Istanbul Post

Die

Die Woche vom 10. bis zum 17. Juli 2020

Die Verurteilung des früheren Welt-Korrespondenten Deniz Yücel wegen „Terrorpropaganda“, die Verurteilung des CHP-Vorsitzenden Kılıçdaroğlu zu einer hohen Geldstrafe wegen seiner Behauptungen zu off shore Geschäften der Familie des Staatspräsidenten und die andauernden Bemühungen, die Kontrolle sozialer Medien zu verschärfen, die mit dem „Vorbild anderer Länder“ (z.B. Deutschland) bemäntelt werden… Es ist, als ob versucht wird, dem Land eine Zwangsjacke zu verabreichen.

Rechtsentwicklung

Rechtsentwicklung erfolgt nicht nur auf dem Wege der Gesetzgebung. Für die Ergebnisse von Gesetzen und anderen Rechtsvorschriften sind die Wege ihrer Interpretation und Anwendung mindestens ebenso wichtig. Und hier spielt die Entwicklung von Leitlinien bei Obergerichten eine nicht unbedeutende Rolle.

Im Zusammenhang mit dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofes zur Rückverwandlung des Museums Hagia Sofia in eine Moschee merken Juristen an, dass die Entscheidung eigentlich nicht überraschen kann. Neben zahlreichen diskussionswürdigen Details insbesondere des Verfahrensrechtes stellt das Urteil auch auf den Stiftungsstatus der Hagia Sofia ab. Und hier wird der Stiftungsabsicht des osmanischen Stifters (Sultan Fatih) Vorrang vor den Rechtsbestimmungen der Republik eingeräumt. Ähnlich soll der Verwaltungsgerichtshof auch zuvor im Falle der Kariye Museums entschieden haben, das ebenfalls in eine Moschee zurückverwandelt wurde. Eine solche Rechtsprechung hat nicht nur Konsequenzen für das Stiftungsrecht, sondern vermutlich auch zu anderen Rechtsstreits mit historischem Hintergrund.

Beim Verfassungsgericht zeichnet sich nun möglicherweise eine Abgrenzung gegenüber der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ab. Die Türkei erkennt Sprüche des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes als verbindlich an. Doch nun hat das Verfassungsgericht die Anwendung eines europäischen Urteils zurückgewiesen. Die Begründung ist zum einen, dass das Urteil nicht rechtskräftig sei und zum anderen, dass sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nicht anmaßen könne, türkisches Recht auszulegen. Im Prozess geht es um die Bewertung der Inhaftierung von Richtern nach dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erklärt, dass in einigen Fällen die türkische Rahmenbestimmung, dass Richter nur festgenommen werden können, wenn sie „auf frischer Tat ertappt“ werden, nicht beachtet worden sei. Dies wäre dann ein Verstoß gegen das Freiheitsrecht aus der Europäischen Menschenrechtskonvention. Die türkische Regierung legte Widerspruch gegen diesen Spruch ein. Ein endgültiges Urteil ist noch nicht ergangen. Aber das türkische Verfassungsgericht scheint eine grundsätzlichere Argumentation anzustreben. Demnach habe der Europäische Gerichtshof nur die Verträglichkeit eines Zustands mit den Normen der Europäischen Menschenrechtskonvention zu prüfen. Die Frage der Anwendung nationalen Rechtes dagegen sei eine Angelegenheit des nationalen Gerichts. Neben der enormen Grauzone, die von einer solchen Argumentation geschaffen und die Verbindlichkeit europäischer Urteile außer Kraft setzen würde, lässt sich die Rechtsmäßigkeit eines Zustandes (Inhaftierung eines Richters) nicht ohne Berücksichtigung der zugrundeliegenden Rechtsvorschriften (Schutzrechte für Richter zur Garantie der Unabhängigkeit der Justiz) beurteilen.

Der Jahrestag des missglückten Militärputsches

Am 15. Juli 2016 scheiterte ein Militärputsch. Nach wie vor sind viele Aspekte des Putschversuches ungeklärt, die gerichtliche Aufarbeitung ist noch nicht abgeschlossen. Der 15. Juli wurde zum Feiertag erklärt. Und er ist gleichsam auch zu einem Symbol dessen geworden, was Staatspräsident unter „nationaler Einheit“ versteht. Es ist in diesem Sinne ein ausgesprochen ideologischer Feiertag. Wenn Staatspräsident Erdoğan erklärt, dass der Widerstand des Volkes gegen den Putschversuch gleichwertig zu den historischen Siegen der türkischen Geschichte sei, so bewertet er diesen Widerstand vor allem als eine Verteidigung seines Regimes. Zugleich kann er in einer Rede auf der einen Seite die Opposition dazu aufrufen, das Land gemeinsam in die Zukunft zu führen und auf der anderen Seite die CHP als größte Oppositionspartei zum Unterstützer des Putsches erklären… Die Opposition wiederum boykottierte die Gedenksitzung im Parlament und rundete so das Bild eines AKP-Feiertages ab.

Zu den interessanten Aspekten dieses Feiertages gehört auch, dass Staatspräsident Erdoğan erklärte, es könne keinen Zweifel daran geben, dass der Putsch von einer ausländischen Macht ausgegangen und der Versuch gewesen sei, die Türkei zu besetzen. Wer der Besatzer war, ließ er offen. Bedenkt man, dass die Regierung den USA vorwirft, die Gülen Gemeinschaft, die als Drahtzieher des Putschversuches betrachtet wird, unterstützt, mag die Adresse offenkundig erscheinen. Einen Versuch zu erklären, warum die USA trotzdem nach wie vor „strategischer Partner“ oder mindestens Bündnispartner der Türkei sind, unternimmt er nicht.

Die EU auf der Suche nach einer Türkei Politik

In der Vorwoche beschäftigte sich das Europaparlament in einer Sitzung eigens mit der Türkei. Neutral war das Thema der Sitzung nicht: „die Stabilität im Mittelmeer und die negative Rolle der Türkei“. Folgt man dem Titel, so war das Anliegen der Sitzung, sich gegenseitig das Herz auszuschütten über den Ärger, den die türkische Politik bei vielen europäischen Parlamentariern auslöst. Der außenpolitische Beauftrage Borell dagegen verwahrte sich gegen eine „Kreuzzugsmentatlität“, die mit ihm nicht zu haben sei. Er setzt auf einen Dialog mit der türkischen Regierung.

Zu Beginn dieser Woche war die Türkei dann auch einer der Haupttagesordnungspunkte des ersten Präsenztreffens der EU-Außenminister nach der Corona-Zwangspause. Gegenstand waren unter anderem die Vorwürfe Griechenlands, Zyperns und Frankreichs gegen verschiedene türkische Maßnahmen der jüngsten Zeit: von der Libyen Politik über die Gas-Sondierungen im Mittelmeer bis hin zur Proklamation einer „offenen Grenze“. Auf eine gemeinsame Haltung konnten sich die Außenminister nicht einigen. Und Borell merkte nach dem Treffen an, dass die Türkei-Politik wohl auch eines der Schwerpunktthemen des nächsten Außenministertreffens sein werde.

Und dann gab anlässlich der deutschen EU-Ratspräsidentschaft der deutsche Staatsminister für die EU Roth ein Interview für die Deutsche Welle. Er wies darauf hin, dass die aktuelle Regierungspolitik der Türkei das Land immer weiter von der EU entferne. Doch er wies auch darauf hin, dass es noch die andere Hälfte der Bevölkerung gäbe, die diesen Kurs nicht teile. Er erklärte, dass sollte sich die Politik der Türkei ändern, die Beitrittsverhandlungen an der Stelle weitergeführt werden könnten, an der sie eingefroren wurden.

So vernünftig und versöhnlich die Positionen von Borell und Roth auch klingen mögen. Sie werden wohl nur ein Teil einer langfristigen Türkei-Politik der EU darstellen können. Da ist zunächst die Notwendigkeit der Analyse des Prozesses, der zum Stillstand des Beitrittsprozesses geführt und damit die autoritäre Entwicklung in der Türkei gefördert hat. Gegen große Widerstände in verschiedenen europäischen Ländern war der Beitrittsprozess eingeleitet worden. Diese Widerstände wurden ebenso von praktischen wie ideologischen Motiven getragen. Eine Politik, die diese Widerstände nicht berücksichtigte, ist binnen weniger Jahre gescheitert und hat zu einem beträchtlichen Glaubwürdigkeitsverlust in der türkischen Öffentlichkeit geführt.

Ein anderer Aspekt ist die gestiegene Sensibilität für Fragen der Rechtstaatlichkeit und „gemeinsamer europäischer Werte“ angesichts der Erfahrungen mit einigen der vergleichsweise jüngeren Mitgliedsländern – allen voran Ungarn und Polen. Auch hier würde eine europäische Perspektive vermutlich beinhalten müssen zu hinterfragen, welchen Beitrag die EU-Politiken selbst zu den autoritären Entwicklungen in diesen Ländern geleistet haben. Sonst bliebe als Erklärung nur „kulturelle Differenz“ übrig, was darauf hinausliefe, einige Länder für Untauglich für Demokratie zu bewerten und diese zum „Erziehungsfall“ zu machen (Sanktionspolitik).

Dies mündet in die seit einigen Jahren vorgetragene Feststellung, dass die EU, selbst wenn in der Türkei die Rückkehr zu einem Demokratisierungsprozess eingeleitet würde, nicht in der Lage sein könnte, die Türkei aufzunehmen. Begründet wird diese Frage mit der Aufnahmekapazität für ein großes Land in einer ebenso attraktiven wie komplizierten geopolitischen Position.

Diplomatische Attacken im libyschen Bürgerkrieg

Während die USA anscheinend Verhandlungen mit General Hafter als Führer einer der Bürgerkriegsparteien führt und versucht, eine Kompromissformel für einen längerfristigen Waffenstillstand zu finden, wurde in Ägypten ein Koalitionsgespräch zwischen Hafter und den libyschen Stämmen geführt. Zugleich kritisierten die USA die EU-Mission zur Überwachung des Waffenembargos gegen Libyen als „einseitig gegen die Türkei“ gerichtet.

Die Initiative Ägyptens beinhaltet die Ausbildung und Bewaffnung der libyschen Stämme unter dem Dach einer „nationalen libyschen Armee“. Während es vergleichsweise einfach sein dürfte Waffen an die Stämme zu liefern und diese auszubilden, könnte es sich als schwieriger erweisen, die so geschaffenen Milizen zu kontrollieren.

Die Privatisierung der Stromverteilung

Am 15. Juli 2020 berichtete das Nachrichtenportal Gazete Duvar über den Rechtsstreit gegenüber dem Stromverteiler DEDAŞ. Das Unternehmen hatte – wohl aufgrund nicht gezahlter Rechnungen – die Stromversorgung mehrere Dörfer in der Provinz Mardin eingestellt. Der Rechtsanwalt der Dörfer Ali Ayverdi erklärt, dass obgleich sie die Prozesse gewonnen hätten, DEDAŞ die Stromversorgung weiterhin eingestellt hat. Für die Menschen in den betroffenen Dörfern bedeutet dies, dass sie über keine kontinuierliche Wasserversorgung verfügen. Neben Hygieneproblemen beraubt sie dies ihrer landwirtschaftlichen Existenzgrundlage. Die Kreisstadt Kızıltepe versucht das Problem durch Wassertanker zu überbrücken. Doch eine Lösung ist dies nicht. Einige Bauern geben an, dass ihr Vieh aufgrund des Wassermangels gestorben sei.

Das Problem begann mit der Privatisierung der Stromverteilung. Die Dörfer sahen sich mit hohen Stromrechnungen für ihre Wasserbrunnen konfrontiert, die zudem rückwirkend verzinst wurden. Da die Dörfer die Rechnungen nicht zahlen konnten, ging der Versorger zu Stromsperren über. Dabei wurden jedoch nicht nur die verschuldeten Brunnen bzw. die Dörfer als Betreiber gesperrt, sondern alle Einwohner. Aufgrund des fehlenden Stroms und der ausgefallenen Brunnen, sind die Dörfer nicht in der Lage, ihrer landwirtschaftlichen Tätigkeit nachzugehen und erst recht zahlungsunfähig.

Was auf den ersten Blick wie ein einfaches privatrechtliches Problem aussieht, erweist sich bei näherem Hinsehen als ein politisches. Energiepolitisch war die Privatisierung unter anderem damit gerechtfertigt worden, dass auf diese Weise säumige Schulden leichter eingetrieben werden könnten. Dass dies nur funktioniert, wenn die Verbraucher auch zahlungsfähig sind, wurde entweder übersehen oder übergangen. Aus der Sicht der Stromversorger kommt hinzu, dass für die Konzessionen Preise auf Devisenbasis gezahlt wurden, die kaum als wirtschaftlich zu betrachten sind. Angesichts der starken Abwertung der Türkischen Lira sind viele Versorger überschuldet. Sie versuchen nun durch maximalen Druck, so viel Geld wie möglich einzutreiben.

Das Ergebnis ist ein neues Regionalentwicklungsproblem. Insbesondere in den strukturschwachen Provinzen des Südostens besteht keine realistische Aussicht, dass die landwirtschaftlichen Gebiete ihre Stromschulden bezahlen können. Die Stromversorger wiederum können die ausfallenden Einnahmen nicht einfach abschreiben, weil sie selbst überschuldet sind. Naheliegend wäre, dass sich die Politik dieser Frage zuwendete. Doch dazu müsste das Problem vor allem über den Kreis der Betroffenen hinaus zur Kenntnis genommen werden.

Ein anderer Aspekt ist, dass die betroffenen Dörfer in mehreren Prozessen Recht erhielten, die Gerichtsurteile jedoch bisher nicht umgesetzt wurden. Dies muss kein böser Wille sein. Denn die Durchsetzung einer rechtlichen Forderung kann lange dauern. Doch die Chance, einige Jahre auf den Strom zu warten, stellt sich für die Dorfbewohner nicht.