Istanbul Post

Die

Die Woche vom 20. bis zum 27. Dezember 2019

Beschauliche Stimmung hat sich zum Jahreswechsel nicht eingestellt. Von Korruptionsvorwürfen gegen die neue Stadtführung von Ankara bis zur Entsendung türkischer Soldaten nach Libyen reichen die kontroversen Themen. Angereichert werden sie noch um die Umweltverträglichkeitsprüfung für den Kanal Istanbul, zu dem sich Staatspräsident und Oberbürgermeister Rededuelle liefern.

Korruptionsvorwürfe gegen den Oberbürgermeister von Ankara

Der frühere CHP-Abgeordnete Sinan Aygün wirft der Führung der Großstadtverwaltung Ankara vor, von ihm 25 Mio. TL Bestechung gefordert zu haben. Hintergrund ist ein Hochhausprojekt. Durch eine Änderung des Bebauungsplanes, die noch während der Amtszeit des AKP-Oberbürgermeisters Gökçek erfolgte, war die Geschosszahl stark erhöht worden. Dagegen hatte die Architektenkammer geklagt und in erster Instanz gewonnen. Kurz vor Ablauf der Berufungsfrist trafen sich Aygün als Inhaber des Bauprojekts mit mehreren Mitgliedern der CHP-Fraktion im Stadtrat Ankaras. Aygün zufolge sollen die Stadträte gefordert haben, gegen die Zahlung von 25 Mio. TL gegen das Urteil in Berufung zu gehen. Aygün habe sich geweigert. Der amtierende Oberbürgermeister Yavaş wiederum hatte zuvor eine Berufung ausgeschlossen. Gleichwohl wurde am letzten Tag der Berufungsfrist ein Antrag der Großstadtverwaltung gestellt, dann aber eine halbe Stunde später zurückgezogen. Das Innenministerium und die Staatsanwaltschaft untersuchen nun die Korruptionsvorwürfe. In der Zwischenzeit hat Oberbürgermeister Yavaş Strafanzeige gegen Aygün gestellt. Er wirft diesem vor, gesuchte Gülen Anhänger zu seinen Partnern zu zählen und der Gülen Gemeinschaft finanzielle Vorteile verschafft zu haben.

In einem Beitrag für die Tageszeitung Hürriyet verweist Nedim Şener auf einige zurückliegende Ereignisse. Ihm zufolge war es Aygün, der 2014 an Yavaş herantrat, um ihn für eine Kandidatur für die CHP zu gewinnen. Denn von seinen politischen Wurzeln her, stammt Yavaş aus der MHP. Yavaş habe dieses Ansinnen zunächst empört zurückgewiesen, sich dann aber von Ayhan Atalay, Hüseyin Saruhan und Rahmi Bıyık überzeugen lassen. Alle drei werden im Zuge der Gülen Ermittlungen gesucht. /

Die Angelegenheit wirkt so, als ob in nächster Zeit noch viel schmutzige Wäsche gewaschen wird. Oberbürgermeister Yavaş hat ein Dossier über die Grundstückstransaktionen in Ankara während der AKP-Stadtführung angekündigt.

Ein neuer Akt im blutigen Drama um Idlib

Am 20. Dezember 2019 begannen die syrischen Regierungstruppen eine neue Offensive im Südosten der Provinz Idlib. Vorausgegangen war ein wochenlanges Bombardement, das tausende von Zivilisten obdachlos machte. Die Offensive erzielte bedeutende Geländegewinne und nähert die Stellungen der Regierungstruppen der M5-Autobahn an. Ein weiterer türkischer Beobachtungsposten blieb hinter der Frontlinie und ist nun eingeschlossen.

Die Entwicklung hat dazu geführt, dass verschiedenen Angaben zufolge 25.000-50.000 Syrer zur türkisch-syrischen Grenze geflohen sind. Die Aufnahmezahlen in die Türkei, die im November auf ein Niveau von 200-300 Personen zurückgegangen waren, sind jetzt auf ein Niveau über 700 Personen pro Tag angestiegen. Populär ist dies in der Türkei nicht. Denn mit knapp vier Millionen Syrern und dem Nachhall der Wirtschaftskrise ist die Akzeptanz für die Syrer in der türkischen Bevölkerung deutlich gesunken.

Es wirkt im Moment nicht so, als ob die syrischen Regierungstruppen die Eroberung der gesamten Provinz Idlib planten. Vermutlich handelt es sich wie bereits im August um eine beschränkte Operation, um die Kontrolle über die M5-Autobahn zu erreichen. Aus Sorge um eine neue große internationale Fluchtwelle wird die internationale Gemeinschaft Druck ausüben und auf eine schnelle Deeskalation drängen. In diesem Prozess werden Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien geführt und Kompromisse geschlossen. Die eigentliche Frage, wie die Zukunft der Provinz Idlib aussehen soll bzw. der Prozess zur friedlichen Lösung des Bürgerkriegs wird davon nicht berührt.

Unausgesprochenes

Nach dem Abkommen über die Seegrenze zwischen der Türkei und Libyen und einem Abkommen über Sicherheitszusammenarbeit wird vermutet, dass im Januar das türkische Parlament der Regierung eine Vollmacht erteilt, Truppen nach Libyen zu entsenden. Die türkische Regierung und türkische Medien werden dabei nicht müde zu erklären, dass die Zusammenarbeit mit der international anerkannten Regierung Libyens erfolgt.

Nur einen Monat zuvor machten Berichte in den internationalen Medien die Runde, dass ein UN-Expertengremium einen Bericht über illegale Waffenlieferungen für den Sicherheitsrat vorbereitet hat. In dem Bericht sollen die Türkei, die Vereinigten Emirate und der Libanon offen beschuldigt werden, das UN-Waffenembargo gegen Libyen zu brechen.

Es brauch eigentlich – zumindest im Hinblick auf die Vorwürfe gegen die Türkei – keinen Expertenbericht mehr. Denn Staatspräsident Erdoğan erklärte in mehreren öffentlichen Reden, dass er die militärische Unterstützung der libyschen Regierung ausbauen wolle. Die Entsendung türkischer Truppen wiederum dürfte ebenfalls kaum mit dem Waffenembargo vereinbar sein.

Osman Kavala bleibt in Haft

Vor zwei Wochen hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Türkei wegen der Inhaftierung von Osman Kavala verurteilt. Es war ein ausgesprochen deutliches Urteil, denn es beruht auf dem Vorwurf, die Strafverfolgung gegen Kavala sei politisch motiviert. Zugleich kam der Gerichtshof zu dem Schluss, dass der Anklageschrift im Gezi Park Verfahren, auf das sich die nunmehr dreijährige Untersuchungshaft von Kavala stützt, eine auf Beweise gestützte rechtliche Grundlage fehlt.

Am 24. Dezember 2019 wurde das Gezi Park Verfahren fortgesetzt. Die Untersuchungshaft von Kavala wurde verlängert. Noch ist es kein offener Bruch der Verpflichtung der Türkei, die sich verpflichtet hat, die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte anzuerkennen. Denn es ist noch ein Einspruch möglich. Doch das Warten auf eine Bestätigung des Urteils dürfte dem Ansehen der türkischen Justiz nur weiteren Schaden zufügen.

Eine weitere interessante Entwicklung des Prozesstages am 24. Dezember war die Zulassung des früheren Polizisten Mevlüt Saldoğan als Nebenkläger. Saldoğan wurde zu einer Freiheitsstrafe von 10 Jahren und 10 Monaten verurteilt, weil er bei den Gezi Park Protesten Ismail Korkmaz in Eskişehir erschlagen hatte. Seinen Antrag auf Nebenklage stützt er auf die Behauptung, er habe nur seine Pflicht als Polizeibeamter getan und durch die Proteste sei seine Polizeikarriere zerstört worden. Die Zulassung dieses Antrages durch das Gericht dürfte beträchtliches Erstaunen hervorrufen. Denn einen Menschen zu erschlagen, gehört nicht zu den Aufgaben eines Polizeibeamten.

Die Vergeblichkeit der Justizreform

Glücklich wirkte Justizminister Abdülhamid Gül nicht, als er auf das Kavala-Urteil angesprochen wurde. Er begnügte sich damit, dass kurz vor dem Urteil das Justizministerium eine türkische Übersetzung des Urteils des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes an das zuständige Gericht geschickt habe. Es stehe ihm nicht zu, sich in ein Rechtsverfahren einzumischen. Im Hinblick auf die im Oktober verabschiedete Justizreform sprach er von einem Prozess, was wohl bedeuten soll, dass man abwarten müsse, um die Früchte zu sehen.

Das am 27. Dezember 2019 ergangene Urteil gegen journalistische Mitarbeiter der oppositionellen Tageszeitung Sözcü erweckt den Eindruck, dass sich ein solches Warten zu einem Warten auf Godot entwickeln könnte. Neben dem Redaktionsleiter Metin Yılmaz wurden auch ausgewiesen laizistisch-republikanische Kolumnisten wie Emin Çölaşan wegen „Unterstützung einer Terrororganisation ohne Mitglied zu sein“ zu Haftstrafen von mehr als 3 Jahren verurteilt. Gerade dieser Tatbestand war durch das erste Gesetz zur Justizreform konkretisiert worden. Warum es sich bei den Aktivitäten der nun Verurteilten um Terrorismuspropaganda und nicht journalistische Tätigkeit oder Meinungsäußerungen handelt, wird das Gericht nun in seiner Urteilsbegründung kundtun. Oder wir werden nur einen weiteren juristischen Beitrag zum Thema finden, welche Gesinnung zulässig ist und welche hinter Gitter muss.

Wikipedia bald wieder frei erreichbar?

Das türkische Verfassungsgericht urteilte am 26. Dezember 2019, dass die vollständige Blockade von Wikipedia verfassungswidrig sei. Die Blockade stützt sich auf den Vorwurf, dass in zwei Beiträgen der Internet-Enzyklopädie der Türkei „Staatsterrorismus“ vorgeworfen werde und dies das internationale Ansehen des Landes schädige. Es handelt sich bei beiden Beiträgen um Themen, bei denen die Rolle der Türkei im syrischen Bürgerkrieg problematisiert wird.

Dass ein nationales Verbot von Wikipedia kaum etwas am internationalen Ansehensverlust ändern wird, muss allen Beteiligten klar gewesen sein. Auch, dass allein ein schlagzeilenträchtiges Verbot von Wikipedia einen weit größeren internationalen Gesichtsverlust nach sich zieht, kann wohl nicht unerwartet gewesen sein.

Bleiben noch die möglichen Rückzugsgefechte der türkischen Justiz. Man sollte davon ausgehen, dass die Sperrung von Wikipedia unverzüglich aufgehoben wird. Am 27. Dezember vormittags war sie jedoch noch in Kraft. Und es ist durch aus möglich, dass neue Sperrverfügungen erlassen werden, die dieses Mal nur kritische Beiträge betreffen.

Einheit und Regierungsfähigkeit

Die Tageszeitung Cumhuriyet meldet, dass bei 400 Kreiskongressen der CHP in 244 nur ein einziger Kandidat für den Vorsitz auftritt. Sie verbindet diese Meldung mit der Einschätzung, dass dies zeige, dass die Parteistrukturen der CHP unter Beweis stellten, dass sie regierungsfähig sind.

Wie muss man sich das vorstellen? Damit es nur zu einem Kandidaten kommt, müssen vor dem Kreiskongress Abstimmungen stattgefunden haben. Zumindest wird man wohl festgestellt haben, welcher Kandidat durch die Provinzleitung unterstützt oder als nicht tragbar betrachtet wird. Und spätestens auf dem Parteitag wurden dann wohl noch verbliebene Gegenkandidaten überzeugt. Dies alles geschieht abseits der Rednertribüne und belastet die Delegierten nicht mit unnützer Entscheidung zu Politik und Personen. Wahrlich regierungsfähig. Nur wirkt die beständige Forderung nach Transparenz in diesem Zusammenhang unglücklich.

Die Steuer auf wertvolle Immobilien

Mit dem Versand der ersten Steuerbescheide für Wohnungen mit einem Wert von mehr als 5 Mio. TL regt sich wachsender Unmut gegen die neue Steuer, die sich auf mehr als 100.000 TL pro Jahr belaufen kann. Ein wesentlicher Einwand ist, dass sich die Steuer nicht am Ertrag einer Immobilie, sondern an ihrem Wert orientiert. So wie die Wertfeststellung umstritten ist, so problematisch ist auch, dass nicht jeder Eigentümer einer wertvollen Immobilie auch über ein hohes Einkommen verfügen muss. Hinzu kommt, dass die Bemessungsgrenze von 5 Mio. TL in Großstädten wie Istanbul schnell erreicht wird. Nun wird gemeldet, dass Staatspräsident Erdoğan darüber nachdenkt, ob die Erhebung der Steuer nicht für ein Jahr verschoben werden sollte, um Ungereimtheiten zu beseitigen. Auf der anderen Seite ist jedoch auch klar, dass die Haushaltsziele der Regierung nur über neue Steuern oder eine deutliche Erhöhung der Steuersätze zu erreichen sind. Eine Beeinträchtigung des Wirtschaftsklimas scheint vor diesem Hintergrund kaum vermeidbar. Steigende Steuern mindern das verfügbare Einkommen und damit die Nachfrage. Ein steigendes Haushaltsdefizit wiederum macht die Türkei krisenanfälliger.

Ein Mindestlohn von 2.374 TL

Zur Jahreswende steigt der Mindestlohn von bisher 2.020 TL auf 2.324 TL. Zugleich bleibt der staatliche Arbeitgeberzuschuss bei 75 TL/Beschäftigten. Mit 15 Prozent bleibt der Anstieg deutlich über der für 2019 erwarteten Inflation. Und dieser Anstieg wurde erzielt, obgleich im Wirtschaftsprogramm angekündigt wurde, Gehaltssteigerungen nicht gemäß der aktuellen Inflation, sondern der zu erwartenden vorgenommen werden sollen.

Die Bewertung dieser Entscheidung ist kompliziert. Sie wurde in einem 3er-Mechanismus zwischen Arbeitgebern, Gewerkschaften und dem Ministerium für Arbeit und Soziales getroffen. Wie bei einer Zwangsschlichtung ist letztlich das Statement der Regierung ausschlaggebend.

Die Gewerkschaften hatten zuvor erklärt, dass ein Mindestlohn unter 2.500 TL nicht hinnehmbar sei. Dementsprechend setzte der Vertreter der Gewerkschaftskonföderation Türk İş seinen Widerspruch unter die Entscheidung. Die Gewerkschaft verweist dabei darauf, dass ein Mindestlohn nicht ausreiche, um eine Familie zu ernähren. Tatsächlich reichen zwei Mindestlöhne nicht aus, um eine vierköpfige Familie über der Armutsgrenze zu halten.

Die Arbeitgeberseite wiederum verweist auf die jüngsten wirtschaftlichen Probleme und warnt, dass eine übermäßige Erhöhung des Mindestlohnes zur Erhöhung der Arbeitslosigkeit beitragen werde.

Betriebswirtschaftlich lässt sich das Dilemma vermutlich auf eine einfache Formel bringen: Mehr Beschäftigung auf niedrigem Lohnniveau. Durch das niedrige Lohnniveau sollen zudem gestiegene Kosten anderer Produktionsfaktoren – vor allem Finanzierungskosten – kompensiert werden. Die Logik des Systems ist gnadenlos: Da Finanzierungskosten nicht einfach gesenkt und die Gehälter einer Creme-Schicht gesichert werden müssen, können nur niedrige Mindestlöhne gezahlt werden. Doch auch ohne in den Verdacht „linker Träumereien“ zu verfallen, hält die Betriebswirtschaft auch eine andere Lösung für das anscheinende Dilemma parat.

Natürlich ist es für ein privatwirtschaftliches Unternehmen nur insoweit rational, Personen zu beschäftigen, wie daraus ein Mehrwert entsteht. Statt jedoch die Löhne zu senken wäre dieser Ansatz, die Produktivität zu erhöhen. Dazu bedarf es nicht unbedingt „Industrie 4.0“ oder das neueste Produktionsequipment. Häufig lassen sich durch effizientere Organisation große Gewinne erzielen. Voraussetzung ist meist, eine Identifikation der Beschäftigten mit dem eigenen Unternehmen zu erreichen. Die türkischen Großholdings gehen diesen Weg und auch einige Mittelständler.

Doch für einen Großteil der Arbeitsplätze insbesondere in Industrie und Dienstleistungen gilt, dass der Mindestlohn zum Regellohn geworden ist. Eine Differenzierung nach Qualifikation oder nach Wertsc höpfung erfolgt kaum noch.