Istanbul Post

Die

Die Woche vom 18. bis zum 25. Dezember 2020

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt die Türkei erneut wegen der Inhaftierung des früheren HDP-Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş. Und die türkische Regierung sieht sich ein weiteres Mal unverstanden. „Der ist doch Terrorist“ ist der Tenor der Zurückweisung des für die Türkei bindenden Urteils. Zeitgleich geht ein Gesetz durch das parlamentarische Plenum, in dem u.a. festgelegt wird, dass das Innenministerium Vereine und Stiftungen unter Zwangsverwaltung stellen kann, wenn gegen ein Vorstandsmitglied ein Ermittlungsverfahren wegen „Terrorismus“ eingeleitet wird.

Freuen konnten sich dann doch wenigstens die Finanzmärkte, weil ihre Erwartungen durch die Zinserhöhung der Zentralbank nicht enttäuscht wurden. Wird die orthodoxe Wirtschaftspolitik konsequent fortgesetzt, besteht auch nur geringer Spielraum für die Erhöhung des Mindestlohns. Doch der liegt bereits ohnehin unter der Hungergrenze.

Reformversprechen und ein Urteil aus Den Haag

Am 22. Dezember 2020 sprach der Große Rat des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte das abschließende Urteil. Er kam zu dem Schluss, dass die Inhaftierung von Selahattin Demirtaş, dem früheren HDP-Ko-Vorsitzenden und Präsidentschaftskandidaten, politisch motiviert und darum unzulässig ist. Als Mitglied des Europarates hat die Türkei in ihrer Verfassung verankert, dass die Sprüche dieses Gerichtshofes bindend auch für türkische Gericht sind.

Staatspräsident Erdoğan scheint dies jedoch anders zu sehen. Er verwies darauf, dass das Verfahren gegen Demirtaş noch nicht abgeschlossen sei. Solange der innere Rechtsweg nicht ausgeschöpft ist, sei der Europäische Gerichtshof nicht zuständig. Es handele sich nur um einen Versuch, „ihren Mann“ zu retten.

Gerichtsurteile mögen nicht jedem gefallen – halten muss man sich jedoch daran, wenn man in einem Rechtsstaat leben möchte. Und genau diesbezügliche Reformversprechen hat Erdoğan im November gegeben. Es gilt wie so oft in der Politik, dass sich Politiker nicht an ihren Worten, sondern ihren Taten messen lassen.

Am 29. Dezember 2020 wird sich das türkische Verfassungsgericht mit der Klage von Osman Kavala beschäftigen. Jahrelang inhaftiert aufgrund von Vorwürfen, von denen er inzwischen freigesprochen ist, scheint als wesentlicher Anlass für den offensichtlichen Rechtsbruch vor allem der Schuldspruch durch den Staatspräsidenten.

Das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte im Fall Demirtaş müsste in der Türkei eigentlich ein Ermittlungsverfahren wegen Freiheitsberaubung nach sich ziehen. Wird er nicht freigelassen, lässt es Ankara auf eine Kraftprobe mit dem Europarat ankommen. Dieser steht dann vor der Wahl entweder die Türkei zu sanktionieren (was bis zum Ausschluss reicht) oder aber sich auf Verhandlungen einzulassen. Doch solche Verhandlungen würden das Gerüst des europäischen Menschenrechtsschutzes untergraben.

Justiz-Tristesse

Ein leitender Staatsanwalt aus Istanbul macht Karriere. Bereits zuvor war im Umfeld der Wahl von drei Kandidaten für das Verfassungsgericht am Kassationsgerichtshof gemunkelt worden, dass einige Kandidaten sich aufgrund wohlmeinender Hinweise zurückgezogen hätten. Nun – und dann kam der Staatsanwalt aus Istanbul. Und noch bevor er einmal seinen neuen Gerichtssaal betreten hat, erhielt er die meisten Stimmen bei der Abstimmung für das Verfassungsgericht. Muss man anmerken, dass es bisher am Kassationsgerichtshof üblich war, die Auswahl unter den erfahrensten Richtern zu treffen? Es gehört zu den Merkmalen des neuen Systems, dass Kandidaten mit unwiderstehlicher Überzeugung auftreten können.

Ein anderer Vorfall zeigt, dass Korruptionsvorwürfe in der Justiz keine Chance haben. Es wäre ja auch zu peinlich, wenn sich zwei Richter und ein früherer Anwalt des Staatspräsidenten wegen Verfahrensmanipulation verantworten müssten. Dass sie bei diesbezüglichen Absprachen aufgezeichnet wurden, ficht niemanden an. Da für die Aufzeichnung ihr Einverständnis nicht eingeholt wurde, handelt es sich um einen illegalen Mitschnitt. Und illegale Beweise werden nicht zugelassen. Vorbildlich. Da im Übrigen die Beschuldigten die Vorwürfe zurückweisen, gibt es keinen Grund, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten. Im Umkehrschluss: Ein Richter kann wohl nur wegen Korruption belangt werden, wenn er in einem Anfall tiefer Reue Selbstanzeige stellt.

Und dann gab es im September noch eine unappetitliche Szene. Ein junger Mann wurde gefilmt, wie er eine kurdische Erntehelferin ohrfeigt. Das Bild hatte einiges Aufsehen erregt. Es stammt aus einem Angriff mehrerer Dörfler auf kurdische Erntehelfer, die nicht parieren wollten. Die Staatsanwaltschaft stellt nun das Verfahren ein. Ein rassistisches Motiv sei nicht feststellbar. Über die Tätlichkeiten und Beleidigungen hat man wohl auch hinweggesehen. Vielleicht hat man auch gedacht, dass der Umgangston unter Bauern rauer ist? Sehr einfühlsam.

Ein Beitrag zur Verbesserung der Sendequalität (?)

Die Aufsehen für Radio und Fernsehen RTÜK ist berüchtigt. Zunächst stand sie als Sittenwächterin immer wieder in der Kritik. Dann fiel auf, dass oppositionelle Radio und Fernsehprogramme mit schweren Bußgeldern oder Sendesperren belegt wurde. Und nun sorgt sich RTÜK um die Qualität von Diskussionsprogrammen. In einem Rundschreiben an die Sender mahnt RTÜK, dass man mehr auf die Auswahl von Diskutanten achten möge. Nicht jeder sei für alles Experte. Es käme immer wieder zu Beschwerden von Fachverbänden und Einzelpersonen über irreführende Beiträge in solchen Sendungen.

Frühere Moderatorinnen bei CNN Türk berichten, dass es Listen gegeben habe, wer zu einer Diskussionssendung eingeladen werden dürfe und wer nicht. Dass sich diese Listen über die Jahre immer mehr verkürzt haben dürften, zeigt sich an der schnellen Wiederkehr immer derselben Diskussionsrunden. Und diese stetig gleichen Runden mit gleichen Ansichten finden sich nicht nur bei CNN Türk, sondern auch anderen Programmen. Der Erfolg ist, dass die Ratings zurückgehen.

Man kann über die Zuverlässigkeit von Ratings in der Türkei streiten. Doch es ist offensichtlich, dass selbst ein 1-Personen-Medienalternativprojekt wie das von Murat Yetkin – zugegeben einer renommierter Journalist – größere Öffentlichkeitswirksamkeit entfaltet, als die Programme der sogenannten Nachrichtensender, die noch vor einem Jahrzehnt im Mittelpunkt der öffentlichen Meinungsbildung standen.

Die Rechnungshof-Berichte

Die Rechnungshof-Berichte sind eine beliebte Quelle der Oppositionsmedien, um die Korruption und Unfähigkeit der Regierenden an den Pranger zu stellen. Gestützt wird diese Praxis der Berichterstattung noch dadurch, dass diese Berichte zwar dem Haushaltsausschuss vorgelegt werden. Doch besteht weder ausreichende Zeit für die Vorbereitung noch für die Beratung. Und abgestimmt wird entsprechend der politischen Fronten.

Bei Licht betrachtet, handelt es sich bei den Beanstandungen in den Prüfberichten um verschiedene Arten von Fehlern, die vom Rechnungshof festgestellt wurden. Zunächst stellt der Rechnungshof Unregelmäßigkeiten fest. Diese können in Regelverstößen bzw. auch Rechtsverstößen liegen oder auch in Rechenfehlern. Da werden mögliche Forderungen der öffentlichen Hand nicht eingefordert, Vorteile gewährt, Abrechnungen nicht entsprechend den Vorschriften geführt. In einer zweiten Stufe werden diese Unregelmäßigkeiten der jeweiligen Behörde mit der Bitte um Stellungnahme mitgeteilt und gehen dann in den Prüfbericht ein.

In den aktuellen Prüfberichten befinden sich auch Beanstandungen zur Praxis der neuen Führung der Metropole Istanbul. Dort wird die kostenlose Verteilung von Milch an Schulkinder ebenso gerügt wie die Freifahrtmöglichkeiten für Mütter. Istanbuls Oberbürgermeister reagiert verärgert. Man werde an beiden sozialpolitischen Maßnahmen festhalten. Er wirft dem Rechnungshof vor, an veralteten Rechtsauffassungen festzuhalten.

Letztlich handelt es sich bei zahlreichen Beanstandungen um politische Entscheidungen. Und es geht um Auslegungsspielräume des geltenden Rechts. Würden die Forderungen der Opposition nach mehr Vorbereitungszeit und längerer Beratungszeit im Haushaltsausschuss aufgegriffen, würden diese politischen Fragen diskutierbar werden. Und bei einer sachlicheren Debatte würde sich – zum Wohl der öffentlichen Verwaltung – die Spreu vom Weizen trennen lassen.

Zwischen Baum und Borke

Am 24. Dezember 2020 erhöhte die Zentralbank den Leitzins um zwei weitere Prozentpunkte auf 17 Prozent. Die Zinserhöhung war erwartet worden, gleichwohl gingen die Schätzungen eher von 1,5 Prozentpunkten Erhöhung aus. Die Entscheidung wurde als Bestätigung der Rückkehr zu einer orthodoxen Geld- und Finanzpolitik bewertet und führte zu einem leichten Kursrückgang bei den Devisen. Gleichwohl bleibt das Problem der Dollarisation bestehen – von Woche zu Woche steigt der Anteil der Guthaben von Privatpersonen und Unternehmen auf Devisenbasis gegenüber denen auf TL-Basis. Kommentatoren verweisen jedoch darauf, dass sich das Anstiegstempo verlangsamt habe. Demgegenüber werden Zentralbankchef und der Minister für Finanzen und Schatzamt nicht müde, die Inflationsbekämpfung in den Vordergrund zu stellen.

Rhetorisch hat sich damit in den vergangenen sechs Wochen die Wende von Wachstum als vordergründigsten Ziel zu Geldwertstabilität vollzogen. Doch die sozialen Wirkungen dieser „Gürtel enger schnallen“ Politik werden erst mit etwas Verzögerung eintreten. Bereits jetzt sind die Kreditzinsen der Banken deutlich gestiegen. Parallel dazu sinkt das Zuwachstempo des Kreditvolumens. Da die staatlichen Hilfen zur Bewältigung der Pandemie-Folgen insbesondere für ärmere Bevölkerungskreise und Kleinunternehmern/Selbständigen nicht ausreichen, steigt der Geldbedarf. Da zugleich die Kredithürden steigen, schnellt auch das Ausfallrisiko für Rechnungen und Kredite in die Höhe.

Umgekehrt hat zur Zinserhöhung kaum eine Alternative bestanden. Wäre sie ausgeblieben, wäre eine neue Abwertungswelle der TL absehbar gewesen. Auch diese hätte die Haushalte und Unternehmen in Form steigender Inflation getroffen.

So oder so werden die kommenden Monate schwierig. Der Inflationsdruck wird noch einige Monate fortbestehen, selbst wenn die Nachfrage durch ein restriktiveres Kreditklima eingeschränkt wird. Für eine hohe Erhöhung des Mindestlohns ist ebenfalls wenig Spielraum – war ein Thema der kommenden Woche sein dürfte. Man könnte über eine gerechtere Verteilung der Lasten nachdenken. Doch ist dies angesichts der politischen Frontstellungen nahezu ausgeschlossen.