Istanbul Post

Die

Die Woche vom 18. bis zum 25. September 2020

Der Schulstart gestaltete sich schwierig, weil sich unmittelbar die Kapazitätsprobleme beim internetgestützten Fernlernen zeigten. Die Spannungen im östlichen Mittelmeer sind einer Phase gewichen, in der alle Beteiligten beteuern, der Diplomatie Vorrang zu gewähren. Die türkische Zentralbank nahm überraschend eine Zinserhöhung um zwei Prozentpunkte vor. Doch liegt der Leitzins weiterhin unter der Inflation.

Kapazitätsprobleme

Am 23. September begann das neue Schuljahr für viele Schüler mit Fernunterricht. Doch am ersten Tag brach das Internet-Standbein des EBA-Systems zusammen. Bildungsminister Selçuk erwähnte einen Cyber-Angriff als Ursache. Dann aber erklärte er, dass es eigentlich erfreulich sei, dass das System aufgrund der hohen Nachfrage zusammengebrochen sei.

Medienangaben zufolge verfügt das EBA-Internetsystem über eine Kapazität von 1 Mio. Nutzern. In den Fernunterricht einbezogen sind 18,2 Mio. Schülerinnen und Schüler. Geht man davon aus, dass ein Teil keinen Internetzugang hat, bleiben nach wie vor geschätzte 17 Mio. SchülerInnen, die auf eine Kapazität von 1 Mio. zugreifen müssen.

Das Problem sollte eigentlich keine Überraschung sein. Zugegebener weise erfolgte der Übergang zum Fernlernen im April 2020 ohne die Möglichkeit einer gründlichen Vorbereitung. Die Pandemie hatte die Türkei erreicht und die Schulen wurden geschlossen. Doch seit dem sind fünf Monate vergangen. Selbst wenn diese Zeit für den Ausbau der Infrastruktur nicht ausgereicht haben sollte, so hätte – ähnlich wie beim Präsenzunterricht – eine Quotierung die Überlastung vermeidbar gemacht.

Doch ist dies nicht die einzige Frage. Bereits vor einigen Wochen hatten verschiedene Fachleute darauf hingewiesen, dass im Zuge der Privatisierung der Telekom ein Fond eingerichtet wurde, der sicherstellen soll, dass auch benachteiligte Regionen mit qualitativ hochwertigen Telekommunikationsleistungen versorgt werden. Was aus den Mitteln des Fonds geworden ist, bleibt unklar. Fest steht, dass zu einem Moment, an dem massiver Bedarf für die Investition in Fernunterricht besteht, diese Mittel nicht mehr zur Verfügung stehen.

Nun gibt es verschiedene Kampagnen, um Kindern, die weder über eine ADSL-Internetverbindung noch über einen Computer/Laptop verfügen, beizustehen. Die Großstadtverwaltung Istanbul ruft beispielsweise zur Spende von nicht (mehr) gebrauchten Computern auf. Eine hilflose Geste, denn Computerschrott – d.h. häufig technisch veraltete – Computern dürften den Kindern nur wenig Hilfe bieten. Spenden sammeln darf sie vermutlich immer noch nicht. Bleibt vielleicht „Askıda bilgisayar“ (so wie bei Bäckern zusätzliche Brote bezahlt werden, die von Bedürftigen in Anspruch genommen werden können, könnten auch bei Computerhandlern Computer/Laptops mit Mindestausstattung bereitstehen).

Nach sechs Jahren Verhaftungswelle wegen Unruhen während des Opferfestes 2014

Im September 2014 bereitete der „Islamische Staat“ eine Offensive gegen die syrische Stadt Kobane vor. Mit dem Erfolg einer solchen Offensive wären die kurdischen Gebiete, die seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs in Selbstverwaltung regiert wurden, auf ein kleines Gebiet um Haseke zusammengeschrumpft. Es war die Zeit des Prozesses zur friedlichen Lösung des Kurden-Konflikts, in dem die türkische Regierung Gespräche mit der HDP über eine Beendigung des bewaffneten Kampfes der PKK führte. Doch dann kam es zu den Unruhen beim Opferfest. Bei den Ausschreitungen am 6. und 7. Oktober 2014 starben 50 Menschen. Die Regierung machte die HDP für die Ausschreitungen verantwortlich. In linken Medien wurden sie als Wiederaufnahme der Kämpfe zwischen der PKK und der türkischen Hisbollah berichtet. Vermutlich waren sie auch ein Überschwappen des syrischen Bürgerkrieges in die Türkei. Denn die Erbitterung der türkischen Kurden über die Teilnahmslosigkeit der türkischen Regierung gegenüber einem drohenden Gemetzel an syrischen Kurden gleich jenseits der Grenze war groß. Hinzu kam, dass die türkische Hisbollah sich zwar nicht explizit für den „Islamischen Staat“ ausgesprochen hatte, es gleichwohl jedoch Beispiele von Hisbollah-Anhängern gibt, die sich dem „Islamischen Staat“ anschlossen.

Sechs Jahre später wurde in sieben Provinzen eine Polizeiaktion durchgeführt, bei der 82 Personen festgenommen werden sollen. Unter ihnen befinden sich auch Sırrı Süreyya Önder, der sich damals in der Verhandlungskommission mit der AKP befand und der frühere Abgeordnete Altan Tan. Hinzu kommen zahlreiche Vorstandsmitglieder der HDP. Ihnen wird vorgeworfen, sich durch Aufrufe zu Protesten an den Ausschreitungen schuldig gemacht zu haben. Bleibt anzumerken, dass auch einer der Hauptvorwürfe gegen Selahattin Demirtaş sich auf dieses Ereignis bezieht. Er wurde angeklagt, doch eine Schuld wurde ihm auch vom Gericht nicht zuerkannt. Seine Inhaftierung wiederum wurde vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als „politisch motiviert“ und Verstoß gegen die europäische Menschenrechtscharta bewertet.

Welche neuen Beweise könnten nach sechs Jahren gefunden worden sein? Oder ist die Aktion politisch motiviert? Sie erfolgt, während im Oppositionsbündnis die Diskussion über eine offene Zusammenarbeit mit der HDP stattfindet. Zielt sie darauf, diese Diskussion zu beenden? Um welchen Preis?

Meral Akşener als Vorsitzende der Iyi Partei wiedergewählt

Beim Parteitag am 20. September wurde die bisherige Vorsitzende Meral Akşener einstimmig als Vorsitzende der rechten Iyi Partei wiedergewählt. Während sie auf ihrer Parteitagsrede auf der einen Seite nationalistische Töne in den Vordergrund stellte, sandte sie auch ausdrückliche Grüße an Kurden und Zaza sowie an die Aleviten. Während einige Kommentatoren anmerkten, dass das „Volksbündnis“ mit der CHP keine Erwähnung fand, geht der Kolumnist der Hürriyet Abdülkadir Selvi davon aus, dass Akşener ihre Partei auf die Fortführung des Bündnisses ausgerichtet habe.

Selda Güneysu von der Cumhuriyet wiederum weist darauf hin, dass sich bei der Wahl für den Parteirat vor allem nationalistische Politiker durchsetzen konnten, während Kandidaten der politischen Mitte keinen Erfolg hatten.

Neue Phase im Konflikt ums östliche Mittelmeer

Nach intensivem Säbelrasseln mit Seemanövern im östlichen Mittelmeer kommen nun von allen Beteiligten Erklärungen, dass sie für eine internationale Konferenz sind, mit der nach Lösungen für die Konflikte gesucht werden könnte. Doch allein das Zustandekommen einer solchen Konferenz könnte ein Meilen- oder ein Stolperstein sein. Denn es geht nicht allein um die türkischen Erdgassondierungen in Gebieten, die von Griechenland beansprucht werden.

Anfang der Woche führten die Staatspräsidenten Macron und Erdoğan ein Telefongespräch. Neben Appellen für eine diplomatische Lösung der Konflikte, soll dabei Präsident Macron seinen türkischen Gesprächspartner aufgefordert haben, die türkische Position in Syrien „zu konkretisieren“. Zugleich ist mit dem Rücktritt der Sarraj-Regierung in Libyen offen, ob eine neu gebildete Regierung an dem Abkommen mit der Türkei über die Grenzen der exklusiven Wirtschaftszone im östlichen Mittelmeer festhalten wird. Hinzu kommen Stolpersteine wie der Zypern-Konflikt und die gespannten türkisch-ägyptischen Beziehungen. Die Türkei fordert beispielsweise, dass an einer solchen Konferenz die Türkische Republik Nord-Zypern beteiligt werden soll. Für die EU-Staaten und vor allem für die Republik Zypern und Griechenland dürfte dies eine nicht hinnehmbare Forderung sein.

Unüberbrückbar sollten solche Schwierigkeiten im Vorfeld nicht sein. Es liegt in der Natur der Diplomatie, Kompromissformeln zu suchen. Voraussetzung wäre jedoch, dass einige der zentral beteiligten Länder – darunter auch die Türkei – es vermeidet, die Angelegenheiten für innenpolitische Manöver zu nutzen.

Makaber wirkt in diesem Zusammenhang, dass man durchsickern ließ, Macron habe Erdoğan eine Beteiligung am SAMP/T Flugabwehrraketen-Projekt angeboten habe. Es würde eine Alternative oder Ergänzung zum russischen S-400 Raketensystem bieten, dessen Beschaffung durch die Türkei vor allem in den USA, aber auch der NATO auf Kritik stößt. Doch auf dem Höhepunkt der Spannungen im August hatte Griechenland erklärt, mit einem Volumen von 10 Mrd. Dollar die eigene Armee verteidigungsbereiter zu machen. Ein bedeutender Teil des Paketes soll für französische Kampfflugzeuge ausgegeben werden. Der einen Konfliktpartei Flugzeuge zu verkaufen und der anderen Flugabwehrraketen anzubieten, wirkt nicht unbedingt überzeugend. Wobei sich natürlich noch die Frage stellt, warum diese Information an den US-Sender Bloomberg weitergeleitet wurde.

Überraschende Zinsentscheidung

Am 24. September 2020 entschied die türkische Zentralbank, den Leitzins von 8,25 Prozent um zwei Prozentpunkte auf 10,25 Prozent anzuheben. Zugleich wurden auch alle anderen Zinssätze um 2 Prozentpunkte angehoben. Der höchste Zinssatz gilt für das „späte Liquiditätsfenser“, das eigentlich als Notfallfinanzierung für Banken gedacht ist, die in Liquiditätsschwierigkeiten gekommen sind. Doch wurde dieses Instrument verstärkt auch für versteckte Zinserhöhungen eingesetzt, in dem die routinemäßigen Liquiditätsmaßnahmen der Zentralbank ausgesetzt wurden. Dieser Zinssatz betrug vor der Entscheidung 11,25 Prozent und ist nun auf 13,25 Prozent angehoben worden. Diese zwar ökonomisch erforderliche Entscheidung war gleichwohl aufgrund der Haltung der Regierung nicht erwartet worden.

Die Devisenkurse reagierten mit einem leichten Rückgang. Doch es wirkt nicht so, als habe die Zinsentscheidung eine Trendwende herbeigeführt. Ergänzend entschied die Bankenaufsicht BDDK, dass Limit für kurzfristige Geldtauschgeschäfte (SWAP) von einem Prozent auf zwei Prozent des Eigenkapitals der Banken anzuheben.

Der Grund für die mäßige Reaktion der Devisenmärkte könnte sein, dass nach wie vor der Leitzins um mehr als einem Prozentpunkt unter der Inflation liegt. Die Devisenkurse haben dagegen seit Jahresbeginn um rund ein Drittel angezogen. In der Folge hatten angesichts real negativer Sparzinsen Anleger sich in Devisen geflüchtet. Zusammen mit der Erosion der Rücklagen der türkischen Zentralbank und der durch die Pandemie ausgelösten Verunsicherung hatte sich der Abwertungsdruck der TL verstärkt.

In einem Beitrag für die Tageszeitung Karar wies deren Kolumnist Ibrahim Kahveci auf die enormen Kosten der wirtschaftspolitischen Entscheidungen hin. Er gab zunächst an, dass in den ersten sieben Monaten in 2020 sich die Zinsausgaben auf 172 Mrd. TL beliefen. Niedrige Zinsen bedeuteten sowohl für den Staatshaushalt als auch die Unternehmen geringere Belastungen. Betrachtet man dagegen den wertmäßigen Anstieg der Auslandsverpflichtungen auf Dollar-Basis, so ergeben sich Mehrkosten in Höhe von mehr als 1,3 Billiarden TL. Geht man davon aus, dass die Niedrig-Zins-Politik einen wesentlichen Anteil am Wertverfall der TL hatte, so liegen die Kosten dafür etwa doppelt so hoch wie die gesamten Zinszahlungen…