Jahrgang 2 Nr. 0 vom 20.12.2001
 

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Nacht und Nebel - ein Gespräch mit Ahmet Ümit


Ahmet Ümit ist 1960 in Gaziantep, im Südosten der Türkei geboren. Seit 1996 veröffentlichte er vier Kriminalromane. Daneben schreibt er Beiträge für Tageszeitungen in den Bereichen Literatur und Philosophie. Seine Bücher werden zur Zeit ins Deutsche übersetzt und werden hoffentlich in Kürze auch einen Verlag finden. Ahmet Ümit ist ein irritierender Autor, dem es gelungen ist in voneinander sehr unterschiedlichen Büchern eine spannende Handlung mit vielfältigen Ereignissen und Realitäten des Lebens in der Türkei zu verbinden.

„Patasana" war das erste dickere Buch, das ich auf Türkisch zuende gelesen habe. Es hat mir sehr gut gefallen. Ich hatte den Eindruck, daß sie in dem Buch sehr nah bei türkischen Realitäten geblieben sind. War das Ihr Anliegen?

Eigentlich in allen meinen Büchern - auch in „Sis ve Gece" (Nacht und Nebel) und „Kar kokusu" (Schneegeruch) gehe ich von den Realitäten in der Türkei aus. Aber ich erzähle sie im Rahmen eines Kriminalromans. Natürlich sind die Bücher sehr unterschiedlich. Aber alle greifen universell die Frage nach dem Menschen auf. Das will ich erzählen. Da ist im Patasana-Roman das Problem der Gewalt, eine Tradition die „Anderen" zu vernichten. Das ist nicht einfach eine Frage der Türkei, bzw. dessen, was in der Türkei mit den Armeniern gemacht wurde. Es ist gleichzeitig eine Angelegenheit, die historische Wurzeln hat. Es ist Gewalt, die an Unschuldigen verübt wurde - so wie die Gewalt der Amerikaner gegen die Indianer, die Gewalt der Nazis gegen die Juden oder Gewalt, die von Katholiken gegen Protestanten ausgeübt wird. Oder jetzt die Ereignisse in Afganistan. Aber wenn ich dies erzähle, in diesem Land lebend, greife ich diese universellen Probleme vor dem Hintergrund der Erfahrungen in diesem Land auf und erzähle sie auf diese Weise. Und schließlich haben wir Schriftsteller ein kritisches Verhältnis zur Welkt. Das ist auch unsere Verantwortung als Schriftsteller, denn indem wir kritisieren, haben wir den Wusnch nach einer Welt, die besser wird. Auch wenn wir das nicht als ‚Botschaft' herausstellen, so ist doch im Unterbewußtsein von uns allen, als Intellektuelle, der Wusnch, daß die Welt besser werden müßte, daß weniger Gewalt auftritt. Die Sehnsucht nach einer brüderlicheren Welt. Darum gehen beide Geschichten im Patasana-Roman von der türkischen Wirklichkeit aus und erzählten sie im Handlungsrahmen eines Kriminalromans.

Ich habe zwei Romane von Ihnen gelesen und empfand sie als sehr unterschiedlich. Der zweite Roman war „Sis ve Gece" und der hat mich - offen gesagt - erschreckt. Die Figur des Oberst Sedat kam mir einerseits realistisch vor, aber gleichzeitig war mir die Gewalt, in der sich die Handlung entfaltet, zuviel. Haben Sie so geschrieben, um realistisch zu sein? Wie haben Sie die Figur gefunden?

„Sis ve Gece" wurde vor dem Susurluk-Ereignis veröffentlicht. Der türkische Staat hat, um die kurdische Opposition zu unterdrücken, paramilitärische, faschistische Kräfte benutzt und geheime Organisationen aufgebaut. Durch diese geheimen Organisationen wurden Menschen ermordet. Innerhalb der Geheimdienste - so gibt es beispielsweise den Milli Istihbarat Teskilati (MIT) --haben Spaltungen zwischen Zivilisten und Militärs begonnen. Und weil der MIT seiner eigenen Regierung nicht traute, hat er sogar gegen die eigenen Sicherheitsorgane einen Geheimdienst entwickelt. Bevor ich mit dem Buch begann, war einiges davon bereits durch Presseberichte bekannt geworden. Und die Handlung in „Sis ve Gece" ist eigentlich die einer Hinrichtung ohne Rechtsgundlage. Die Hauptfigur, Oberst Sedat, hatte an einer Mordaktion teilgenommen. Wen er erschossen hat, weiß er nicht - aber es ist die Person, die er liebt. Es ist eigentlich die Handlung von Eurydikes von Sophokles. Da ist eine Ungewißheit, es gibt einen Fluch und als Erydikes dies untersucht, stellt er schließlich fest, daß er selbst der Auslöser allen Unheils ist. Das ist genau die Handlung von „Sis ve Gece". Die von Sedat geliebte Person ist verschwunden. Aber während er nach ihr sucht, stellt er schließlich fest, daß er selbst für ihr Verschwinden verantwortlich ist. Ich bin von der Gewalt dieser willkürlichen Morde ausgegangen und von den Defiziten der türkischen Demokratie. Wenn Sie sich den Patasana Roman genau anschauen, werden Sie feststellen, daß sich beide Romane in dieser Hinsicht ähneln.
Wenn Menschen keine Gewalt einsetzen, wenn wir die Schuldigen verhaften und vor Gericht stellten anstatt sie vernichten zu wollen, würden wir diese ganze Gewalt nicht erleben und Sedat hätte die geliebte Person nicht verloren. Aber so sind die sogenannten Terroristen Menschen, von denen Sedat glaubt das Recht zu haben, sie zu vernichten. Aus diesem Grund tritt dieses Maß von Gewalt auf. Aber ich bin auch der Überzeugung, daß eine Figur wie Oberst Sedat als Mensch erzählt werden muß. In meinen ganzen Romanen - bei Patasana und Sis ve Gece werden Sie es gesehen haben - gibt es keine ‚guten' oder ‚schlechten' Menschen. Bei meinen Hauptfiguren gibt es gute und schlechte Seiten. Bei mir findet Sedat mit seinen Gefühlen als Mensch seinen Platz. Es wäre natürlich einfacher zu sagen „dreckiger Bulle" oder „dreckiger Faschist". Damit sind Sie aus dem Schneider. Aber das ist nicht die Funktion von Literatur. Das ist nur ein grobes Politikverständnis. Literatur kann von einem solchen Politikverständnis ausgehend nicht existieren.

Ja, daß ist mir auch im Patasana Roman bei der Figur des Hauptmann Esref aufgefallen. Es ist eine vielschichtige Persönlichkeit. Er lebt in einer gewalttätigen Welt und setzt selbst auch Gewalt ein. Natürlich ist es einfach zu sagen: „dreckiger Bulle". Auf diese Weise kann man versuchen einigen Abstand zwischen sich und das Geschehen zu bringen. Der andere Weg ist viel schwieriger.

Von den türkischen Verhältnissen ausgehend ist es sehr schwierig. Die Zeit seit dem Putsch lastet schwer. Es sind Tage, die schwer auf eine Begriff zu bringen sind. Sehr hart.

Ich mag das Buch - aber es ist kein einfaches Buch. Wenn man von Kriminalromanen spricht, denkt man meist an „leichte" Literatur. Aber wenn man Ihre Bücher liest, wird diese Erwartung enttäuscht.

Damit stehen Sie nicht allein. Die meisten meiner Leser haben diesen Eindruck. Die Leser in der Türkei kennen mich noch nicht genug. Ich bin ein gutverkaufender Autor. Wenn wir Kriminalroman sagen, haben wir im Kopf ein Klischee. Aber wenn ich einen Krimi schreibe, will ich gute Literatur schaffen. WEnn Sie in die Geschichte schauen, beginnt der Kriminalroman mit Poe - 1841 „Mord in der Rue Morgue". Seitdem sind Tausende Kriminalromane geschrieben worden. In unterschiedlichen Ländern und Sprachen. Wenn ich nun als türkischer Autor nach 160 Jahren einen Kriminalroman schreibe, muß ich etwas Neues produzieren. Es wäre wenig sinnvoll, wenn ich wie Agatha Christie, Simeon oder Dashiel Hammet schriebe. Ich muß etwas Anderes machen. Und ich muß die Eigenheiten meines Landes einfangen. Darum gehe ich bei den Kriminalromanen von der Frage der Schuld aus. Aber wenn ich von Schuld erzähle, dann ist es nicht einfach irgendeine kleine Intrige. Es ist gleichzeitig eine Schilderung der psychologischen und soziologischen Deformationen, die zur Schuld führen. Die psychologische Struktur des Täters, das Panorama der Straftat, die Ursachen, die Psychologie der Beteiligten und ihre Unterschiede. Natürlich gibt es dafür literarische Vorbilder. Aber es sind keine Krimiautoren: Sophokles, Shakespeare, Dostowjewski. Auf die habe ich mich bezogen. Wenn Sie beispielsweise „Schuld und Sühne" von Dostowjewski nehmen, dann ist dort alles von Anfang an klar. Was ich aber versuche, ist einen spannenden Handlungsaufbau mit einer universellen Hinterfragung des Menschen zu verbinden. Ich versuche, philosophischen Fragen nachzugehen, ohne den Spannungsbogen der Erzählung zu beschädigen. Darum werden es auch keine ‚leichten' Romane. Vielleicht vergleichbar mit Ecos ‚Im Namen der Rose'.

Aber warum haben Sie, wenn Sie dieses Anliegen verfolgen, ausgerechnet den Kriminalroman als Gattung gewählt?

Roman Barthes hat einmal folgendes gesagt: „Was ein Autor erlebt hat, schlägt sich in seinem Stil nieder". In unserem Land gibt es eine 78er Generation. Sie unterscheidet sich von der 68er Generation. Weil wir in der Geschichte unserer Republik häufig Militärputsche erlebt haben, entstehen regelrechte Generationen. Eine Generation lebt, dan wird sie abgebrochen und zwischen ihr und der nächsten Generation - obwohl nur 10 Jahre dazwischenliegen - besteht ein großer Unterschied.
Ich gehöre zur 78er Generation. Vor dem Putsch von 1980 haben wir einen regelrechten Bürgerkrieg erlebt und ich habe auf der linken Seite daran teilgenommen. Ich habe mit 14 Jahren mit der politischen Arbeit begonnen und sie bis zu meinem 29. Lebensjahr sehr intensiv fortgesetzt. Ich habe als aktiver Militanter der Türkischen Kommunistischen Partei gearbeitet. Während des Putsches war ich im Untergrund. Dann habe ich festgestellt, daß die Politik nur geringe Handlungsspielräume bietet. Obwohl ich nach wie vor glaube, daß die Linke wesentliches zur Lösung der Menschheitsprobleme beitragen kann, habe ich auch erkannt, daß unsere Herangehensweise einen ausgesprochen autoritären Zug hatte. Und dann habe ich angefangen zu schreiben, mich aus der Politik zurückgezogen. Ich habe mir gesagt, daß ich als Schriftsteller mehr leisten könnte und begann zu schreiben. Und mit dem Schreiben traten Kriminalerzählungen zu Tage. Das war mir nicht bewußt. Freunde, die meine Texte lasen, sagten mir ‚daß sind Kriminalromane, die du da schreibst'. Da habe ich überhaupt erst angefangen, darüber nachzudenken und dann begonnen, nachzuforschen. Und es stimmt. Es gehört zu meinem Stil, beim Schreiben einen Spannungsbogen, eine Intrige aufzubauen. Es war also keine bewußte Entscheidung, sondern eine Entwicklung. Aber gleichzeitig merke ich, wie mich das Schreiben erregt. Ich glaube auch, daß wenn man diese Erregung nicht spürt, man diese Arbeit nicht machen kann. Aber wenn es Kriminalromane sind, dann paßt die leichte Form, die nur auf Unterhaltung aus ist, auch nicht zu mir. Ein Mensch, der als Jugendlicher aufgebrochen war, die Welt zu verändern, und mit 30 anfängt zu schreiben, kann nicht einfach alles über Bord werfen. Darum war es meine Aufgabe, was ich erzählen wollte mit dem Genre zu vereinigen. Das ist der Gund, warum ich Kriminalromane schreibe.

Wenn ich mir anschaue, was von Ihnen in der Öffentlichkeit erscheint - seien es Ihre Bücher oder Ihre Zeitungsartikel, so schreiben Sie über Literatur, über den Kriminalroman oder über philosophische Fragen. Aber Sie geben keine politischen Stellungnahmen mehr ab.

Es ist eigentlich, wie ich gerade erzählt habe. Wir waren davon überzeugt, die Welt richtig erkannt zu haben. Außer uns waren alle anderen im Irrtum. Das ist natürlich unhaltbar. Einer solch vielfältigen Realität gegenüber kann man so nicht auftreten. Als ich noch unmittelbar in der Politik aktiv war, konnte ich nicht schreiben. Ich konnte nur Slogans hervorbringen. Wenn ich geschrieben habe, dann habe ich gezeigt, daß dies richtig ist. Soetwas will ich nicht mehr. In den Büchern, die Sie gelesen haben, werden Sie feststellen, daß dort nichts fraglos ist, daß es diskussionsbedürftige Texte sind. Es kann sein, daß Sie sich in ‚Sis ve Gece' mit Oberst Sedat identifizieren - aber dann stellen Sie fest, daß er sich an willkürlichen Hinrichtungen beteiligt ... Und auch in Patasana erzähle ich Esref als Hauptfigur und Esra als Hauptfigur. In politischen Texten ist das anders. Da muß man Thesen formulieren und vertreten. Romane, Literatur sind mit Philosophie vergleichbar - es werden Begriffe erarbeitet und mit diesen Begriffen wird über die Welt nachgedacht.

Schreiben Sie im Augenblick an einem neuen Roman?

Ja. Ich habe vorhin den Susurluk Skandal erwähnt. Es wird kein biographischer Roman, aber ich erzähle die Psychologie eines in die Ereignisse verwickelten Killers. Er ist benutzt worden und nun will man ihn loswerden. Das Buch wird wahrscheinlich im März herrauskommen. Es fehlen noch die letzten 100 Seiten. Aber es wird wieder kein einseitiger Roman sein. Auch wenn der Mann ein Faschist ist, so glaubt er an seine Sache. Aber dieser Mann verwandelt sich mehr und mehr in ein Bandenmitglied, einen Heroinverkäufer, einen Auftragskiller. Es gibt einen Unterschied, ob jemand aus politischen oder um des eigenen Vorteils willen tötet. Natürlich sind Morde auf jeden Fall abzulehnen, aber dennoch gibt es einen Unterschied. Dies zu erzählen ist Ausgangspunkt des Romans.

In den letzten Jahren ist eine neue Generation von Krimi-Autoren aufgetreten. Auch Sie werden dazugerechnet. Was hat zu dem neuen Interesse am Kriminalroman beigetragen?

Es war über lange Zeit bei uns wie in Europa: Kriminalromane wurden nicht als Literatur bewertet. Ab den 60er Jahren begann man in den USA langsam, den Kriminalroman auch in akademischen Kreisen zu akzeptieren. Bei uns war es noch bis vor fünf Jahren so. Mein ‚Sis ve Gece' ist 1996 erschienen. Das hat auch etwas mit gesellschaftlichen Wandlungen zu tun. Der Kriminalroman ist ein Kind der Industriegesellschaft. In der Türkei war die Kriminalkultur eine feudalistische Kultur. Zwar gibt es einen rechtlichen Rahmen, aber im Volk verbreitet ist der kurze Weg nach dem Motto „Auge um Auge, Zahn um Zahn". Und das passiert vor aller Augen, nichts ist geheim: Wenn jemand Ihren Bruder tötet, dann töten danach Sie den Täter - öffentlich. Da ist kein Raum für Kriminalromane. Es gibt kein Geheimnis, alles passiert in der Öffentlichkeit. Aber seit den 80er Jahren hat die Industrialisierung begonnen. Vor allem in den Großstädten wie Istanbul, Ankara, Izmir oder Adana. Die alten Werte beginnen sich aufzulösen und an ihre Stelle tritt Geld und Gewinn. Die klassischen kapitalistischen Werte sind bei uns erst spät zur Gültigkeit gekommen. Dadurch ist für Kriminalromane überhaupt erst der Boden bereitet worden. Und es gibt noch einen wichtigen Einfluß. Unsere einheimischen Verlage haben angefangen, engere Kontakte mit ausländischen Verlagen anzuknüpfen. Und so haben sie festgestellt, daß es einen Markt für intellektuelle Kriminalromane gibt. So hat die Nachfrage angefangen. Die Übersetzungen haben zugenommen und der Erfolg der ‚neuen Krimiautoren' - hat ein weiteres getan.

Stefan Hibbeler

 

In dem Interview ist immer wieder von zwei Romanen die Rede: Sis ve Gece und Patasana. Darum hier zwei Kurzbesprechungen:

Sis ve Gece

Patasana

 

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