Istanbul Post

Die

Die Woche vom 12. bis zum 19. Juni 2020

Die schnelle Lockerung vor Vorkehrungen gegen die Ausbreitung des Corona Virus hat zu einem deutlichen Anstieg der Neuinfektionen geführt. Nachdem Anfang Juni die Zahl der Neuinfektionen pro Tag auf unter 800 zurückgegangen war, stieg sie zu Wochenbeginn auf über 1.500 und sank am Freitag auf einen Wert um 1.200. Während nach Angaben des Gesundheitsministers die Infektionen in Istanbul und Ankara zurückgehen, melden einige anatolische Provinzen hohe Anstiege.

Freiheit für Selahattin Demirtaş?

Er ist wohl der prominenteste politische Gefangene in der Türkei. Der frühere HDP-Co-Vorsitzende und Präsidentschaftskandidat wurde im November 2016 mit Vorwürfen wie „Mitgliedschaft i n einer terroristischen Vereinigung“, „Bildung einer kriminellen Organisation“ und „Begehung einer Straftat im Namen einer (kriminellen) Organisation“ inhaftiert und sitzt seitdem im Gefängnis. Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, der nicht nur die Dauer der Untersuchungshaft beanstandete, sondern die Inhaftierung als politisch motiviert bewertete, hätte Demirtaş auch nach türkischem Recht freigelassen werden müssen. Doch wurde er schnell in einem anderen Verfahren zu einer Haftstrafe verurteilt und damit eine neue Rechtfertigung für die Haft geschaffen. Nun urteilte das türkische Verfassungsgericht, dass die Inhaftierung im ersten Verfahren rechtswidrig war und erkannte ihm eine Entschädigung in Höhe von 50.000 TL zu.

Auch wenn der Anwalt von Demirtaş nun die unverzügliche Freilassung fordert, weist Gökçer Tahincioğlu in einem Kommentar für die Nachrichtenplattform T24 darauf hin, dass das Verfassungsgericht die Verurteilung, die gegenwärtig den Haftgrund darstellt, nicht aufgegriffen hat, sondern ankündigte, dies zum Gegenstand eines späteren Urteils zu machen. Angesichts des enormen Widerstands, den die türkische Justiz gegen die Freilassung von Demirtaş zeigt, erscheint darum eine Freilassung eher unwahrscheinlich.

Der Marsch für Freiheit und Gerechtigkeit der HDP

Zunächst sah es so aus, als wolle die Regierung den Protestmarsch von Edirne und Hakkari nach Ankara, den die HDP nach dem Mandatsentzug von zweier ihrer Abgeordneten beschlossen hatte, verhindern. In vielen Großstädten wurden Demonstrationsverbote verhängt, in Adana durch Straßensperren versucht, die Teilnahme zu behindern. Doch der eine Strang des Marsches erreichte ohne größere Zwischenfälle am vierten Tag Istanbul. Im Vorfeld hatte der CHP-Vorsitzende Kılıçdaroğlu erklärt, es sei nicht die Zeit für einen neuen Marsch für Gerechtigkeit. Die DEVA-Partei von Ali Babacan erklärte die Versuche, den Marsch zu behindern, als undemokratisch. Doch folgt man den Redebeiträgen bei der Kundgebung im Abasağa Park in Istanbul-Beşiktaş, so waren es vor allem kleinere Linksparteien, die die Aktion offen unterstützten.

Auf der anderen Seite berichtete der HDP-Vizefraktionsvorsitzende Danış Beştaş, dass der Marsch in Bismil (Diyarbakır) angegriffen worden sei, machte jedoch keine detaillierten Angaben.

Auch die Anwaltskammern marschieren nach Ankara

Es wird davon ausgegangen, dass das Regierungsbündnis noch vor der parlamentarischen Sommerpause eine Änderung des Gesetzes über die Berufskammern verabschieden will. Im Gespräch ist dabei die Zulassung von mehreren Anwaltskammern in einer Provinz sowie eine Änderung des Wahlrechts. Auslöser war eine Stellungnahme der Anwaltskammer Ankara zu einer Äußerung des Präsidenten des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten, der Homosexualität für die Corona Seuche verantwortlich gemacht hatte. Diese Kritik wurde von Staatspräsident Erdoğan als religionsfeindlich bewertet und darum erteilte er Anweisung an seine Partei, eine Neuordnung der Berufskammern – die der Regierung schon lange ein Dorn im Auge sind – vorzubereiten.

Am 19. Juni 2020 brach nun der Vorstand der Anwaltskammer Istanbul – der größten des Landes – zu einem Protestmarsch nach Ankara auf. Weitere Anwaltskammern schlossen sich an und beginnen ebenfalls einen Marsch von ihrer Provinz zur Hauptstadt.

Ein neuer Anlauf zur Änderung der Abfindungsbestimmung

Seit Jahren bemühen sich die AKP Regierungen, die bestehende Abfindungsregelung für abhängig Beschäftigte im Falle einer Kündigung zu ändern. Unterstützt werden sie dabei von internationalen Organisationen wie der Weltbank, die im bestehenden System eine Behinderung für Beschäftigung sehen. Gedacht wurde dabei stets an einen Fond, der ähnlich der privaten Altersvorsorge durch Beiträge von Arbeitgebern und Beschäftigten sowie einem staatlichen Zuschuss gespeist werden soll.

Dass diese Pläne nicht verwirklicht wurden, liegt zum einen an einem ungewohnt einhelligen Widerstand der Gewerkschaften. Aber auch die Arbeitgeberseite zeigt sich unwillig. Während die Gewerkschaften vor allem den Verlust bereits erworbener Rechte befürchten sehen die Arbeitgeberverbände vor allem die neuen Kosten auf sich zukommen. Bisher verblieb das Geld für die Abfindungen als Kapitalrückstellung im Unternehmen. Würde es nun an einen Fond überführt, bedeutete dies für einen bedeutenden Teil der türkischen Unternehmen einen Kapitalverlust.

Hinzu kommt, dass die Erfahrungen mit öffentlichen Fonds in der Türkei nicht unbedingt ermutigend sind. Betrachtet man den Arbeitslosenfond, so konnte er die Kurzarbeitergeld-Zahlungen im Zuge der Minderung der Folgen der Pandemie nur leisten, weil die Zentralbank dem Arbeitslosen-Fond im großen Stil Staatsanleihen abkaufte. Denn die Gelder des Fonds wurden überwiegend nicht als Arbeitslosengeld oder Beschäftigungsförderung verwendet, sondern zum Kauf von Staatsanleihen. Betrachtet man die aktuelle Konstellation, in der der Staat eine Änderung des Systems verlang, die Sozialpartner jedoch aus unterschiedlichen Gründen dagegen sind, liegt der Gedanke nahe, dass auch dieser Fond eine neue Säule in der Haushaltsfinanzierung werden könnte.

Hinzu kommt, dass den verschiedenen Gerüchten über das neue Modell zufolge eine Abfindung bei einer Kündigung wegfallen wird. Es handelt sich um eine Erweiterung der privaten Altersvorsorge. Jenseits der materiellen Einbuße im Kündigungsfall würde eine Änderung zugleich auch eine Lockerung des Kündigungsschutzes für langjährige Beschäftigte bei einem Unternehmen bedeuten. Denn die bestehende Abfindungsbestimmung macht es ausgesprochen teuer langjährige und damit ältere Beschäftigte zu kündigen.

Subventionierte Kredite

Seit der Abwertungskrise der TL im Herbst 2018 setzt die Regierung auf vergünstigte Kreditprogramme, die durch staatliche Banken bereitgestellt werden. Ziel ist es insbesondere in Krisensektoren wie beim Bau die Nachfrage zu steigern. Vergünstigte Kredite stellen auch das wichtigste Element der Pakete dar, mit denen die Regierung die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie mindern möchte.

Doch diese Verfahrensweise hat ihren Preis. Der Wirtschaftswissenschaftler Oğuz Demir gibt an, dass bis Mai seit Jahresbeginn mehr als 4 Mrd. TL Verlust bei den staatlichen Banken aufgelaufen sind. Seinen Berechnungen zufolge beläuft sich der Verlust bei einem Kredit von 100 TL auf 4-5 TL. Da ein bedeutender Teil dieser Kredite für Wohnungskäufe vergeben wurde, stellt er die Frage, ob er nun – wie alle Steuerzahler – die Wohnungskaufsraten seines Nachbarn mit bezahlt.

Verarmung

Der Blick auf das volkswirtschaftliche Volumen auf Dollar-Basis, wie er vom Türkischen Statistikinstitut veröffentlicht wird, mag irreführend sein. Denn ebenso wie die Türkische Lira nach der Jahrtausendwende zunächst eine beträchtliche Aufwertung erfuhr und damit das Bruttoinlandsprodukt auf Dollar-Basis einen phänomenalen Anstieg zeigte, ist es seit der TL-Abwertung im Herbst 2018 dramatisch gesunken. Eine Bewertung nach Kaufkraftparitäten, wie sie vom europäischen Statistikbüro Eurostat veröffentlicht wird, vermittelt da ein präziseres Bild.

Der jüngst veröffentlichten Statistik zufolge liegt die Türkei unter 37 einbezogenen europäischen Ländern auf Rang 30. In den letzten drei Jahren ist der Indexwert kontinuierlich gesunken und liegt jetzt auf einem Niveau von 61 Punkten (100 entspricht dem europäischen Durchschnitt). Auf der anderen Seite erweist sich die Türkei für jene, die über Devisen verfügen, als ausgesprochen preisgünstig: denn für Waren im Wert von 100 Euro müssen in der Türkei nur 40 Euro aufgewendet werden.

Eine Warnung des IIF

Das Internationale Finanzinstitut (IIF) hat einen Bericht über die türkische Volkswirtschaft unter den Vorzeichen der Pandemie herausgegeben. Im Zentrum steht dabei, dass die türkische Wirtschaft im Vergleich zu anderen Schwellenländern im ersten Quartal 2020 zwar eine überdurchschnittliche Wachstumsperformanz gezeigt hat, dass diese jedoch direkt auf eine extreme Ausweitung der Kredite zurückgeht. Der schnelle Anstieg des Kreditvolumens wurde begleitet von einem hohen Verlust bei den Zentralbankreserven und einem Wertverfall der türkischen Lira. Das IIF warnt nun, dass die Wirtschaftspolitik vor einer Entscheidung stehe: entweder werde die Politik schnellen Wachstums fortgesetzt und damit ein weiterer Wertverfall der Türkischen Lira in Kauf genommen oder aber die Kreditpolitik geändert und ein geringeres Wachstum in Kauf genommen.

Tatsächlich zeigt sich im Moment ein weiteres, damit verbundenes Problem. Die Veröffentlichung der Zahlungsbilanz in der vergangenen Woche hat deutlich gemacht, dass bei einem starken Rückgang der Deviseneinnahmen wegen des Rückgangs bei Export und Tourismus zugleich ein starker Abfluss von internationalen Finanzmarktinvestitionen erfolgt. Das Devisendefizit wurde mit den Reserven der Zentralbank finanziert. Dabei weisen Wirtschaftswissenschaftler darauf hin, dass bereits im April die Netto-Reserven der Zentralbank im negativen Bereich gelegen haben.

Nicht zuletzt aus diesem Grund bemüht sich die Regierung im Gespräch mit anderen Zentralbanken sog. Swap-Geschäfte abzuschließen, bei denen große Beträge in Landeswährung ausgetauscht werden. Die türkische Zentralbank verbucht solche Geschäfte als Reserve und kann damit zumindest auf dem Papier ihre Bilanz verbessern.

Die Übernahme des Mobiltelefonbetreibers Turkcell

Turkcell war das Pionierunternehmen, mit dem das Mobiltelefon seinen Durchbruch in der Türkei feiern konnte. Hervorgegangen war das Unternehmen aus der Çukurova Holding, die jedoch bei der Wirtschaftskrise 2001 einen schweren Rückschlag hinnehmen musste.

Mit einer recht komplexen Transaktion hat nun in dieser Woche der türkische Staatsfond die Mehrheitsbeteiligung von Turkcell übernommen. Das schwedische Unternehmen Telia verkaufte seinen Aktienanteil von 24,02 Prozent für 530 Mio. Dollar an den Staatsfond. Der andere Unternehmenspartner, die russische Letterone übernahm einen Aktienanteil von 24,8 Prozent für den Preis von 380 Mio. Dollar. Zudem übernahm Letterone die Kontrolle der Çukurova Holding. Diese wiederum hatte als Sicherheit für Kredite in Höhe von 1,6 Mrd. Dollar bei der staatlichen Ziraat Bank ihre Turkcell-Aktien angegeben. Da sie nun über keine Turkcell Aktien mehr verfügt, wird davon ausgegangen, dass mit den Transfers diese Kredite nun an den Staatsfond übergangen sind.

Geht man von den Zahlenangaben aus, so lag das finanzielle Engagement des Staatsfonds für die Übernahme der Kontrolle von Turkcell bei nicht mehr als 150 Mio. Dollar. Doch sollten die Kredite der Çukurova Gruppe tatsächlich an den Staatsfond übergangen sein, beliefen sich die Kosten der Transaktion auf 1,75 Mrd. Dollar. Doch wir können uns beruhigt zurücklehnen, denn die Details dieses Geschäfts werden wir in absehbarer Zukunft nicht erfahren.

In einem Gespräch mit der Tageszeitung Karar kritisierte der Vorsitzende der Gelecek Partei Ahmet Davutoğlu, dass es nicht Aufgabe des Staatsfonds sei, einen faulen Kredit der Ziraat Bank zu retten.