Istanbul Post

Die

Die Woche vom 28. August bis zum 4. September 2020

Die Zahl der Corona-Infektionen steigt kontinuierlich an. Viele Ärztekammern berichten, dass die Krankenhäuser an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen. Zugleich nimmt die Sorge zu, wie die Entwicklung im Herbst und Winter weitergehen wird, wenn sich die Infektionsgefahren steigen. Die Regierung diskutiert über verschiedene Eingriffsmöglichkeiten. Doch eine erneute weitgehende Einschränkung des öffentlichen Lebens wird zurzeit ausgeschlossen.

Die Eröffnung des Justizjahres

Wie bereits zwei Mal zuvor wurde die Eröffnungsfeier für das neue Justizjahr im Präsidentenpalast durchgeführt. Man mag dies für unerheblich halten, repräsentiert doch der Staatspräsident die Türkische Republik. Doch er ist Gastgeber und die Justiz Gast. Die Anwaltskammern, die immer wieder Anstoß daran genommen haben, wurden dieses Jahr nicht eingeladen. Nur die Union der Anwaltskammern. Die wiederum verfügt über einen Vorsitzenden, für den sich die Regierung nur allzu offensichtlich mit der Änderung des Kammergesetzes eingesetzt hat.

Reaktionen auf die Reden anlässlich der Feier gab es wenig. Kommentiert wurde vor allem die Rede des Staatspräsidenten im Hinblick auf eine weitere Einschränkung von Anwaltsrechten. In einem Beitrag für die Nachrichtenplattform Gazete Duvar konzentriert sich Ali Duran Topuz dagegen auf den Beitrag des Präsidenten des Kassationsgerichtshofes. Dieser hatte kritisiert, dass die Gründer der Republik Rechtsnormen des Westens übernommen haben. Dies habe zu einer Entfremdung der Bevölkerung geführt.

Das Motiv, das Recht im Einklang mit der „eigenen Kultur“ umzugestalten, findet sich immer häufiger. Es bildet zugleich auch das Leitmotiv für die Initiative des MHP-Vorsitzenden Bahçeli, die Todesstrafe wieder einzuführen. Aus der AKP erhält er Unterstützung: wenn das Volks dies wolle, müsse das Parlament die Todesstrafe wieder einführen. Ob er das Volk fragen will? Und wird er dem Volk auch den Preis für eine Wiedereinführung der Todesstrafe verraten?

Bereits heute sind mehr als tausend Anträge auf Erteilung eines internationalen Haftbefehls bei Interpol zurückgewiesen worden. Die Zurückweisung stützt sich zum Teil auch auf Einwände gegen die Praxis der Rechtsanwendung in der Türkei. Oder auch darauf, dass es in europäischen Ländern keinen Straftatbestand „Präsidentenbeleidigung“ gibt. Neben einem Konflikt mit der EU und dem Europarat würde die Einführung der Todesstrafe auch die internationale Justizkooperation belasten.

Inhaltlich wiederum verbirgt sich in der Forderung, sich an den Werten der nationalen Kultur (was auch immer dies sein mag) zu orientieren, die Zurückweisung des Leitgedankens der Menschenrechte. Diese beanspruchen für sich, universal zu sein.

In diese Diskussionen fällt zudem der Besuch des Präsidenten des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. Dieser folgte einer Einladung des Justizministers, erhielt eine Audienz beim Staatspräsidenten, gab eine Lektion an der Justiz-Akademie und erhielt einen Ehrendoktor der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Istanbul. Angesichts der Zunahme der Klagen aus der Türkei und einigen Urteilen des Menschenrechtsgerichtshofes, die in der Türkei trotz Verpflichtung nicht umgesetzt wurden, erhielt Robert Spano für diesen Besuch einige Kritik. Bei seinen Auftritten betonte dieser die grundlegende Bedeutung von Prinzipien wie Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz. Er wurde höflich angehört. Doch was wäre mehr zu erwarten gewesen? Noch hat sich die Türkei nicht aus dem System der Menschenrechte verabschiedet. Die Konsequenzen wären weitreichend. Sie in diesem System zu halten, bedarf Anstrengung.

Ein Menschenleben

Am 3. September 2020 wurde der Rechtsanwalt Aytaç Ünsal aus dem Krankenhaus entlassen. Dort befand er sich beim 213. Tag eines unbefristeten Hungerstreiks, mit dem er – wie die in der vergangenen Woche verstorbene Rechtsanwältin Ebru Timtik – ein „faires Verfahren“ durchsetzen wollte. Ünsal war wie Timtik in einem Verfahren gegen den Verein zeitgenössischer Anwälte der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung schuldig gesprochen worden. Beide hatten einen Hungerstreik begonnen. Doch weigerte sich die Justiz, selbst nachdem Gutachten Lebensgefahr bescheinigten, eine Freilassung anzuordnen. Nun setzte die 16. Kammer des Kassationsgerichtshofes den Strafvollzug bis zur Genesung von Ünsal aus. Hätte man sich einen Monat früher zu einem solchen Schritt durchgerungen wäre vielleicht auch Ebru Timtik zu retten gewesen. Bleibt zu hoffen, dass Ünsal, dem ein Zusammenbruch des Immunsystems bescheinigt wurde, überlebt.

Bleibt anzumerken, dass die Urteile gegen beide noch nicht rechtskräftig sind und dem Kassationsgerichtshof zur Bestätigung vorliegen. Sie sind zwar in erster und zweiter Instanz verurteilt worden, doch rechtskräftig wird es erst durch den Spruch des Kassationsgerichtshofes. Hätte dies nicht bereits bei den vorherigen Haftprüfungsanträgen berücksichtigt werden müssen?

Die Politik dagegen zeigte sich hart. Innenminister Soylu bezeichnete Timtik als DHKP/C-Terroristin. Dass angesichts einer Gedenkfeier vor der Anwaltskammer Istanbul am Gebäude – laut Stellungnahme der Anwaltskammer nicht von ihr – ein Portrait der Anwältin aufgehängt wurde, nahm Staatspräsident Erdoğan bei der Feier zum Beginn des Justizjahres zum Anlass, die Entschlossenheit anzukündigen „den blutigen Weg von der Anwaltschaft zum Terrorismus“ abzuschneiden. Dabei ist Ebru Timtik nicht wegen Beteiligung an Terroranschlägen, sondern Mitgliedschaft in einer Vereinigung verurteilt worden.

Auch zukünftige Nachrichten verboten

Es gibt Nachrichtensperren. Es gibt sie auch in demokratischen Rechtsordnungen, wenn es darum geht, beispielsweise Opfer von Straftaten zu schützen. Eigenwillig mutet es jedoch an, wenn gegen ein Medienorgan gerichtlich angeordnet wird, auch zukünftig jede Berichterstattung zu einem Thema einzustellen. Einem Bericht der Nachrichtenplattform Gazete Duvar zufolge wurde gerichtlich der Nachrichtenplattform Oda TV untersagt, weiterhin über den Skandal um einen Scheich zu berichten, der ein 12jähriges Mädchen sexuell belästigt hat. Mit Opferschutz lässt sich die Sache kaum begründen, denn andere Medien berichten weiter. Zudem wird in den Berichten der Name des Opfers nicht erwähnt.

Die Beziehungen der AKP zu den islamischen Bruderschaften (tarikat) sind zwiespältig. Zu einigen, die sie unterstützen, unterhält sie enge Verbindungen. Andere, die sie aus verschiedenen Gründen ablehnen, werden bekämpft. Die Uşakki Bruderschaft, der der Scheich angehört, gehört wohl eher zur ersten Kategorie, denn es gibt zahlreiche soziale Medien-Beiträge, die ihn zusammen mit früheren Spitzenpolitikern der AKP zeigen. Einem Bericht der Tageszeitung Birgün zufolge scheint nun jedoch eine Reinigung der sozialen Medien durchgeführt zu werden, denn die Beiträge, die solche Verbindungen anzeigen, werden gelöscht.

Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten nutzte die Gelegenheit, um ihre Forderung nach Verhinderung des Missbrauchs religiöser Gefühle zu wiederholen. Man möchte gern mehr Kontrolle über diese religiösen Zusammenschlüsse. Würde diese sexuellen Missbrauch verhindern? Vermutlich nicht. Ähnlich wie bei Sekten entfalten sich solche Vorfälle vor dem Hintergrund persönlicher Abhängigkeiten. Gefördert werden sie zudem dadurch, dass sich die Täter – nicht unähnlich wie bei den Missbrauchsvorwürfen in kirchlichen Einrichtungen – vorstellen können, im Zweifelsfall gedeckt zu werden.

Schwierige Vermittlungen im östlichen Mittelmeer

NATO Generalsekretär Stoltenberg teilte am 4. September mit, dass sich Griechenland und die Türkei zu technischen Verhandlungen zur Installation eines militärischen Deeskalationsmechanismus zwischen beiden Ländern bereit erklärt haben. Die griechische Regierung teilte jedoch mit, dass dies nur unter der Vorbedingung gelte, dass die Türkei ihre Erdgas-Sondierungen einstellt. Die türkische Regierung wiederum erklärt, dass Griechenland damit eine vorherige Zusage zurückgezogen habe.

Es erscheint offensichtlich, dass sowohl die türkische als auch die griechische Regierung ein innenpolitisches Interesse daran haben, den Konflikt um die wirtschaftlichen Einflusszonen im östlichen Mittelmeer auf einem schlagzeilenträchtigen Niveau mit heftigem Säbelrassel zu halten. Doch betrachtet man die Streithähne, so geht mir das Brecht-Zitat durch den Kopf: „wie anstrengend ist es doch, böse zu sein.“

Türkische Wirtschaft um 9,9 Prozent geschrumpft

Im zweiten Quartal 2020 ging die türkische Wirtschaft um 9,9 Prozent gegenüber dem Vorjahresquartal zurück. Gegenüber dem ersten Quartal lag der Rückgang bei 11 Prozent. Die Landwirtschaft zeigte einen Zuwachs um 4,0 Prozent, das Finanz- und Versicherungswesen einen um 27,8 Prozent. Die Industrie dagegen verzeichnete aufgrund der Quarantänemaßnahmen einen Rückgang um 16,5 Prozent, die Dienstleistungen einen um 25 Prozent. Nach Ausgaben berechnet gingen die Ausgaben der Privathaushalte um 8,6 Prozent gegenüber dem Vorjahresquartal zurück.

Verglichen mit anderen Ländern ist der Rückgang des Bruttoinlandsproduktes der Türkei nicht außergewöhnlich. Die Pandemie hat weltweit ihre Spuren in den nationalen Wirtschaftsräumen hinterlassen. Die Besonderheit der Türkei liegt jedoch darin, dass sie die neue Krise zu einem Zeitpunkt traf, an dem die vorangegangene Devisenkrise von 2018 noch nicht überwunden war. Sie ging mit einer ausgesprochen hohen Arbeitslosigkeit in diese Krise hinein, die nun verstärkt wurde. Das Inflationsniveau lag hoch und ist durch die politischen Entscheidungen zur Stimulierung der Wirtschaft weiter genährt worden.

Illustriert werden kann diese Entwicklung durch eine Studie der Großstadtverwaltung Istanbul, die zu dem Schluss kommt, dass die Haushaltseinkommen in der Stadt seit 2013 kontinuierlich zurückgehen und heute auf einem Niveau unter dem von 2006 liegen. Die Armut wiederum steigt seit 2017 schnell an.

Vollgas – Bremse

Im August hat die Türkische Lira schnell an Wert verloren. Für die türkische Bevölkerung ist dies eine Art Seismograph jenseits der offiziellen Zahlen, an die kaum noch jemand glaubt. Nicht zuletzt aus diesem Grund wurden Milliarden von Dollar der Zentralbankreserven im Mai, Juni und Juli geopfert, um den Devisenkurs zu stabilisieren.

Im August beschloss die türkische Zentralbank, die Zinsen nicht zu erhöhen. Stattdessen änderte sie ihre Politik, die Geschäftsbanken mit Geld zu versorgen. Lag der durchschnittliche Zinssatz für Geldaufnahmen bei der Zentralbank vor dem Absturz der Türkischen Lira unter den 8,25 Prozent des offiziellen Leitzinses, so ist er nun auf ein Niveau über 10 Prozent gestiegen. Zugleich wurde die Politik der Kreditvergabe geändert. Mit dem Anstieg der Finanzierungskosten für die Banken stiegen auch die Kreditzinsen. Waren die Banken durch die Bankenaufsicht BDDK zuvor gezwungen worden, großzügig Kredite zu vergeben, so wurde dies nun gelockert. Und nun beschloss die BDDK, die allgemeine Obergrenze für die Laufzeit von Verbraucherkrediten von 60 Monaten auf 36 Monate zu reduzieren.

Die Politik des zweiten Quartals hatte zu einem sprunghaften Anstieg des Kreditvolumens geführt. Die aktuellen Maßnahmen bedeuten eine abrupte Bremse. Was in einem Fahrzeug zu einer Verunsicherung der Mitfahrer führt, gilt wohl auch für eine Volkswirtschaft. Nur mit einem Unterschied. Denn während einige vielleicht auf die Aufnahme eines Kredites verzichten werden, weil er nun unattraktiv geworden ist, verschärft die neue Politik für andere, die von „einem Kredit zum anderen“ leben, die Existenzmöglichkeit. Betrachtet man diese Entwicklung vor dem Hintergrund der Jahreszeiten, so standen im Frühsommer und Sommer – Jahreszeiten in denen das Leben billiger ist – großzügige Finanzierungsmöglichkeiten bereit, doch beim Übergang zum Herbst versiegt das Geld. Die Folgen werden Armut, höhere Arbeitslosigkeit und Verunsicherung sein.

Problematische Entwicklung des Außenhandels

Unter den Vorzeichen der Corona Pandemie ist der türkische Außenhandel rückläufig. Von Januar bis Juli ging der Export um 13,7 Prozent zurück. Doch die Importe sanken nur um 3,9 Prozent. Dementsprechend verschlechterte sich die Deckung der Importe durch die Exporte von 85,9 Prozent auf 77,2 Prozent. Angesichts der rückläufigen Deviseneinnahmen aus dem Tourismus zeichnet sich eine weitere Belastung der Zahlungsbilanz ab-

Gleichwohl sollte nicht vergessen werden, dass bei der Handelsentwicklung ein gewisser Trägheitseffekt besteht. Als im August 2018 die Türkische Lira extrem an Wert verlor, zeigten sich die Einbrüche beim Export vor allem im September und Oktober. Der aktuelle Wertverfall der Türkischen Lira wiederum wird erneut zu einem Importrückgang führen.

Auf der anderen Seite führt es wenig weiter, wenn Finanzminister Albayrak erklärt, zöge man die Gold-Importe ab, so läge das Außenhandelsdefizit nicht mehr bei 26,6 %, sondern nur noch bei 10 Prozent. Es ist wie ein Kind, dass sich sagt: „Hätte ich das Eis nicht gegessen, hätte ich noch einen Euro in der Tasche“. Auch wenn Albayrak wohl mit seiner Aussage andeuten möchte, dass das strukturelle Außenhandelsdefizit aufgrund der hohen Importabhängigkeit der türkischen Industrie gemindert worden sei, lässt sich eine solche Aussage nicht plausibel allein durch den Abzug der Gold-Importe treffen. Die Ersetzung von importierten Vor- und Zwischenprodukten benötigt einige Zeit und ein kalkulierbares Wirtschaftsumfeld, das Investitionen ermöglicht. Davon jedoch war in den vergangenen zwei Jahren wenig zu spüren.