ist die EU nicht einmal ganz unschuldig an der Armut in diesen Ländern. Dann jedenfalls, wenn Boote aus EU-Ländern Fischgründe vor Afrikas Küsten leerfischen, oder europäische Tomaten die einheimischen aus Ghana vom Markt drängen, weil sie einfach billiger sind. Denjenigen aber, welche vor der Perspektivlosigkeit in ihrer Heimat fliehen, um in Europa ihr Glück zu suchen, legt man alle nur erdenklichen Schwierigkeiten in den Weg. Weil deren Hoffnung aber, ihrem Leben doch noch eine glückliche Wendung geben zu können dennoch stark ist, sterben sie auf dem Weg in die EU. Vor Lampedusa, den karibischen Inseln oder in der Ägäis irgendwo zwischen Chios und der türkischen Küste. Offizielle Zahlen gibt es zwar nicht. Von allein 500 Ertrunkenen in diesem Jahr wird jedoch ausgegangen. Die griechische Küstenwache schleppt Flüchtlingsboote von der griechischen Küste hinaus aufs offene Meer. Im Namen der EU. Man nennt es „Sichere Rückführung“. Schaue ich jetzt auf meine Tasse, muss ich unwillkürlich auch an das Schicksal Ualids und der Ertrunkenen denken... |
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