Istanbul Post

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Die Woche vom 31. Juli bis zum 7 August 2020

Nach dem CHP-Parteitag verbreitete sich das Gerücht, dass der frühere Präsidentschaftskandidat Muharrem Ince eine eigene Partei gründen wolle. Dieser dementierte nicht, so dass sich ein neues Thema für die regierungsnahen Medien bot. Ein solches Thema ist angesichts des starken Wertverlustes der Türkischen Lira in dieser Woche auch nötig. Denn ein solcher Wertverlust geht stets mit steigender Inflation und Arbeitsplatzverlusten einher.

Abspaltungsgerüchte

Der CHP-Kongress vor dem Opferfest bot ein Bild großer Geschlossenheit. Mit 95 Prozent der Delegiertenstimmen wurde Kemal Kılıçdaroğlu zum Vorsitzenden wiedergewählt. Seine Gegenkandidaten erreichten nicht die nötige Anzahl von Stützunterschriften und auch sonst fand sich kaum eine Gelegenheit abweichende Positionen zum Ausdruck zu bringen.

Unmittelbar nach dem Parteitag brachte der Hürriyet-Kolumnist Yalçın Bayer die Behauptung auf, dass Muharrem İnce im September die Gründung einer eigenen Partei plane. İnce war zuvor mehrfacher Herausforderer von Kılıçdaroğlu und später auch Präsidentschaftskandidat. Während des Opferfestes gab er über einen Tweet bekannt, dass er „sobald er die Überzeugung erreicht habe, was für die Heimat richtig sei, eine Entscheidung fällen werde“.

Für das Gleichgewicht der verschiedenen politischen Strömungen, aus denen die CHP besteht, ist dies kein gutes Anzeichen. Der Verlust ihres nationalistischen Flügels wäre ein bedeutender Rückschlag und es wäre eine Rückkehr in die 1990er Jahre, als drei Parteien mit ähnlichem Profil um den Platz der heutigen CHP wetteiferten.

Viel wird vermutlich nun vom Verhalten des CHP-Vorsitzenden abhängen. Ein Übermaß an Geschlossenheit ist für eine heterogene Partei wie die CHP eine Zwangsjacke.

Eine künstliche Diskussion?

Dass der Vorstoß zur Wiedereinführung des Kalifats in der Türkei ausgerechnet von einer Zeitschrift erfolgte, die dem Regierungslager gehört, hat Wind in die Segel jener geblasen, die bereits zuvor erklärten, dass nach der Rückverwandlung der Agia Sofia von einem Museum in eine Moschee dies der nächste Schritt sein könnte, die konservativen Wähler des Regierungslagers zusammenzuhalten. Von der AKP erfolgte daraufhin ein klares Bekenntnis zur Republik.

Natürlich regten sich bei der Diskussion über die Wiedererrichtung eines türkischen Kalifats zugleich die mahnenden Stimmen, die auf die mangelnde Praktikabilität hinwiesen. Die Herrschaft über alle gläubigen Muslime würde voraussetzen, dass auch eine weltliche Herrschaft durchgesetzt werden könnte. Dabei macht einstweilen Staatspräsident Erdoğan keine Anstalten, das Prinzip einer Trennung von Religion (institutionell: Präsidium für religiöse Angelegenheiten, Diyanet) und weltlicher Herrschaft (Staatspräsident) vereinigen zu wollen. Ein Anlass beispielsweise hätte die Eröffnungspredigt der Agia Sofia als Moschee sein können. Doch diese überließ er dem Präsidenten des Diyanet. Dieser wiederum trat mit dem Schwert auf und zeigte damit wohl auch politische Ambitionen.

Osmanische Sultane waren sowohl Sultan als auch Kalif. Angesichts des aktuellen politischen Kräfteverhältnisses wäre eine solche Vereinigung – wenn sie gewollt wäre – nicht durchsetzbar. Und ein Kalifat, das weder im Innern noch in der Welt Autorität beanspruchen könnte, wäre nicht mehr als ein teures politisches Abenteuer.

Beabsichtigt ist vermutlich etwas anderes. Die Rückverwandlung der Hagia Sofia in eine Moschee kann als eine Geste an die Islamisten in der Türkei verstanden werden. Damit wurde emotional eine „psychologische Grenze“ überschritten. Mit der Kalifat-Diskussion und der Positionierung der AKP dagegen wurde eine Grenze wiederhergestellt. Dies dürfte auch zur Beruhigung der konservativen Wählerbasis der AKP beitragen, die vermutlich weitere politische Abenteuer nicht unbedingt begrüßen wird.

Einseitige Konfliktlösungen

Libyen, die Türkei und Malta erklären, dass es keine militärische Lösung im libyschen Bürgerkrieg geben wird. Der Schönheitsfehler: die Erklärung wäre umso glaubwürdiger, wenn auch Ägypten oder Russland in diese Erklärung einbezogen würde. Griechenland und Ägypten unterzeichnen einen Vertrag über die Grenze der nationalen Wirtschaftszonen im Mittelmeer. Im vergangenen Herbst hatten auch die Türkei und Libyen ein solches Abkommen unterzeichnet. Es wirkt ein wenig wie bei Kindern, die mit einem Stift Linien über das Meer ziehen. Die Türkei erklärt, sie werde das Abkommen nicht anerkennen, weil eigene Rechte verletzt werden. Und sie werde jeden Versuch verhindern, das griechisch-ägyptische Abkommen umzusetzen.

Es wäre ermutigend, wenn die Vereinten Nationen, denen die Anerkennung solcher Seegrenzen obliegt, bald Licht ins Dunkel bringen würde. Ein Schritt könnte zum Beispiel eine internationale Konferenz sein, bei der alle Beteiligten ihre Positionen vorbringen können, bevor es zu neuen unerwünschten Spannungen im östlichen Mittelmeer kommt.

Das syrische Erdöl

Erst hatte US-Präsident Trunp den Abzug der US-Truppen aus Syrien angeordnet. Es folgte die türkische Invasion auf die von den Demokratischen Kräften Syriens (DKS) und der kurdischen YPG kontrollierten Gebiete. Dann änderte Präsident Trump seine Meinung und erklärte, das US-Militär müsse zum Schutz der syrischen Erdölquellen im Land bleiben, wobei der eigentliche Schutz durch die DKS erfolgen sollte. Damit wurden zwei Ziele zugleich erreicht: zum einen wurde der syrischen Regierung auf absehbare Zeit die Perspektive verbaut, wieder in den Besitz dieser Ressourcen zu gelangen. Zum anderen sollte der Erlös aus dem Erdölverkauf zur Finanzierung der DKS dienen und damit zu Einsparungen von US-Ausgaben führen.

In dieser Woche nun haben die Demokratischen Kräfte Syriens ein Abkommen mit dem US-Unternehmen Delta Crescent Energy mit dem Ziel abgeschlossen, die Ölfelder zu entwickeln und zu modernisieren. Wie nicht anders zu erwarten, traf dieser Schritt auf Proteste sowohl der syrischen Regierung als auch Ankaras.

Neben finanziellen Vorteilen dürfte für die PYD/YPG bzw. die DKS eine Rolle gespielt haben, dass die Anerkennung eines solchen Vertrages die Souveränität dieser Gruppen über die in Frage kommenden Gebiete anerkennt. Immerhin soll dem Nachrichtenmagazin Al Monitor zufolge die Unterzeichnung des Vertrages „mit Kenntnis und Förderung Washingtons“ erfolgt sein.

Erneuter Absturz der Türkischen Lira

Im Juni und bis Ende Juli hatte sich der Dollar-Kurs kaum von einem Niveau um 6,85 TL bewegt. Kurz vor dem Opferfest gab es einen ersten Kurssprung auf ein Niveau um 7 TL. Und am 7. August bewegt sich der Dollar auf einer Höhe über 7,30 TL, der Euro über 8,60 TL. Die Börse Istanbul wiederum musste starke Verluste hinnehmen.

Als erste Reaktion auf die Kursverluste stiegen auf dem Finanzmarkt London die kurzfristigen TL-Zinsen über 100 Prozent. Vermutlich war erneut die Zufuhr von TL zu diesem Finanzplatz durch die türkischen Aufsichtsbehörden unterbunden worden. Der Rückgang der Börse Istanbul wurde u.a. damit erklärt, dass internationale Anleger mit Verpflichtungen in TL ihre Aktien veräußerten, um nicht die überhöhten Zinsen zahlen zu müssen.

Als Hintergrund für die knapp zweimonatige Stabilitätsphase der Türkischen Lira werden Stützkäufe durch türkische Staatsbanken betrachtet. In der Konsequenz überschritten die Staatsbanken ihre Defizitgrenze für Devisenschulden. Die Reserven der Türkischen Zentralbank wiederum sind stark zurückgegangen. Eine direkte Intervention in die Devisenkurse erscheint nicht möglich. In der vergangenen Woche gingen die Devisenreserven der Zentralbank um 4,5 Mrd. Dollar zurück. Der Verkauf von Wertpapieren in Höhe von 281 Mio. Dollar durch ausländische Anleger führt zu einer zusätzlichen Belastung der Zahlungsbilanz.

Die klassische Reaktion auf eine solche Entwicklung wäre eine Zinserhöhung. Diese ist jedoch nicht nur bei der Regierung unerwünscht, sondern würde für zahlreiche durch die Corona-Krise ohnehin angeschlagene Unternehmen eine weitere Belastung bedeuten. Nun versucht es die Zentralbank auf indirektem Wege: indem sie ihre TL-Vergabe an die türkischen Banken umstellt, erhöht sie deren Finanzierungskosten. Geld wird knapper, die Zinsen für die Endabnehmer bei Krediten und Guthaben werden steigen.

Unerwartet ist diese Entwicklung nicht, sie tritt nur rund einen Monat früher ein, als von der Finanzpresse erwartet.

Bei den früheren Abwertungsschüben der TL hatte die Türkische Zentralbank stets lange gewartet und sich zu einer Zinserhöhung erst entschlossen, als alle anderen Mittel ausgeschöpft waren. Dies hatte zur Folge, dass diese Zinserhöhung drastischer ausfiel, als sie möglicherweise bei einer früheren Zinsentscheidung ausgefallen wären. Es steht zu befürchten, dass dieser Fehler wiederholt wird.

Die Folgen der TL-Krise vom August 2018 sind noch nicht vergessen oder überwunden. Damals hatte der Kursverlust zu einem Inflationssprung geführt. Es kam zu einem Einbruch bei der Produktion und auf dem Arbeitsmarkt. Heute kommen noch die Folgen der Corona Pandemie hinzu. Bereits vor der Kursbewegung hatte Prof. Dr. Seyfettin Gürsel vom Institut für wirtschaftliche und gesellschaftliche Forschung der Bahçeşehir Universität darauf hingewiesen, dass allein die finanziellen Einbußen aufgrund der Quarantänemaßnahmen vermutlich erst in einer Spanne von zwei Jahren von den Haushalten wieder aufgeholt werden können.