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Istanbul Post |
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Ist jede Veränderung eine Reform?von Stefan Hibbeler Nach einem zweiten Anlauf haben im Parlament die Beratungen für die von der AKP eingebrachten Verfassungsänderungsanträge begonnen. Die Debatte wird nicht nur in der Türkei mit Spannung verfolgt – auch aus Deutschland und aus der EU erfolgen immer wieder Stellungnahmen. Die meisten dieser Stellungnahmen aus dem Ausland bewerten das Projekt, die Verfassung zu ändern, positiv. Meist wird zudem angemerkt, dass im Grunde eine neue Verfassung erlassen werden müsse. Dieses Muster findet sich auch in einem Interview mit Claudia Roth, das die Tageszeitung Zaman am 27. März 2010 auf ihre Webseite brachte. Auf die Frage nach der Haltung von MHP und CHP: Frau Roth erklärt, dass eine neue Verfassung erforderlich ist. Der aktuelle Änderungsentwurf ist angesichts des Widerstands besser als gar nichts. Die CHP verteidigt den Status Quo und die MHP beruht auf faschistischen Wurzeln und ist darum einer Bewertung nicht würdig. Zwar spricht Frau Roth in dem Interview nicht von einer Reform, doch ist offensichtlich, dass sie etwas ähnliches im Sinn hat – sie spricht immerhin von der „alten Türkei“, die sich gegen Veränderung wehrt und einer „neuen Türkei“, die für Minderheitenrechte und Demokratisierung eintritt. Bezogen auf die Verfassungsdiskussion sind die Fronten damit klar: Die AKP ist also die „neue Türkei“ und tritt für Minderheitenrechte und Demokratisierung ein? Kommen wir also zurück zur Ausgangsfrage: Ist jede Änderung eine Reform? Der Begriff Reform wird in der Regel mit „Verbesserung“ gleichgesetzt. Dies mag auf einem Fortschrittsglauben beruhen oder einfach der Tatsache geschuldet sein, dass es uns schwer fällt, die Dinge nicht aus der Warte der Mächtigen zu betrachten (denn bei gesetzlichen Reformen ist die politisch stärkste Kraft tonangebend…). Betrachtet man vor diesem Hintergrund das Verfassungspaket der AKP zeigt sich, dass es weit hinter dieser Diskussion zurückbleibt. Die Kompetenzen des Staatspräsidenten beim Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte sowie bei der Ernennung der Verfassungsrichter werden gestärkt. Ist dies ein Zufall, wenn der amtierende Staatspräsident der AKP entstammt und die Amtszeit der Verfassungsrichter zwölf Jahre betragen soll? Die Türkei liegt bei Parteiverboten in Europa an der Spitze. Die Verfassungsänderung soll solche Verbote erschweren und die Kriterien der Venedig Kommission einlösen. Doch die Änderung sieht vor allem vor, die Aufnahme eines Verbotsverfahrens an eine Genehmigung durch das Parlament zu binden. Die Genehmigung soll durch einen Ausschuss erfolgen, in dem Parteien mit Fraktionsstatus vertreten sind. Der aktuelle Änderungsvorschlag bedeutet damit nur, dass Parteien mit Faktionsstatus künftig nur noch mit großen Schwierigkeiten verboten werden können. Damit ist einer Widerholung des Verbotsverfahrens gegen die AKP vorgebeugt – doch was ist mit den anderen Parteien? Mit der Konstruktion des Genehmigungsverfahrens ist nicht einmal ausgeschlossen, dass die BDP als Nachfolgepartei der verbotenen DTP verboten werden könnte… Die Institution des Ombudsmanns wird in der Verfassung verankert. Maßnahmen zur Förderung von Frauen, Alten und Behinderten sollen nicht als Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz bewertet werden können. Beamte erhalten das Recht auf Tarifvertrag. Durch eine 2001 vollzogene Verfassungsänderung ist in der Verfassung der Vorrang internationaler Verträge verankert worden. Mit dieser Änderung hat sich die Türkei den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte unterworfen. Diese Änderung ist auch in nachfolgende Gesetzgebung – beispielsweise in die Reform des Strafrechts und Strafprozessrechts eingegangen. Nach einer Verurteilung der Türkei wegen Verletzung der Organisationsfreiheit sind türkische Gerichte ohnehin angehalten, Tarifverträge im öffentlichen Dienst anzuerkennen. Frauenförderpläne, Quoten und ähnliche Bestimmungen werden von der Europäischen Menschenrechtskonvention gedeckt und sind als vorrangiges Recht in der Türkei anerkannt. Die von der AKP eingebrachten Änderungen decken vor diesem Hintergrund zu einem bedeutenden Anteil ohnehin nur die geltende Rechtslage ab. Kann man vor diesen Hintergrund das Verfassungsänderungsprojekt der AKP als „neue Türkei“, die für Minderheitenrechte und Demokratisierung eintritt, charakterisieren? Dass in der nationalen Politik Freund-Feind-Schablonen wirken, mag nachvollziehbar sein. Dass jedoch Frau Roth, als eine ausländische Politikerin es nötig hat, die MHP – die drittgrößte Kraft im türkischen Parlament – aufgrund ihrer „faschistischen Grundlagen“ als nicht diskussionswürdig zu betrachten, erscheint mindestens oberflächig. Betrachtet man die Position der nationalistischen MHP zur Verfassungsdiskussion wirkt sie nicht indiskutabel. Auch die MHP spricht sich für eine neue Verfassung aus. Sie will nicht, dass diese durch das amtierende Parlament verabschiedet wird. Stattdessen fordert sie, dass sich alle im Parlament vertretenen Parteien zusammensetzen und den Entwurf für diese Verfassung gemeinsam ausarbeiten sollen. Dieser Entwurf solle dann durch ein neues Parlament nach den für kommendes Jahr vorgesehenen Wahlen verabschiedet werden. Der aktuelle Verfassungsentwurf wird allein von der AKP getragen. Keine andere Partei im Parlament war bisher bereit, ihn zu unterstützen. Die AKP versucht nun die Änderung übers Knie zu brechen und geht dabei ein Risiko ein – gelingt es ihr nicht, Abgeordnete anderer Parteien oder die Unabhängigen für sich zu mobilisieren, muss sie ihre Abgeordneten vollständig zur Abstimmung sammeln und Sorge dafür tragen, dass diese zustimmen. Nur dann erreicht sie die nötigen Stimmen, um das Änderungspaket zur Volksabstimmung zu bringen. Das Kompromissangebot der CHP hat die AKP ausgeschlagen. Diese hatte angeboten, dass sie die Verfassungsänderung mittragen werde, wenn allein drei Bestimmungen zum Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte und zum Parteienverbot dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden. Macht dies die AKP zur Repräsentantin der „neuen Türkei“? Oder ist dies nicht eher ein Fall von Machtpolitik, der Grünen – sollte er ihnen im eigenen Land aufgetischt werden – Anlass genug wäre, sich mit allen Mitteln zur Wehr zu setzen? |
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