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Jahrgang 4 Nr. 14 vom 9.04.2010
 

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Ist jede Veränderung eine Reform?

von Stefan Hibbeler

Nach einem zweiten Anlauf haben im Parlament die Beratungen für die von der AKP eingebrachten Verfassungsänderungsanträge begonnen. Die Debatte wird nicht nur in der Türkei mit Spannung verfolgt – auch aus Deutschland und aus der EU erfolgen immer wieder Stellungnahmen. Die meisten dieser Stellungnahmen aus dem Ausland bewerten das Projekt, die Verfassung zu ändern, positiv. Meist wird zudem angemerkt, dass im Grunde eine neue Verfassung erlassen werden müsse.
Vor diesem Hintergrund wird die Auseinandersetzung um die Verfassungsänderung im westlichen Ausland meist als ein Ringen zwischen „Reformern“ und „alten Eliten“ wahrgenommen.

Dieses Muster findet sich auch in einem Interview mit Claudia Roth, das die Tageszeitung Zaman am 27. März 2010 auf ihre Webseite brachte.
Bezogen auf die Verfassungsdiskussion führt die Grünen-Vorsitzende aus:
Dass anstelle einer vollständig neuen Verfassung nur Teile geändert werden, ist ein Rückzieher. Wir sind uns bewusst, dass er auf den harten Widerstand der „alten politischen Klassen“ zurückgeht. Die Kräfte der „alten Türkei“, die konservativen säkularen Kräfte wollen keine „neue Türkei“, die Minderheitenrechte verteidigt und die Gesellschaft demokratisieren will. Darum sind die Verfassungsreform und die Änderung beim Erlass von Gesetzen wichtig.
Für eine starke und demokratische Gesellschaft müssen die Kompetenzen des Militärs beschnitten werden.

Auf die Frage nach der Haltung von MHP und CHP:
Es lohnt sich nicht, die Haltung der MHP zu bewerten. Die auf Faschismus beruhende MHP will nicht, dass sich die Türkei verändert. Es ist offensichtlich, dass sie die alten Kompetenzen und Mächte erhalten will. Die Haltung der CHP ist nicht vertrauen erweckend. Die CHP hat in der Vergangenheit immer vertreten: „Wir brauchen eine neue Verfassung. Wir werden die Grundlage, die von der Militärdiktatur nach dem Putsch gelegt wurde, nicht akzeptieren.“ Betrachtet man das Verhalten der CHP, so entsteht folgendes Bild: Sie führt eine Politik nach dem Motto „Wenn die Regierung A sagt, sagen wir B“. Sie führt eine fundamental Opposition gegen Maßnahmen, die der Türkei nützen würden. Ich würde mir für die Demokratisierung der Türkei wünschen, dass die CHP mit der AKP diskutiert und Oppositionsarbeit leistet. Aber Baykal zeigt manchmal ein solch reaktionäres Verhalten, dass sogar die MHP dagegen weiter entwickelt und fortschrittlicher wirkt.
(Übersetzung aus dem Türkischen: Stefan Hibbeler)

Frau Roth erklärt, dass eine neue Verfassung erforderlich ist. Der aktuelle Änderungsentwurf ist angesichts des Widerstands besser als gar nichts. Die CHP verteidigt den Status Quo und die MHP beruht auf faschistischen Wurzeln und ist darum einer Bewertung nicht würdig.

Zwar spricht Frau Roth in dem Interview nicht von einer Reform, doch ist offensichtlich, dass sie etwas ähnliches im Sinn hat – sie spricht immerhin von der „alten Türkei“, die sich gegen Veränderung wehrt und einer „neuen Türkei“, die für Minderheitenrechte und Demokratisierung eintritt.

Bezogen auf die Verfassungsdiskussion sind die Fronten damit klar: Die AKP ist also die „neue Türkei“ und tritt für Minderheitenrechte und Demokratisierung ein?
Schließlich ist sie die einzige Partei, die die Verfassungsänderung im Moment unterstützt.

Kommen wir also zurück zur Ausgangsfrage: Ist jede Änderung eine Reform? Der Begriff Reform wird in der Regel mit „Verbesserung“ gleichgesetzt. Dies mag auf einem Fortschrittsglauben beruhen oder einfach der Tatsache geschuldet sein, dass es uns schwer fällt, die Dinge nicht aus der Warte der Mächtigen zu betrachten (denn bei gesetzlichen Reformen ist die politisch stärkste Kraft tonangebend…).
Um die vorliegende Verfassungsänderung zu bewerten, wäre es nützlich einen Blick in die türkische Verfassungsdiskussion zu werfen.
Neben dem Fundamentaleinspruch, dass die gültige Verfassung auf ein Diktat nach dem Militärputsch von 1980 zurückgeht, wird von liberalen türkischen Verfassungsjuristen eingewandt, dass sie der Regierung und dem Staatspräsidenten Kompetenzen verleiht, die das gesellschaftliche Leben lähmen und das Prinzip der Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative verletzen. Neben der Stellung des Militärs wird die Konstruktion des Hohen Rats der Richter und Staatsanwälte als wichtigstes Disziplinar- und damit Kontrollorgan der Justiz kritisiert. Minderheitenrechte werden nicht ausreichend geschützt, die Organisationsfreiheit nicht wirklich gewährleistet. Es ist eine autoritäre Verfassung, die den Bürger dem Staat unterordnet.
Diese Verfassung ist zudem in den vergangenen drei Jahrzehnten mehrfach geändert worden und hat damit zu einem bedeutenden Grad ihre innere Schlüssigkeit eingebüßt.

Betrachtet man vor diesem Hintergrund das Verfassungspaket der AKP zeigt sich, dass es weit hinter dieser Diskussion zurückbleibt. Die Kompetenzen des Staatspräsidenten beim Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte sowie bei der Ernennung der Verfassungsrichter werden gestärkt. Ist dies ein Zufall, wenn der amtierende Staatspräsident der AKP entstammt und die Amtszeit der Verfassungsrichter zwölf Jahre betragen soll?

Die Türkei liegt bei Parteiverboten in Europa an der Spitze. Die Verfassungsänderung soll solche Verbote erschweren und die Kriterien der Venedig Kommission einlösen. Doch die Änderung sieht vor allem vor, die Aufnahme eines Verbotsverfahrens an eine Genehmigung durch das Parlament zu binden. Die Genehmigung soll durch einen Ausschuss erfolgen, in dem Parteien mit Fraktionsstatus vertreten sind. Der aktuelle Änderungsvorschlag bedeutet damit nur, dass Parteien mit Faktionsstatus künftig nur noch mit großen Schwierigkeiten verboten werden können. Damit ist einer Widerholung des Verbotsverfahrens gegen die AKP vorgebeugt – doch was ist mit den anderen Parteien? Mit der Konstruktion des Genehmigungsverfahrens ist nicht einmal ausgeschlossen, dass die BDP als Nachfolgepartei der verbotenen DTP verboten werden könnte…

Die Institution des Ombudsmanns wird in der Verfassung verankert. Maßnahmen zur Förderung von Frauen, Alten und Behinderten sollen nicht als Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz bewertet werden können. Beamte erhalten das Recht auf Tarifvertrag.
Dies mag auf den ersten Blick wirklich nach einer Reform klingen. Betrachtet man die Details, kehrt Ernüchterung ein.

Durch eine 2001 vollzogene Verfassungsänderung ist in der Verfassung der Vorrang internationaler Verträge verankert worden. Mit dieser Änderung hat sich die Türkei den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte unterworfen. Diese Änderung ist auch in nachfolgende Gesetzgebung – beispielsweise in die Reform des Strafrechts und Strafprozessrechts eingegangen. Nach einer Verurteilung der Türkei wegen Verletzung der Organisationsfreiheit sind türkische Gerichte ohnehin angehalten, Tarifverträge im öffentlichen Dienst anzuerkennen. Frauenförderpläne, Quoten und ähnliche Bestimmungen werden von der Europäischen Menschenrechtskonvention gedeckt und sind als vorrangiges Recht in der Türkei anerkannt. Die von der AKP eingebrachten Änderungen decken vor diesem Hintergrund zu einem bedeutenden Anteil ohnehin nur die geltende Rechtslage ab.

Kann man vor diesen Hintergrund das Verfassungsänderungsprojekt der AKP als „neue Türkei“, die für Minderheitenrechte und Demokratisierung eintritt, charakterisieren?
Die aktuelle Verfassungsänderung birgt die Gefahr, die Justiz in noch stärkerem Maße an die jeweilig tonangebende Partei – bzw. Parteiführer – zu binden. Aufgrund der Bestimmungen des türkischen Parteienrechts haben Parteiführer in der Türkei außerordentliche Vollmachten. Sie beherrschen in der Regel sowohl die Regierung als auch ihre Parlamentsfraktion (beispielsweise dadurch, dass sie im Vorfeld der Wahl Rücktrittsgesuche der Abgeordnete unterschreiben lassen etc.). Wird ihr Einflussbereich nunmehr auch auf die Justiz ausgedehnt, kann von einer Gewaltenteilung nicht mehr die Rede sein.
Nicht alles „Neue“ ist ein Fortschritt – zumindest in normativer Hinsicht.
Jede Änderung pauschal zu unterstützen und Kritik daran als „Fundamentalopposition“ zu verurteilen, kann wohl nur dann einleuchtend wirken, wenn man von den Folgen der Prozesse nicht berührt wird. Wäre Betroffenheit im Spiel, würden die Urteile vielleicht differenzierter ausfallen.

Dass in der nationalen Politik Freund-Feind-Schablonen wirken, mag nachvollziehbar sein. Dass jedoch Frau Roth, als eine ausländische Politikerin es nötig hat, die MHP – die drittgrößte Kraft im türkischen Parlament – aufgrund ihrer „faschistischen Grundlagen“ als nicht diskussionswürdig zu betrachten, erscheint mindestens oberflächig.
Auf welcher Grundlage trifft sie ihr „Faschismus“-Urteil?

Betrachtet man die Position der nationalistischen MHP zur Verfassungsdiskussion wirkt sie nicht indiskutabel. Auch die MHP spricht sich für eine neue Verfassung aus. Sie will nicht, dass diese durch das amtierende Parlament verabschiedet wird. Stattdessen fordert sie, dass sich alle im Parlament vertretenen Parteien zusammensetzen und den Entwurf für diese Verfassung gemeinsam ausarbeiten sollen. Dieser Entwurf solle dann durch ein neues Parlament nach den für kommendes Jahr vorgesehenen Wahlen verabschiedet werden.
Natürlich spielt bei diesem Vorschlag ein Kalkül eine Rolle. Die MHP geht davon aus, dass die AKP aus der nächsten Wahl geschwächt hervorgehen wird. Einige Umfragen sehen voraus, dass sie die absolute Mehrheit im Parlament verlieren könnte. Unter dieser Voraussetzung ergibt sich ein Gestaltungsspielraum für die Opposition, die darauf hofft, bei der nächsten Wahl hinzuzugewinnen. Ist dies faschistisch?

Der aktuelle Verfassungsentwurf wird allein von der AKP getragen. Keine andere Partei im Parlament war bisher bereit, ihn zu unterstützen. Die AKP versucht nun die Änderung übers Knie zu brechen und geht dabei ein Risiko ein – gelingt es ihr nicht, Abgeordnete anderer Parteien oder die Unabhängigen für sich zu mobilisieren, muss sie ihre Abgeordneten vollständig zur Abstimmung sammeln und Sorge dafür tragen, dass diese zustimmen. Nur dann erreicht sie die nötigen Stimmen, um das Änderungspaket zur Volksabstimmung zu bringen.

Das Kompromissangebot der CHP hat die AKP ausgeschlagen. Diese hatte angeboten, dass sie die Verfassungsänderung mittragen werde, wenn allein drei Bestimmungen zum Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte und zum Parteienverbot dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden.

Macht dies die AKP zur Repräsentantin der „neuen Türkei“? Oder ist dies nicht eher ein Fall von Machtpolitik, der Grünen – sollte er ihnen im eigenen Land aufgetischt werden – Anlass genug wäre, sich mit allen Mitteln zur Wehr zu setzen?

 

 

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