Istanbul Post

Kurzmeldungen: Alle Kurzmeldungen

Die Woche vom 16. bis zum 23. Oktober 2020

Mit einigem Eifer werden die Streitereien in der Iyi Partei verfolgt. Politisch unerheblich ist es nicht, sollten diese Streits in die Abspaltung größerer Gruppen von dieser jungen Partei führen. Sie könnten dem Regierungsbündnis die Mehrheit sichern, die es in vielen Umfragen der letzten Monate verloren hat. Doch für die Bevölkerung dürften die Entwicklungen um die Pandemie sowie Teuerung und Arbeitslosigkeit vermutlich bewegendere Themen sein. Doch hier bewegt sich viel in der Grauzone – angefangen von den Infektionszahlen bis hin zu möglichen Gegenmaßnahmen.

Parteipolitik und Pandemie

Seit Tagen spricht der Gesundheitsminister davon, dass sich Istanbul zum Zentrum der Infektionen in der Türkei entwickelt habe. Bis auf wenige Ausnahmen sind die Stadtbezirke auf der vom Gesundheitsministerium veröffentlichten Karte in Rot getaucht. Größere Aussparungen deuten meist eher auf öffentliche Gebäude, Parks oder Industrieanlagen hin und nicht auf eine Nachbarschaft ohne Infektionsrisiko.

Wir erfahren, dass hinter den Kulissen eifrig über neue Gegenmaßnahmen diskutiert wird. Die Politik verweist dazu auf den Wissenschaftsrat, der neue Empfehlungen entwickeln werde. Doch wir wissen aus der Vergangenheit, dass die Entscheidungen der Regierung zwar gern auf den Wissenschaftsrat verweisen, jedoch die jeweiligen Maßnahmen dort nicht unbedingt diskutiert wurden. Doch ohnehin ist die Diskussion schwierig, so lange sich das Gesundheitsministerium weigert, die tatsächlich Zahl der täglich positiv Getesteten zu veröffentlichen.

Gänzlich geschmacklos wird es dann, wenn Istanbuls Oberbürgermeiser İmamoğlu von einer Konferenz des Gesundheitsministeriums zur Bekämpfung der Infektionsrisiken in Istanbul nur durch einen Tweet des Gesundheitsministers erfährt. Während dieser von „Mobilmachung“ gegen Corona spricht, wird der Oberbürgermeister der Stadt, weil er einer anderen Partei angehört, nicht hinzugezogen.

İmamoğlu wies zugleich auf ein konkretes Beispiel für die Kooperationsprobleme hin. Das Gesundheitsministerium will von der Großstadtverwaltung Istanbul die Daten von 8 Mio. Abonnenten der Istanbulkart, die hauptsächlich für den öffentlichen Nahverkehr eingesetzt wird. Ziel ist, sobald eine als infiziert registrierte Person ein öffentliches Verkehrsmittel benutzt, diese zu bestrafen. Die Metropole Istanbul dagegen erklärte, dass wenn die Daten der Infizierten zugleitet würden, die betreffenden Istanbulkarten für ungültig erklärt und beim Benutzen eines öffentlichen Verkehrsmittels eine Warnung erfolgen werde. Doch das Gesundheitsministerium hielt zwar die Datenweitergabe der MetropoleIstanbul für zulässig, nicht jedoch ihre Datenweitergabe über Infizierte an die Metropole.

Streit in der Iyi Partei

In einem Gespräch mit CNN Türk warf der Abgeordnete der Iyi Partei Ümit Özdağ dem Istanbul Provinzvorsitzendem seiner Partei vor, ein Gülen-Anhänger zu sein. Dieser reagierte empört und leitete eine Verleumdungsklage ein. Außerdem fordert er zusammen mit einer Reihe weiterer Kreis- und Provinzvorsitzenden den Ausschluss von Özdağ. Es wird jedoch davon ausgegangen, dass die Vorsitzende Meral Akşener von einem Disziplinarverfahren gegen Özdağ absieht und stattdessen das Gerichtsverfahren abwarten wird. Der Presse gegenüber erklärte sie, dass es sich um eine „erwartete Operation“ gegen ihre Partei handele. Zugleich unterstrich sie, dass sie innerparteiliche Demokratie für unverzichtbar halte.

Waffenstillstand in Libyen

Am 23. Oktober 2020 wurde in Genf ein unbefristeter Waffenstillstand zwischen der Regierung der nationalen Übereinkunft und den vom lybischen Parlament unterstützten Haffner-Milizen unterzeichnet. Viele Einzelheiten finden sich in der türkischen Berichtserstattung nicht. Bekannt ist, dass erstmals wieder Flüge zwischen den beiden Einflusszonen möglich werden. Außerdem sollen ausländische Truppen, Milizen und Söldner binnen drei Monaten das Land verlassen.

Ob dazu auch die türkischen Militärberater gehören? Die Türkei könnte sich auf ein bilaterales Abkommen berufen, das sie im vergangenen November mit der Regierung der nationalen Übereinkunft unterzeichnet hat. Doch auch hier gibt es breite Informationslücken. Ministerpräsident Sarraj hatte bis Ende Oktober 2020 seinen Rücktritt angekündigt. Wer sein Nachfolger sein könnte oder wie dieser bestimmt wird, lässt sich der türkischen Berichterstattung nicht entnehmen.

Erstaunlich wenig Interesse für wichtige Entwicklungen in einem Konflikt, an dem sich die Türkei offiziell und aktiv beteiligt hat…

Umgruppierung der türkischen Truppen in Idlib

Am 15. Oktober 2020 wurde außerdem gemeldet, dass die türkischen Truppen den Beobachtungsposten Morek zu räumen begonnen haben. Dieser liegt seit Monaten wie sechs weitere auch hinter den Linien auf dem von syrischen Regierungstruppen kontrollierten Gebiet im Westen Syriens. Die Kontrolle des Umfelds dieser Posten sowie die Überwachung ihrer Versorgung obliegt Russland, das bereits mehrfach eine Räumung dieser Posten angemahnt hatte. Ganz unlogisch wirkt diese Forderung nicht, denn sie waren auf der Grundlage einer Übereinkunft zwischen Russland und der Türkei gegründet worden, um die Entmilitarisierung einer Zone im Norden der syrischen Provinz Hama sowie Idlib zu überwachen. Seit den Offensiven der syrischen Regierungstruppen im Januar und Februar 2020 haben sich die Fronten jedoch verschoben und sind neue Entmilitarisierungszonen vereinbart worden.

Eine offizielle Erklärung der türkischen Regierung liegt nicht vor. Diese hatte die Offensiven zu Jahresbeginn als Bruch der Vereinbarung mit Russland bezeichnet und einen Rückzug auf die früher vereinbarten Linien gefordert. Dies war wohl auch die Begründung für die Aufrechterhaltung der Militärbasen. Man kann nur mutmaßen, was aktuell zur Umgruppierung der Positionen der türkischen Armee führt.

Fehmi Taştekin erklärt in einem Beitrag für die Nachrichtenplattform Gazete Duvar, dass die Einheiten aus Morek entlang einer neuen Vereidigungslinie der Milizen von Idlib entlang der beiden strategisch wichtigen Fernverkehrsstraßen M4 und M5 stationiert werden. Dies wäre eine militärische Machtdemonstration, die von neuen Angriffen auf das überwiegend von islamischen Milizen kontrollierte Gebiet abschrecken solle.

Man kann natürlich auch andere Spekulationen anstellen. Die Entscheidung fällt mit Entwicklungen in Libyen und im Krieg von Aserbaidschan mit Armenien um Bergkarabach zusammen. Bei letzterem hatte die türkische Regierung auf eine ähnliche Rolle wie in Libyen oder Syrien gedrängt: durch eine Übereinkunft mit Russland als Partei im Konflikt teilzunehmen. Russland wiederum zeigte kein Interesse, der Türkei im Kaukasus ein Terrain für militärische Interventionen zu öffnen. Mehrere Waffenstillstände zwischen Armenien und Aserbaidschan erwiesen sich als unzulänglich – derweil verzeichnet die aserbaidschanische Armee weitere Geländegewinne. Im ersten Krieg um Bergkarabach hatte sich Russland hinter Armenien gestellt und die Niederlage Aserbaidschans herbeigeführt. Armenien mag gehofft haben, dass Russland sich auch dieses Mal so verhält. Doch die russische Regierung versucht es einstweilen mit Vermittlungen. Doch ob sie bereit ist, einer vollständigen militärischen Niederlage Armeniens in diesem Konflikt zuzusehen, wird bezweifelt. Sollte es zu einer Intervention kommen, so hätte diese direkte Auswirkungen auf die türkisch-russischen Beziehungen, denn die Türkei betrachtet sich als Schutzmacht Aserbaidschans. Im Falle türkisch-russischer Spannungen wären die abgeschnittenen türkischen Posten in Syrien vermutlich einer der ersten Punkte, an dem Russland Druck auf die Türkei ausüben könnte. Die Aufgabe von zunächst einem und vielleicht dann auch der übrigen sechs Militärbasen in Syrien, die hinter den Linien der syrischen Regierungstruppen liegen, könnte auch die Vorbereitung auf eine Eskalation des Bergkarabach-Krieges sein.

Neues Umschuldungsprogramm für öffentliche Forderungen

Staatspräsident Erdoğan hat ein neues Programm für Zahlungserleichterungen für öffentliche Forderungen angekündigt, das 4,5 Mio. Bürgern Zahlungserleichterungen verschaffen soll. Vorgesehen ist eine Stundung, der eine Ratenzahlung folgen soll.

Es ist nicht das erste Programm dieser Art und vermutlich – trotz gegenteiliger Beteuerungen der Regierung – wohl auch nicht das letzte. Der Vorteil für die öffentlichen Kassen ist, dass zumindest ein Teil der Forderungen eingebracht werden können. Der Nachteil jedoch besteht darin, dass sich immer mehr Bürger darauf verlassen könnten, dass ohnehin ein Nachlass geboten werde und darum bei der Begleichung öffentlicher Forderungen erst recht zögern.

Ähnliches gilt für die Bestimmung, die in einem neuen Sackgesetz vorsieht, dass Steuerstrafen auf Vermögenswerte, die aus dem Ausland in die Türkei transferiert werden, entfallen sollen. Dies verschafft einen gewissen Devisen-Zustrom und verdirbt zugleich die Steuermoral.

500.000 Tablett-Computer für Schüler – durch Spenden

Die Aussicht, dass ein bedeutender Teil des Unterrichts auch in diesem Schuljahr per Fernunterricht erfolgen wird, hat das Augenmerk auf die enormen Defizite bei der Infrastruktur gelenkt. Während selbst der Fernseh-Unterricht Probleme aufwirft, gibt es beim interaktiven Internet-Unterricht sowohl auf der Server-Seite als auch bei den Endgeräten Probleme. Zu letzteren hat sich das Bildungsministerium das Ziel gesetzt, binnen weniger Monate eine halbe Million Tablett-Computer zu verteilen.

Im Budget war eine solche Verteilaktion nicht vorgesehen. Darum werden Spenden eingeworben. Am 24. Oktober berichtete die Tageszeitung Hürriyet über einen Auftritt des Bildungsministers mit dem Präsidenten des Guthabenversicherungsfonds TMSF. Dieser hat Spenden in Höhe von 20 Mio. TL zugesagt und ist damit der derzeit größte Spender.

Die Verteilung von Computern an Schülern ist – wenn sie systematisch und mit sinnvoller Begleitung erfolgt – auch unabhängig von der Pandemie eine Aufgabe von Priorität. Doch ist der Guthabenversicherungsfond eine öffentliche Institution. Sie hat klare Aufgaben. Zum einen schützt sie die Spareinlagen der kleinen Leute gegen das Konkursrisiko von Banken. Zum anderen hat der Fond seit der Jahrtausendwende durch die Abwicklung von Forderungen gegenüber gescheiterten Banken auch ein bedeutendes Treuhand-Portefeuille aufgebaut. Mit den Massenübernahmen von Unternehmen im Zuge der Bekämpfung der Gülen Gemeinschaft ist der TMSF einer der größten Wirtschaftsakteure der Türkei geworden. Doch bis zum Abschluss der Verfahren sind diese Unternehmen nicht verstaatlicht, sondern befinden sich in Treuhand. Von welchem Geld der TMSF nun 20 Mio. TL für Tablett-Computer spendet, bleibt offen.

Schlechte Stimmung

Eine Umfrage des Ipsos Instituts ergab, dass 59 Prozent der Befragten erwartet, dass „eine schwierige Zeit“ vor ihnen liege. Im Juli hatte dieser Prozentsatz noch bei 54 Prozent gelegen. Nur 22 Prozent glauben, dass die schwierigen Tage hinter uns liegen. In niedrigen Einkommensgruppen liegt die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, bei 94 Prozent. In höheren Einkommensgruppen immer noch bei 70 Prozent. Die Befürchtung, am Monatsende die laufenden Rechnungen nicht begleichen zu können, lag in der höheren Einkommensgruppe bei 70 Prozent, in der niedrigen Einkommensgruppe bei 90 Prozent.

Eine erklärungsbedürftige Zinsentscheidung

Am 22. Oktober 2020 entschied die türkische Zentralbank den offiziellen Leitzins bei 10,25 Prozent zu belassen. Doch seit mindestens zwei Wochen liegt der reale Zins für die Geldversorgung der Banken durch die Zentralbank bei mehr als 11 Prozent. Dies liegt einfach daran, dass die Zentralbank die wöchentliche Repo-Ausschreibung, für die der offizielle Leitzins steht, nicht vornimmt. Darum müssen die Banken andere Finanzierungsinstrumente mit höheren Zinsen benutzen. Am teuersten ist der Zinssatz für das „späte Liquiditätsfenster“. Es handelt sich um eine Art Strafzins, der auf Banken angewendet wird, denen bis zum Handelsschluss nicht ausreichend Geldmittel zur Verfügung stehen. Dieser Zinssatz wurde mit der jüngsten Zentralbankentscheidung um 1,5 Prozentpunkte angehoben. Damit werden die durchschnittlichen Finanzierungskosten der Banken vermutlich weiter steigen.

Der sogenannte Zinskorridor zwischen dem offiziellen Leitzins und dem späten Liquiditätsfenster ist ein in den letzten Jahren von der türkischen Wirtschaftspolitik gern genutztes Instrument. Auf dem Papier wird keine Zinserhöhung vorgenommen, denn die ist insbesondere beim Staatschef unpopulär. In der Praxis jedoch werden die Zinsen stark erhöht, was sachlichen Erfordernissen entspricht. Und es bedarf keiner Gremiensitzung, um die Zinsen zwischen der Ober- und Untergrenze zu justieren.

Der Türkischen Lira hat dieses Vorgehen nicht gut getan. Unmittelbar nach der Entscheidung verlor sie 20 Kurusch an Wert. Der Dollar liegt nur bei 7,94 TL, der Euro bei 9,40 TL.