Jahrgang 2 Nr. 0 vom
 

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Die Sprache der Esel. Oder: "Es wird schon alles gut gehen"

In den letzten Monaten ist mir häufiger eine Fabel von Aziz Nesin eingefallen. Ob es nun angesichts der Erklärungen der Regierung über den Weg aus der Krise oder eines möglichen Rückgang der Devisenkurse ist. Oder ob es sich um die Entwicklung 'neuer' politischer Parteien handelt. Aber machen Sie sich selbst ein Bild:

 

"Vermutlich hätte das Schicksal den Eseln eine andere Sprache und damit ein weniger 'eselhaftes' Leben beschert, wenn das Ende des Essels aus alten Generationen anders gekommen wäre, als es gekommen ist. Dazu hätte es aber der Erzählung eines anderen Anfangs bedurft, als denjenigen, den ich im folgenden zusammenfassen werde: Das Volk der Esel besaß in früheren Zeiten eine eigene Sprache, so ähnlich wie bei den Menschen auch. Daß sie ihre Sprache verlernten und sich statt dessen - wie man das heute von ihnen weiß - diese eigenartigen Laute "IA, IA" (im Türkischen eine andere Reihenfolge: ai, ai) aneigneten, ist eine recht alte Geschichte. In Vorzeiten gab es einen alten Esel. Eines Tages einige Lieder im Eselischen singend, weidete er auf den Wiesen. Als er seinen Kopf hob, um den herrlichen Duft der Wiesen einzuatmen, durchbohrte seine Nase der scharfe Geruch des Wolfes. Doch der alte Esel tröste sich damit, daß er sich dies nur einbilde und bleib weiterhin gelassen. Während der Wolfsgeruch in der Luft immer dichter wurde, blieb der Esel immer noch in seiner Haltung und redete sich dabei weiter ein, daß es womöglich gar kein Wolf sei. Und überhaupt, warum sollte es ein Wolf sein, Gott wird es schon fügen, daß es nicht ein Wolf ist. Die Geschichte setzte sich so fort, bis es kam, wie es gekommen ist. Erst in dem Augenblick, als der Esel durch den ersten Biß des Wolfes sogleich in Blut gebadet war, gestand er es sich ein, daß es doch der Wolf sei. Aber da war er nur mehr fähig, "AAA er IST'S" auszustoßen. Und je mehr der Wolf zupackte, um so mehr schrumpfte sein Seufzer, bis davon nur noch ein "AAIIAAIIAAII" übrig blieb. Diese letzten Laute, die durch Stein und Berge hindurch in die Ohren aller anderen Eselsgenossen drangen, machten sie ihre eselische Sprache vergessen und blieben ihnen bis heute erhalten."

(Übersetzung: Perihan Ügeöz)

 

 

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