Jahrgang 4 Nr. 25 vom 19.06.2008
 

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Über den aktuellen Diskurs zum Konservatismus einerseits und Modernität fernerseits

von Perihan Ügeöz

In der Türkei nimmt die gesellschaftliche Polarisierung gefährlich zu. Das ist die Bilanz eines vom International Freedom House erst vor kurzem veröffentlichten Berichtes. Das Freedom House erhebt seit 12 Jahren regelmäßige Studien zu Demokratisierungsprozessen in den sog. Nations in Transition (NIT). In dem diesjährigen Bericht zur Lage der Demokratie in der Türkei werden auch Ängste und Befürchtungen innerhalb der Bevölkerung reflektiert. Der Bericht stellt hierzu fest, dass in den letzten Jahren innerhalb eines nicht unbeträchtlichen Bevölkerungsanteils die Sorge gewachsen ist, dass die AKP einen geheimen Plan zur Islamisierung der Gesellschaft hegt. Der AKP Regierung wird nahe gelegt, diese Sorge unbedingt ernst zu nehmen und die Demokratisierung als Sicherheit gegen die Befürchtungen über eine Islamisierung voranzutreiben.

Es ist diese Sorge um die zunehmende Islamisierung der Gesellschaft, die zu einer gefährlichen Polarisierung innerhalb der Bevölkerung führt. Zu diesem Schluss kommt auch eine andere neuerliche Studie, die vom türkischen Meinungsforschungsinstitut KONDA über einen Zeitraum von 10 Monaten durchgeführt wurde. Ein Drittel der Bevölkerung teilt nach dieser Studie die Auffassung, dass in der Regierungszeit der AKP die Gefahr einer Islamisierung besorgniserregend zugenommen hat. Zur Frage, was den Kern dieser Sorge um die Islamisierung ausmacht, bemerkt Tarhan Erdem, Leiter des Instituts, dass von Seiten des Staates die Regeln für das Zusammenleben im öffentlichen Raum vorgegeben werden. Dass diese Regeln auf der Grundlage der Religion bestimmt werden, sei die Ursache der Sorge sowie der wachsenden Spannung innerhalb der Bevölkerung. Da letzten Endes einschließlich der Regierung keine Institution imstande sei, sich vor den Auswirkungen und Gefahren dieser Sorge zu entziehen, werden auch hier die Regierungsverantwortlichen dringend aufgerufen, diese Sorge nicht zu bagatellisieren.

Hat die regierende AKP einen geheimen Plan zur Islamisierung der türkischen Gesellschaft? In einer neuerlichen Talkshow hat der Ministerpräsident Erdogan auf die Frage, ob über der Türkei das Schariat ausbrechen wird, seinen Kopf geschüttelt und sein „Nein“-Wort ausgesprochen. Auch Präsident Abdullah Gül hat anlässlich seiner kürzlichen Japan-Reise sogar aus dem fernen Osten verkündet, dass es keinerlei Grund zur Sorge gibt. Was demgegenüber insbesondere europäische Freunde und Sympathisanten der AKP angeht, sind diese ohnehin größtenteils der Auffassung, dass die AKP und die von ihr gestellte Regierung ein Demokratiesegen für das Land ist. So hat zum Beispiel eine SPD-Delegation anlässlich eines neuerlichen Türkei-Besuchs mit Frau Uta Zapf als Mitglied der Delegation kurzerhand erklärt, dass man die AKP mit einem Islamisierungsvorhaben nicht beschuldigen könne. Sollte es sich dann bei den Studien, die vor einer gefährlich zunehmenden Polarisierung aufgrund existierender Ängste, dass die AKP einen geheimen Plan zur Islamisierung hat, warnen, etwa um billige Sensationstrommelei handeln? Und wichtiger noch, sollte schließlich mindestens ein Drittel der türkischen Bevölkerung, das sich mit der Gefahr einer durch die AKP geplanten Islamisierung plagt, einer pathologischen Wahnvorstellung anheim gefallen sein?

Genau genommen ist es ziemlich belanglos, woher die Ängste um eine Islamisierung tatsächlich angetrieben werden. Entscheidend ist vielmehr, dass diese Ängste existieren und diejenigen Bevölkerungsteile, die sich damit plagen, als Grund für ihre Besorgnis unmittelbar die Politik der AKP verantwortlich erklären. Die AKP hingegen beruft sich darauf, dass sie eine demokratisch konservative Partei ist, die insbesondere Familie und Tradition verteidigt und ihre Politik an den traditionellen Werten des Volkes orientiert. Mindestens ein Drittel der Bevölkerung nimmt diese Politik der AKP jedoch als religiös motiviert wahr und beharrt auf dem Standpunkt, dass es sich bei dieser Politikweise vielmehr um einen systematischen Übergang von Tradition zu Religion handelt. Trägt denn die AKP nun gar keine Verantwortung an dieser Wahrnehmungs- und Verarbeitungsweise? Eine türkische Redensart sagt, dass, wo es kein Feuer brennt, auch kein Rauch aufsteigt.

Das Auge als ein soziales Kontrollorgan

Die Türkei ist eine riesige Überwachungsanstalt. Das ist eine neuerliche Feststellung des namhaften Soziologen Serif Mardin. Vor genau einem Jahr hatte der Soziologe Mardin den Begriff des „Nachbarschaftsdrucks“ (mahalle baskisi) in den öffentlichen Diskurs eingeführt. Der Begriff drückt die Befürchtung aus, dass ein vom unmittelbaren sozialen Umfeld ausgehender Druck auf ein Individuum so stark werden kann, dass es nicht nur in seiner freien Entfaltung beeinträchtigt wird, sondern sich wohl oder übel dem Druck ergibt, um der Gefahr eines Ausschlusses aus dem Kollektiv entgegenzusteuern. Eigentlich ist das Schlagwort vom Nachbarschaftsdruck nicht originell im Sinne einer neuen Theorieschöpfung, weil es im Kern den Begriff der sozialen Kontrolle beinhaltet und dieser wiederum zu den klassischen Theoriekonzepten der Sozialwissenschaften zählt. Offenbar muss aber sowohl das Schlagwort vom Nachbarschaftsdruck als auch der Zeitpunkt seiner Verkündung dennoch einen empfindlich neuralgischen Punkt innerhalb der Gesellschaft getroffen haben, dass die Rede vom Nachbarschaftsdruck binnen kurzem ungeahnt hohe Wellen innerhalb der Öffentlichkeit in Bewegung setzen konnte. Sowohl die heftige Resonanz, die ein Schlagwort hervorbringen konnte, als auch die Art und Weise, wie der Begriff von verschiedenen Lagern hierhin und dorthin gezerrt wurde, steht nicht zuletzt spiegelbildlich für den Grad der Spannung und Polarisierung innerhalb der Gesellschaft.

Die willkürlichen Deutungen sowie die Politisierung seines Begriffes müssen den Soziologen Mardin offenbar sehr gestört haben, sodass anlässlich des einjährigen Geburtstags seines Schlagwortes unter dem Titel „Was wollte ich damit ausdrücken!“ mit dem über 80-jährigen Soziologen eine erneute Veranstaltung zum Thema Nachbarschaftsdruck stattfand.

Eine der interessantesten Feststellungen von Mardin ist zweifellos, dass in der Türkei Ideen nicht entwickelt werden und die Gesellschaft sich überwiegend durch Beobachten im Sinne von Überwachen gestaltet und nicht anhand von Gedanken. Jeder würde jeden beobachten und überwachen. Das sei ein aus der Vergangenheit überliefertes Verfahren, um ein Kollektiv zu bilden. Das gelte nicht nur für die Einheit der Nachbarschaft, sondern für die ganze Gesellschaft. Darum ist nach Mardin die gesamte Türkei eine riesige Überwachungsanstalt, wobei hierfür alle diejenigen Verantwortung tragen, die keine Ideen und Gedanken entwickelten.

Um ein Kollektiv zu bilden, stellt Mardin fest, müssen bestimmte Werte geteilt werden und um Werte miteinander teilen zu können, müssen diese gesehen und vom Einzelnen übernommen werden. Darum hat das Auge in der Nachbarschaft eine sehr große Bedeutung, weil es nicht nur als ein Organ funktioniert, mit dem man einander sieht, sondern den Anderen dabei auch kontrolliert. Da in einer Nachbarschaftsgemeinde niemand imstande sei, sich dem Auge zu entziehen, verwandelt sich das Auge gleichsam in ein soziales Druckmittel.

Seit den 70er Jahren bemerkt Mardin, sei in der Türkei in der Gestalt der Kommunen ein neues Feld in Erscheinung getreten, das die Funktion der Kollektivbildung mit dem Auge übernommen hätte. In der Kommunalpolitik werde etwas gemacht, das man mit dem bloßen Auge sehen und verfolgen kann. Die Verbannung des Alkoholausschanks aus den Stadtzentren ist für Mardin ein unmittelbares Beispiel dafür, weil hier etwas stattfindet, was mit dem Auge gesehen werden kann. Die mit dem Auge verübte Kontrolle der Nachbarschaft werde so in der Gestalt der Kommunen und ihrer Politik stärke denn je sichtbar.

Ein kleines Panorama alltäglicher Wandlungen

Ob man verschiedene Phänomene des Alltags als Zeichen einer stetigen Islamisierungswelle bezeichnet oder nicht, eines steht fest: Der türkische Alltag fällt zunehmend „merkwürdigen“ Wandlungen anheim. Um dazu ein wenig Panorama zu liefern: Die Gebetsrufe aus den Lautsprechern der Minarette werden immer lauter. Mancherorts werden diese Lautsprecher nicht mehr nur an den Minaretten befestigt, sondern inzwischen auch auf den umliegenden Hausdächern angebracht. Nach offiziellen Angaben hat sich in den vergangenen 4 Jahren die Zahl der Teilnehmer an lokalen Korankursen um mehr als verdoppelt, wobei hier der Anstieg des Frauenanteils besonders ins Auge sticht. So ist innerhalb eines Jahres der weibliche Anteil an diesen Korankursen von 166 Tausend auf 228 Tausend gestiegen. Wiederum innerhalb eines Jahres sind in der Türkei 1855 neue Moscheen entstanden. Selbst in verschiedenen Stadtteilen von Istanbul, die von der AKP regiert werden, sind während der Gebetszeit an Freitagen kaum noch offene Läden mehr zu finden. In denselben Bezirken werden sogar Schaufensterpuppen inzwischen die Haare unkenntlich gemacht oder Kopftücher aufgesetzt. Wiederum in Istanbul sind einige Bezirksbürgermeister bemüht, vor allem Frauen aus ihren Bezirken mehrfach die Woche kostenlose Busfahrten zu religiösen Heiligenstätten zur Verfügung zu stellen. Solche Fahrten waren bis vor nicht allzu langer Zeit vielmehr in der Fastenzeit während des Ramadan üblich…

Förderung der Religiosität mit kommunalen Mitteln

Vielleicht ist es dennoch ein hehres Ansinnen, der AKP-Spitze einen geheimen Islamisierungsplan zu unterstellen. Nun gibt es aber gleichzeitig so etwas wie eine politische Alltagspraxis insbesondere auf der Ebene der Kommunen, die den Menschen am nächsten steht. Diese Politik gestaltet die unmittelbare Umwelt und ist für die Lösung der täglichen Probleme die erste Anlaufstelle. Ob es sich um Straßenreinigung, Wasserversorgung oder um die Vergabe von Alkoholausschanklizenzen handelt, viele Geschäfte des täglichen Lebens laufen über die Kommunalpolitik. Sie ist mit anderen Worten die spürbarste bzw. wie der Soziologe Mardin feststellt, eine Politikebene, die für das Auge besonders sichtbar ist. Devote Anhänger und Sympathisanten der AKP im In- und Ausland mögen es vielleicht nicht gerne hören, aber im Laufe der nunmehr mehrjährigen AKP-Praxis im Bereich der Kommunalpolitik macht sich im Namen des Schutzes und der Protektion von sog. „konservativen Werten“ ein spezielles Bemühen bemerkbar, das öffentliche Leben zu reglementieren, indem insbesondere Wertesysteme in Anspruch genommen werden, deren Bezugsrahmen auf die Religion zurückgreift.

Wenn man von Fällen der Nichtvergabe von Alkoholausschanklizenzen im städtischen Kernbereich absieht, erfolgt diese Reglementierung nicht unbedingt mit Hilfe von manifester Sanktion, wohl jedoch insbesondere mittels der Kreation von lebhaften sozialen Bildern, die, um wieder auf den Soziologen Mardin zurückzugreifen, jede Menge Nahrung für das Auge bieten und zugleich dazu dienen, die „Beobachtungskultur“ innerhalb der Gesellschaft zu verstärken und damit auch unmittel zur Herausbildung von Selbstverständlichkeiten beitragen. Zur Illustration ein erstes Beispiel: In den der AKP unterstellten Verwaltungsgebäuden der Kommunen sind Kopftuchtragende Frauen als Angestellte des öffentlichen Dienstes inzwischen Gang und Gebe. Dabei herrscht im öffentlichen Dienst eine Kleiderordnung, ob man sie mag oder nicht, und diese verbietet unter anderem das Kopftuchtragen. Noch ein Beispiel: An den Veranstaltungen und Kundgebungen der AKP, die von der Basis vor Ort organisiert werden, wird fast durchgehend Geschlechtertrennung wirksam gemacht. Das heißt Männer sitzen oder stehen auf der einen und Frauen auf einer anderen Seite, wobei an diesem Bild zusätzlich auffällt, dass von nur wenigen Frauen abgesehen, die meisten weiblichen Teilnehmenden Kopftuch bis hin zum schwarzen Schleier tragen. Dass auf riesigen Kundgebungsplätzen oder in großen Veranstaltungssälen solche nach Geschlechtern rigoros getrennten Sitzordnungen sich spontan bilden, muss als unwahrscheinlich angenommen werden. Denn die türkische Gesellschaft ist dazu nach wie vor viel zu heterogen.

Selbstverständlich ist die soeben angesprochene Geschlechtertrennung keine Sache, die in der Türkei erstmals durch die AKP ins Leben gerufen worden ist. Was hierbei passiert, ist vielmehr, dass innerhalb der Gesellschaft ohnehin bestehende Tendenzen bewusst aufgegriffen und politisch benutzt werden. Im Falle der geschlechtlich getrennten Sitzordnung wird die innerhalb der Gesellschaft vorhandene Neigung zur sozialen und räumlichen Trennung von männlicher und weiblicher Wirklichkeit aufgegriffen und verfestigt. Indem hierbei zugleich auch Selbstverständlichkeiten gefördert werden, wird ein nicht zu unterschätzender Beitrag zur Beschleunigung von religiös konservativen Prozessen geleistet, was in der Konsequenz sicherlich nicht unbedeutend ist in Bezug auf die Politisierung des Konservatismus im religiösen Gewand. Das gleiche gilt auch für das Engagement von AKP-Kommunen, mit dem Argument, den Frauen die Gelegenheit geben zu wollen, von Männern ungestört unter sich sein zu können, Park- und Erholungsanlagen sowie Badestrände nur für Frauen zu errichten. Wenn in einer Nachbarschaft 90% der Frauen keine anderen als diese ausschließlich für sie angelegten Anlagen benutzt, bedarf es für die verbleibenden Frauen einer gehörigen Portion Courage, um sich über das beobachtende Auge der Nachbarschaft hinweg zu setzten und andere als diese Anlagen zu benutzen. Selbst wenn diese den Mut dazu aufbringen sollten, werden ihre Ehemänner, Väter oder Brüder denn genauso mutig sein können, um in einer gnadenlos beobachtenden Nachbarschaft sich über den Klatsch und Tratsch hinwegsetzen zu können? Es mag in der türkischen Gesellschaft mancherlei mangeln, jedoch an Beispielen, wo Männer gerade aus diesem Grund „Hand“ an Ehefrauen, Töchtern und Schwestern legen, mangelt es bestimmt nicht.

Sozialpolitischen Alltagspraxen vor Ort müssen keine geschriebenen Gesetze zugrunde liegen. Insbesondere in Kulturen mit ausgeprägt kollektivistischer Tendenz, für die etwa Zugehörigkeit, Loyalität, Gehorsam oder wie der Soziologe Mardin bemerkt, das Beobachten starke Parameter der Handlungsorientierung sind, besitzen aber gerade diese Politikpraxen vor Ort die Kraft, durch bestimmte gängige Haltungen sowie durch gezielt zur Schau getragene Präferenzen das soziale Klima im unmittelbaren Umfeld ungeahnt tief greifend zu beeinflussen. Diese Haltungen und Präferenzen sind es, die imstande sind, allmählich Einfluss darauf auszuüben, nicht nur wie man sich zu benehmen oder zu kleiden hat, sondern beinahe unbewusst auch darauf, wie man zu denken hat. Es gibt beispielsweise noch kein Gesetz in der Türkei, dass das Essen während der Fastenzeit verbietet oder vorschreibt, dass man die Läden während der Gebetszeit an Freitagen schließen muss. Nun mehren sich aber Meldungen und Beobachtungen gerade aus AKP regierten Städten und Bezirken, dass Laden- und Imbissbesitzer so tun, als gäbe es diese Gesetze bereits, die ihnen den Verkauf von Nahrung während der Fastenzeit oder das Öffnen des Ladens während der Gebetszeit am Freitag verbieten. Zum Teil mag der Grund dafür an der Neigung liegen, sich diesem oder jenem anzubiedern, deren Wirkung man in einer gleichsam stark beziehungsorientierten Kultur wie der türkischen nicht unterschätzen sollte. Wenn aber zum Beispiel Restaurant- und Imbissbesitzer vermehrt melden, dass man sie steinigen würde, wenn sie in der Fastenzeit es wagten, ihre Geschäfte zu öffnen oder ihnen die Kundschaft fernbleiben würde, wenn sie in der Gebetszeit am Freitag ihre Läden offen hielten, dann empfiehlt es sich dringend, dahinter vorauseilendes Gehorsam sowie Vorwegnahme einer vermuteten Sanktion anzunehmen, die man beide für den Seelenfrieden einer Gesellschaft nun nicht als gesund bezeichnen kann.

Nicht zu verharmlosende Irritationen

Im öffentlichen Leben des Alltags zeigt es sich zunehmend, dass bestimmte Handlungen, die vor noch nicht langer Zeit als „normal“ galten oder von den Handelnden selbst als „selbst bestimmt“ ausgelegt wurden, zunehmend als „befremdlich“ wahrgenommen werden, und zwar nicht nur von denen, die beobachten, sondern auch von jenen, die die Handelnden sind. Auch dazu ein Beispiel zur Illustration, das im Kern repräsentativ steht für zahlreiche andere Beispiele. Es handelt von einer Frau in führender Leitungsposition, die von einem „Fehler“ berichtet, den sie inmitten einer Versammlung begangen hat: „Unter meiner Jacke trug ich eine ärmellose Bluse. Ich war gerade in einer Behörde in Ankara und weil es sehr heiß war, zog ich meine Jacke aus. Und just in dem Augenblick bemerkte ich, dass ich einen Fehler begangen hatte. Ich merkte, wie meine männlichen Gesprächspartner plötzlich ihre Blicke von mir abwendeten, und sie zu verstecken suchten. Dabei hatte ich noch nicht einmal ein Dekoltee an; es waren nur meine Arme zu sehen. Die Irritation meiner männlichen Gesprächspartner hat mich, um ehrlich zu sein, noch mehr irritiert als sie selbst. Können Sie sich vorstellen? Menschen, die noch nicht einmal den Anblick von nackten Armen ertragen können. Ich kam mir sehr nackt vor und schämte mich sogar. Meine erste Reaktion war, dass ich keine ärmellose Bekleidung mehr tragen würde. Dann habe ich mich aber über mich selber geärgert. Soll ich denn morgen, wenn sie den Anblick meiner offenen Haare nicht ertragen können, soweit gehen, dass ich auch noch meinen Kopf bedecke?“(*)

Man kann hier noch von einem „besten Fall“ sprechen, weil die Reaktion sich nur als „Irritation“ ausdrückt, die nonverbal mitgeteilt wird. Das Problem ist aber, und das gilt für die Wahrnehmung von mindestens einem Drittel der Bevölkerung, dass es keinerlei Garant dafür gibt, dass die Reaktion, die sich heute als nonverbale Irritation bemerkbar macht, morgen nicht in offene Kritik bis hin zu direkter Sanktion verwandelt.

(*) Quelle: Ismet Berkan: „Hayat tarzi icki midir?“ In: „Radikal“ vom 10.05.2005

Das Thema wird noch fortgesetzt

 

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