Istanbul Post

Der Diktatur-Vorwurf gegenüber der Türkei

Die Entscheidung des Hohen Wahlrates zur Wiederholung der Oberbürgermeisterwahl in Istanbul wird von vielen Kommentatoren als Aufgabe des demokratischen Systems und Übergang zur Diktatur bewertet. Doch auch wenn kein Zweifel an den diktatorischen Absichten der führenden Kreise bestehen sollte, schrecken diese vor einem offenen Übergang zu einem solchen System zurück. Man kann dies vielleicht als einen Rest von Realismus bewerten.

Unrecht im Richtergewand

Die Bedeutung der Istanbul-Entscheidung des Hohen Wahlrates liegt nicht zuletzt darin begründet, dass sie von elf obersten Richtern gefällt wurde. Nur Tage zuvor hatten sie denselben Sachverhalt entgegengesetzt entschieden. In einem Stadtbezirk in Bursa hatte die Iyi Partei die Wahl angefochten, weil dort zahlreiche Wahlurnen-Komitees nicht dem Gesetz entsprechend konstituiert worden waren. Der Hohe Wahlrat wies diesen Einspruch mit dem Hinweis zurück, dass ein solcher Antrag bis zum 2. März 2019 gestellt werden musste und danach die Wahlurnen-Komitees rechtskräftig seien. Und warum von dieser Entscheidung nur einer der vier Stimmzettel betroffen sein soll, die von den Wählern in einen Umschlag gesteckt wurden, dürfte niemandem plausibel zu erklären sein.

Zusammen mit der Entscheidung, dass durch Ausnahmezustandsverordnung entlassene frühere Beamte nicht wählbar seien, obgleich sie zur Wahl zugelassen wurden und diese gewonnen haben, hat das Wahlsystem schweren Schaden genommen.

Da es sich bei den Entscheidern um Richter handelt, steht es jedoch um das Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Justiz nicht besser.

Der Rubikon

Was also unterscheidet die Türkei noch von einer Diktatur? Die Gewaltenteilung wurde durch die Verfassungsänderung 2017 äußerst geschwächt. Alle Entscheidungskompetenz wurde auf den Staatspräsidenten konzentriert. Mit Terrorismusvorwürfen und "Beleidigung des Staatspräsidenten" wurde die Meinungsfreiheit äußerst eingeschränkt. Durch staatlichen Druck und Parteinahme wurden die Medien an befreundete Wirtschaftsgruppen überführt. Ähnlich sieht es mit Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften aus. Das Engagement in Nichtregierungsorganisationen – also was man gemeinhin "Zivilgesellschaft" nennt – war nie besonders stark. Doch auch hier zeigt das Bestreben, parteinahe Organisationen zu gründen und unter dem Label irgendeiner "Plattform" Regierungspolitik zu verbreiten, Wirkung.

Es fehlt nur noch, dass die Befürworter dieser Entwicklung dies auch beim Namen nennen.

Der wichtigste Grund, der sie davon abhält dürfte sein, dass dies auch von vielen ihrer Anhänger nicht mit getragen würde. Trotz Putschen und Menschenrechtsverletzungen hat die Türkische Republik nie ihren Bezug zur Demokratie verloren. Auch Politiker wie Staatspräsident Erdoğan wissen, dass in dem Moment, in dem das Volk sieht "der König hat keine Kleider an" sein politisches Dasein beendet ist.

Bisher ist es ihm gelungen, rund die Hälfte der Wählerschaft auf die eine oder andere Weise zu seiner Unterstützung zu gewinnen. Doch er nähert sich der Grenze oder hat sie bereits überschritten. Folgt man den Berichten über die Beratungen im Vorstand des AKP-Provinzvorstands Istanbul, so wird als ein wichtiger Faktor für die kommende Wahl angesehen, dass der Gegenkandidat İmamoğlu in der öffentlichen Meinung nicht als "Opfer" wahrgenommen werden dürfe. Genau dies zu verhindern, dürfte ihnen schwerfallen.

Die kommende Istanbul-Wahl ist eigentlich nur ein Ausschnitt aus der Kommunalwahl. Doch sie wird nationale Auswirkungen haben, weil sie die Legitimität des neuen Systems und seiner Verkörperung in der Person von Recep Tayyip Erdoğan in Frage stellt.