Jahrgang 2 Nr. 0 vom 7.07.2001
 

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6. Todestag von Aziz Nesin

Am 6. Juli jährte sich der Todestag von Aziz Nesin - Satiriker, Autor und eine Instanz des öffentlichen Gewissens - zum sechsten Mal. Sein Werk, seine Streitbarkeit, aber auch seine Kinderstiftung sind nach wie vor unvergessen.

Man hatte ihn "das literarische Gewissen der Türkei" genannt. Und tatsächlich - auch über seinen Tod hinaus, sprechen die Leute in liebevoller Erinnerung über ihn. Das bedeutet nicht, daß der streitbare Nesin sich nicht zu Lebzeiten erbitterte Feinde gemacht hätte. Neben zahlreichen verbüßten Haftstrafen ist der wohl deutlichste Ausdruck dieser Feindschaft der von einer aufgehetzten Menschenmenge 1993 in Sivas begangene Progrom. Als eine Menschenmenge nach dem Freitagsgebet das Madimak-Hotel umzingelte und anzündete, kam Nesin nur knapp mit dem Leben davon. 37 Menschen starben in den Flammen.

Aziz Nesin hat zu Lebzeiten mehr als 100 Bücher veröffentlicht. Zu seinen bekanntesten Aktivitäten im sozialen Bereich zählen seine Mitwirkung in der inzwischen leider geschlossenen Erwachsenenbildungseinrichtung BILAR sowie die Aziz-Nesin-Kinderstiftung in Catalca.

Die Kinderstiftung, in der zur Zeit 24 Kinder leben, wurden 1972 mit dem Ziel gegründet, Kindern ohne Eltern oder solchen aus armen Familien die Chance zu geben, die gleichen Entwicklungsmöglichkeiten zu haben, wie solche aus reichen Familien.

Es fällt schwer, einen Einblick in das vielfältige Werk Nesins zu geben. Der Versuch, Vollständigkeit zu erlangen, entfällt angesichts der Zahl der Werke. So möchte ich - um zumindest einen Eindruck zu ermöglichen - nur einige Auszüge aus dem Buch „Der einzige Weg“ (veröffentlicht 1981, in deutscher Übersetzung 1995 im Unionsverlag erschienen) vorstellen.

„Den Helden dieses Romans lernte ich 1951 im Paschakapi-Gefängnis von Istanbul kennen. Er war ein notorischer Betrüger und hatte ein eindrückliches Vorstrafenregister. Wie viele Häftlinge war auch er ein meisterhafter Erzähler. Wenn die ausgedachten Erlebnisse bei seinen Zuhörern gut ankamen, verbesserte er sie, ließ etwas weg, fügte anderes hinzu, und gab dem Ganzen schließlich die bestmöglichste Form, so wie ein Schriftsteller mehrere Konzepte macht, die er dann bearbeitet. Seine wirkungsvollsten Schöpfungen erzählte er so oft, daß er zum Schluß selbst daran glaubte. Keine seiner Betrügereien stellte er in Abrede. Er bauschte sie sogar noch auf. Er sagte bloß immer: „Mir blieb nur ein einziger Weg: Betrug ...“

So beginnt die Geschichte von Paschazade - dem „Sohn eines Paschas“ - wie der Held des Romans von den Mitgefangenen genannt wurde. In den 380 Seiten starken Roman wird in Episoden das Leben des Paschazade vorgestellt: Eine Homage an die Fabulierkunst und den Sieg der Phantasie über eine widrige Wirklichkeit.

„Einer meiner Freunde hatte in Pendik am Ufer des Marmara-Meeres ein Lokal eröffnet. Als ich eines Abends hinging, sah ich Paschazade dort als Oberkellner arbeiten. In seinem schwarzen Anzug mit dem gestärkten weißen Oberhemd und der schwarzen Fliege ähnelte er mehr einem Diplomaten als einem Oberkellner. Als er mich sah bekam er große Angst und flehte mich an, seinem Chef nichts zu verraten. Wo immer er eine Arbeit aufnahm, kam irgendwann heraus, wer er war, oder Polizisten erkannten ihn, und dann wurde er stets sofort entlassen. Er ahbe das elende Leben satt, sagte er mir, er wolle in diesem Alter nicht noch einmal ins Gefängnis.
„Sie sehen doch, ich bemühe mich, den einzigen Weg nicht noch einmal zu gehen.“
Mußte ich dem Wirt sagen, wer Paschazade war, oder sollte ich es lassen= Wenn ich es sagte, würde er den Weg, den er 'den einzigen' nannte, wahrscheinlich wieder einschlagen, mit Sicherheit gefaßt werden und erneut im Gefängnis 2landen. Wenn ich es nicht sagte, würde er den Wirt betrügen und wieder einen Vorwand finden, 'weshalb das der einzige Ausweg gewesen sei ...' Ich wußte nicht, wie ich mich verhalten sollte.
...
Während ich immer noch darübe rnachdachte, ob ich sagen sollte, wer er war, fragte mich der Wirt: „Kennst du unseren Oberkellner?“
'Ich kenne ihn nicht', konnte ich nicht sagen, denn er hatte mich lange mit Paschazade sprechen sehen. Also fragte ich zurück: „Kennst du ihn denn?“
„Natürlich. Er ist ein berüchtigter Betrüger ...“
„Von wem weißt du das?“
„Polizisten waren hier und haben es mir gesagt. Aber er weiß nicht, daß ich es weiß.“
„Wirst du ihn entlassen?“
„Wie werde ich denn. Jahrelang habe ich niemanden gefunden, der in allen Dingen so versiert ist wie er, mal ist er Koch, mal Direktor, mal Oberkellner, und immer perfekt ... und billig obendrein.“

Angesichts der weiter steigenden Zahl türkischer Literatur in deutscher Übersetzung bleibt zu hoffen, daß weitere Werke Nesins dem deutschen Lesepublikum zugänglich werden.



 

Von Aziz Nesin liegen eine Reihe Titel in deutscher Übersetzung vor. Wenn Sie Interesse haben, schauen Sie bitte in die deutschsprachige Bibliographie am Ende der Seite.

Biographie

geb. am 20.12.1915 in Istanbul, gest. 6.07.1995 Catalca
Sohn eines Beamten. Absolvent der Kriegsschule 1935. Beendete seine militärische Karriere im Jahr 1944 als Oberstleutnant. Veröffentlichte Satiren, Kurzgeschichten, politische Essays. Aziz Nesin erhielt eine große Zahl internationaler Auszeichnungen. In Deutschland u.a. 1993 die Carl-von-Ossietzky-Medaille der Internationalen Liga für Menschenrechte. Seine Werke wurden in mehr als 30 Sprachen übersetzt.

 

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