Istanbul Post

Alles rechtens? Die Absetzung der HDP-Bürgermeister

Am 19. August 2019 wurden die Bürgermeister der Großstadtverwaltungen von Diyarbakır, Van und Mardin abgesetzt und an ihrer Stelle die Provinzgouverneure ernannt. Parallel dazu fanden groß angelegte Festnahmeaktionen statt. Außerdem wurde in mehreren Provinzen eine große Aktion gegen die PKK eingeleitet. Die HDP reagierte mit der Ankündigung ununterbrochener Aktionen im ganzen Land. Die CHP kritisierte die Maßnahme als Putsch. 30 Anwaltskammern kritisierten die Maßnahme, darunter auch solche aus der Mittelmeerregion, Thrakien und der Ägäis. Die EU äußerte ihre Besorgnis.

Die Maßnahme hat eine politische und eine rechtliche Dimension. Die rechtliche Dimension hat Gökçer Tahincioğlu in einem Beitrag für das Nachrichtenportal T24 ausgeführt. Die Funktion der kommunalen Verwaltungen wird in Artikel 127 der türkischen Verfassung niedergelegt. Eine weitere entscheidende Rechtsquelle ist das Kommunalgesetz. Die Vollmacht für die aktuelle Maßnahme wiederum wurde durch eine Ausnahmezustandsverordnung erteilt, die durch parlamentarische Bestätigung zum Gesetz wurde. Demzufolge können Bürgermeister und andere gewählte kommunale Funktionsträger abgesetzt werden, wenn gegen sie eine Terrorismusermittlung oder Ermittlungen wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung eingeleitet wurde. Dies ist, wie die Presseerklärung des Innenministeriums ausführt, in allen drei Fällen der Fall. Die Bestimmung des Vertreters des abgesetzten Bürgermeisters erfolgt in diesen Fällen nicht durch den Stadtrat, sondern entweder durch das Innenministerium oder den Provinzgouverneur. Ein weiteres Detail ist, dass in Städten, deren Bürgermeister abgesetzt wurde, auch der Stadtrat seine Rechte verliert. Er kann nur auf Einladung des ernannten Vertretungsbürgermeisters zusammentreten. Auch alle Ausschüsse verlieren ihr Mandat. Die kommunale Selbstverwaltung hat also aufgehört zu existieren.

Ein weiterer rechtlicher Aspekt, auf den Tahincioğlu nicht eingeht, ist das Ko-Bürgermeistersystem der HDP, das vom Innenministerium in der Presseerklärung als weiteren Grund für die Absetzung heranzieht. Ihm fehlt die rechtliche Verankerung im Kommunalgesetz. Gleichwohl ist es eine jahrelange Praxis, zu der es bisher meines Wissens nach keine rechtlichen Probleme gegeben hat. Da die HDP dieses Prinzip in allen von ihr geführten Kommunen angewendet hat, könnte mit dieser Begründung auch die Absetzung aller anderen Kommunalführungen folgen.

Dass die Absetzung der drei Bürgermeister dem Wortlaut von Gesetzen entspricht, muss jedoch nicht heißen, dass sie nicht mit anderen Rechtsvorschriften kollidiert. So sieht die türkische Verfassung vor, dass jeder solange als unschuldig gilt, bis er rechtskräftig verurteilt wird. Wenn die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens ausreicht, um nachteilige Konsequenzen für eine Person zu haben, wird dieser Grundsatz verletzt. Dabei ist nicht  einmal die Anführung "besonderer Umstände" erforderlich. Hinzu kommt das Paradox, dass viele Ermittlungen und Verfahren gegen die drei Bürgermeister aus der  Zeit vor ihrer Wahl stammen. Da sie zur Wahl zugelassen wurden, bestand also kein Hindernis an ihrer Teilnahme an der Kommunalwahl. Dies bedeutet, dass sie zwar gewählt werden konnten, dann aber per Beschluss des Innenministers jederzeit abgesetzt werden können.

Kein Friedensprozess

Die politische Dimension ist weitaus komplizierter. Der Schritt erfolgte viereinhalb Monate nach der Kommunalwahl. Die Ferien nach dem Opferfest sind gerade vorbei. Eigentlich startet die neue Politiksaison im September. Nun wurde der Start etwas vorgezogen.

Vor und während der Feiertage erhielt der inhaftierte Führer der PKK Abdullah Öcalan sowohl Besuch von seinen Anwälten als auch von Familienmitgliedern. Dies wurde als ein mögliches Anzeichen bewertet, dass hinter den Kulissen Verhandlungen mit der PKK im Gang sein könnten. Öcalan hatte durch seine Anwälte erklärt, dass er das Blutvergießen innerhalb einer Woche beenden könnte. Es wurde spekuliert, dass die PKK im September das Ende des bewaffneten Kampfes verkünden könnte. Die Absetzung der HDP-Bürgermeister dürfte solchen Überlegungen wohl ein Ende bereitet haben. Zudem ist damit zu rechnen, dass weitere Absetzungen erfolgen.

Auf der anderen Seite dürfte es der Regierung schwerfallen, die Ankündigung von Staatspräsident Erdoğan, "die Kette der Siege im August auch in diesem Jahr fortzusetzen" schwer zu verwirklichen sein. Erdoğan hatte diese Aussage im Hinblick auf eine weitere Intervention in Nord-Syrien gegen die PYD/YPG gemacht. Nun hatte es kurz vor dem Opferfest eine recht vage Einigung auf ein gemeinsames Vorgehen mit den USA gegeben. Sollte diese nicht kurzfristig abgesagt werden, wird es keine Militäroperation geben. Der für die angeschlagene Moral nach der Wahlniederlage in Istanbul vorteilhafte Sieg fällt also aus. Es ist möglich, dass die AKP aus diesem Grund den Druck auf die Opposition verstärken möchte.

Ein anderer Aspekt ist, dass die Erfahrungen mit den vorherigen eingesetzten Ersatzbürgermeistern politisch in keiner Weise aufgearbeitet sind. Es werden schwere Vorwürfe erhoben: diese Ersatzbürgermeister haben gegen die Interessen der Städte, denen sie dienen sollten, hohe Schulden hinterlassen, fragwürdige Ausgaben getätigt und kurz vor der Kommunalwahl kommunale Immobilien an andere Institutionen abgetreten. Fahrzeuge, die von der Kommune beschafft wurden, finden sich beim Landratsamt usw. Wer so handelt, kann wohl kaum als "Treuhänder" bezeichnet werden.

Wohl auch keine EU-Politik

Der jüngste Schritt dürfte jedoch auch andere Projekte betreffen. Die Regierung hat angekündigt, mit dem Beginn des neuen Gesetzgebungsjahrs alle noch ausstehenden Kriterien für die Zulassung der Visumsfreiheit im Schengen-Raum zu erfüllen. Als wichtigster Stolperstein wird dabei die von der EU geforderte Änderung des Antiterror-Gesetzes sein. Dies wurde nun erneut eingesetzt. Dabei findet sich unter den vom Innenministerium angeführten Ermittlungen und Gerichtsverfahren kein Vorwurf der "Mitgliedschaft" oder "Beteiligung". Bei den meisten handelt es sich um "Propaganda-Vorwürfe" oder "Unterstützung". Genau diese Tatbestände will die EU eingeschränkt sehen.

Der Beschluss für eine "harte Linie" ist zugleich eine Bestätigung des Bündnisses von AKP und MHP. Vielmehr kann man sagen, dass die parteipolitischen Linien zwischen beiden Parteien verschwimmen und die AKP auf eine MHP-Linie geglitten ist. Die Hoffnungen der liberalen oder doch wenigstens demokratischen Kreise in der AKP, dass es zu einer Revision dieser Politik kommen könnte, dürften sich nun erledigt haben. Dies erfolgt zudem im Vorfeld von Parteigründungsprojekten früherer AKP-Spitzenpolitiker.

Das harte Vorgehen gegen die HDP-Kommunalpolitiker legt den Gedanken nahe, dass mit den Abtrünnigen aus den eigenen Reihen nicht behutsamer verfahren wird. Bisher hat Erdoğan nur von Verrat gesprochen, doch einzelne seiner Anhänger haben bereits mit Drohungen wie Korruptionsvorwürfen und Beziehungen zur Gülen Gemeinschaft  reagiert. Der Schritt von solchen Drohungen zur Einleitung von Ermittlungen kann kürzer sein, als man denkt.  Doch dies ist einstweilen Spekulation.

Wie weit werden sie gehen?

Eine andere Spekulation bzw. Befürchtung ist, dass die AKP auch mit anderen Städten, die nicht von der HDP geführt werden, ähnlich verfahren könnte. Beispielsweise mit Ankara und Istanbul. Nun sind gegen die beiden Oberbürgermeister dieser Städte bisher keine Terrorismusvorwürfe erhoben worden. Doch dies muss nicht bedeuten, dass dies nicht folgt. İmamoğlu beispielsweise hat die Absetzung scharf kritisiert. Ob dies nicht ausreicht, um gegen ihn eine Ermittlung wegen Terrorpropaganda einzuleiten. Man muss nur einen Staatsanwalt finden, der dazu bereit ist. Und schon könnte man ihn genauso absetzen, wie die drei HDP-Bürgermeister.

Eine von vielen Kritikern angesprochene Ironie liegt auch darin, dass die AKP in ihrer 18jährigen Geschichte immer mit dem Slogan angetreten ist, sie werde "die Bevormundung der Gewählten durch die Ernannten" aufheben. Nun werden die Gewählten abgesetzt und die Ernannten führen. In der Wirtschaftspolitik hat sich die AKP von ihrem neoliberalen Grundkonzept abgewendet und setzt auf zunehmende staatliche Eingriffe. Dass sie mit einer nationalistisch-islamistischen Sicherheitspolitik keine Wahlen gewinnen kann, hat das Ergebnis der Kommunalwahl und der wiederholten Istanbul-Wahl gezeigt.