Istanbul Post

Vertrauenskrise

Die Ergebnisse der vergangenen Wahlen und Volksabstimmungen haben gezeigt, dass die türkische Gesellschaft ungefähr in der Hälfte geteilt ist. Meinungsumfragen deuten zudem darauf hin, dass diese Spaltung weitgehend unabhängig von Themen und Parteien ist. Es ist mehr eine Frage der "Identität", d.h. der eigenen Zugehörigkeit zu einem gesellschaftlichen Lager. Ein solches Phänomen muss sich notwendigerweise auch in den Medien niederschlagen. Nach dem Eigentümerwechsel bei den Doğan Medien ist hier das Gewicht der traditionellen Medien weiter zu einem Block verschoben worden. Man  muss kein Prophet sein, um zu vermuten, dass diese Entwicklung dazu führen wird, dass das Vertrauen in die Medien weiter sinken wird. Doch ich möchte auf einen anderen Aspekt dieser Entwicklung eingehen. Nach dem Opferfest begann eine Diskussion, ob die Maul- und Klauenseuche um sich greift und ob dafür Tierimporte verantwortlich sind. Mehr im Vordergrund steht die Diskussion über die Wirtschaftsentwicklung. Und schließlich ist da noch die Inhaftierung von Max Zirngast, einem Österreicher, der seit drei Jahren in der Türkei lebt und als Übersetzer tätig ist.

Die Maul- und Klauenseuche

Noch während des Opferfestes trafen erste Meldungen darüber ein, dass Personen, die beim Schlachten mit Blut von Opfertieren in Berührung kamen oder später Fleisch von ihnen gegessen haben, mit der Diagnose Maul- und Klauenseuche ins Krankenhaus eingeliefert wurden. Mitte September traf außerdem die Meldung der Ärztekammer Diyarbakır ein, dass ein Kind an einer Darminfektion dieser Krankheit verstarb. Das Ministerium für Landwirtschaft erklärt, dass es keinen Anstieg der Erkrankungen unter Tieren gäbe und dass es Unsinn sei, die Erkrankungen auf Tierimporte zurückzuführen.

Dass die türkischen Medien solche Ereignisse nach ihrem politischen Profil und Auflageninteressen aufgreifen, mag niemanden verwundern. Für die politische Autorität jedoch sollte sich die Frage anders stellen. Es handelt sich international bei der Maul- und Klauenseuche um eine meldepflichtige Erkrankung. Es wäre darum leicht für das Ministerium, nicht zu erklären, dass sich die Zahl der Erkrankungen nicht erhöht habe. Es könnte einfach an die Presseerklärung die Fallstatistiken der vergangenen drei Jahre anhängen.

Das Neue Wirtschaftsprogramm

In den Kommentaren zum Neuen Wirtschaftsprogramm fällt auf, dass als wichtigster Fortschritt gewürdigt wird, dass eingestanden wird, dass die Türkei vor einer Wirtschaftskrise steht. Betrachtet man die Ausführungen von Finanzminister Albayrak, der für das Programm verantwortlich ist, klingt dies ein wenig anders. Es gäbe einige Probleme, doch die Fundamente der türkischen Wirtschaft seien gesund. Während Fachleute aus den vorgestellten Schätzwerten beispielsweise einen Anstieg der Arbeitslosigkeit um 4 Millionen Menschen herausrechnen und dabei darauf hinweisen, dass es sich um optimistische Schätzungen handelt, handelt es sich nach den Darstellungen der politisch Verantwortlichen nach wie vor um ein "Wahrnehmungsproblem"  (Finanzminister) bzw. "Manipulation" (Staatspräsident).

Es gehört zur Politik, die Realität gemäß der eigenen politischen Interessen und Positionen darzustellen. Es gehört zum Risikomanagement, durch Mut Vertrauen zu gewinnen und auf diese Weise die Folgen einer Krise zu verringern. Das Neue Wirtschaftsprogramm scheint demnach eher unter politischen Aspekten als im Hinblick auf Krisenmanagement entworfen worden zu sein.

Die Inhaftierung von Max Zirngast

Die Nachricht traf am gleichen Tag ein, an dem das Neue Wirtschaftsprogramm präsentiert wurde. Zirngast war bereits eine Woche zuvor bei einer Razzia gegen linke Gruppierungen zusammen mit vier türkischen Staatsbürgern verhaftet worden. Die Tageszeitung Cumhuriyet meldet, dass Zirngast die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen wird. Außerdem führt sie die Verteidigung Zirngasts an, der eine Beziehung zu dieser Vereinigung leugnet. Um welche Vereinigung es sich handelt, wird nicht mitgeteilt. Nur, dass das Gericht Untersuchungshaft angeordnet hat.

Der Fall hat zu neuen Spannungen in den türkisch-österreichischen Beziehungen geführt. Bundeskanzler Kurz hatte die türkische Regierung aufgerufen, unverzüglich klare Beweise für die Anschuldigungen gegen den Österreicher vorzulegen.

Es wäre einfach – nicht nur im Hinblick auf inhaftierte Ausländer – das Vertrauen in die türkische Justiz zu heben. Die Anforderungen für die Verhängung von Untersuchungshaft sind im türkischen Recht klar formuliert. Eine Haftanordnung, die eine umfassende Begründung beinhaltet, würde manche Zweifel aus der Welt schaffen. Einer Person Mitgliedschaft in einer Terrororganisation vorzuwerfen, ohne diese zu benennen, ist nicht unbedingt eine gute Idee. Auch ist es keine gute Idee, die Gründe für die Vermutung der Zugehörigkeit nicht auszuführen. Zudem wäre eine Begründung, warum andere Rechtsmittel nicht ausreichen und Untersuchungshaft zwingend ist.

All diese Maßnahmen würden die gesellschaftliche Spaltung in der Türkei nicht von heute auf morgen überwinden. Aber sie würden manchen Fehler vermeidbar machen. Man denke an das Verfahren gegen die Menschenrechtler, die auf den Prinzeninseln verhaftet wurden und an die Folgen für die deutsch-türkischen Beziehungen. Oder an das Verfahren gegen Pastor Brownsen und die Folgen für die türkisch-amerikanischen Beziehungen.

Die zunehmenden Versuche, solche Fragen durch Kontrolle der Medien unter den Teppich zu kehren, schürt nicht nur bei der türkischen Öffentlichkeit Misstrauen. Sie haben auch dazu beigetragen, dass das Image der Türkei in den vergangenen Jahren sowohl in den USA als auch in vielen europäischen Staaten stark gelitten hat. Zwar ist dieser Imageverlust nicht allein für die krisenhafte Entwicklung der türkischen Wirtschaft verantwortlich. Doch er erhöht die Kosten enorm.