Istanbul Post

Kurzmeldungen: Alle Kurzmeldungen

Die Woche vom 22. bis zum 29. September 2023

Die Bestätigung von fünf Haftstrafen im Gezi Prozess hat national wie international Kritik hervorgerufen. Nach einem Eingriffsversuchs der Regierung in das Programm des internationalen Filmfestivals Antalya wurde es abgesagt. Die Erhöhung des Strompreises für gewerbliche Kunden um 20 Prozent ab Oktober dürfte der Inflation neuen Auftrieb verschaffen.

Fünf Haftstrafen im Gezi Prozess bestätigt

Der Kassationsgerichtshof hat die lebenslängliche Freiheitsstrafe wegen „versuchtem Staatsstreich“ gegen Osman Kavala sowie die je 18jährigen Strafen gegen Cem Atalay, Mine Özerden, Tayfun Kahraman sowie Çiğdem Marter bestätigt. Demgegenüber wurden die Schuldsprüche gegen Mücella Yapıcı, Ali Hakan Altınay sowie Yiğit Ali Ekmekçi aufgehoben. Mit diesem Urteil kommt der Kassationsgerichtshof zu dem Schluss, dass die Gezi Park Proteste 2013 von den Angeklagten bereits zwei Jahre zuvor vorbereitet wurden.

Auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofes ging der Kassationsgerichtshof nicht ein. Dieses war im Fall von Osman Kavala zu dem Schluss gekommen, dass dessen Anklage und Inhaftierung nicht rechtlich, sondern politisch motiviert sind. Er fordert darum die unverzügliche Freilassung von Osman Kavala. Zwar hat sich der Europarat dieser Bewertung angeschlossen. Auf mögliche Sanktionen gegen die Türkei aufgrund ihrer Verletzung von Verpflichtungen aus der Europäischen Menschenrechtsdeklaration wird jedoch bisher verzichtet.

Bei den Oppositionsparteien in der Türkei stieß das Urteil auf scharfe Kritik. Demgegenüber erklärte Justizminister Tunç, dass die Aufwiegelung von Massen, Brandstiftung und Unruhen, bei denen Dutzende zu Tode gekommen seien, nicht ungesühnt bleiben dürften. In dieser Darstellung wird der überwiegend friedliche Protest, der sich über das ganze Land verbreitet hatte, zu einem bewaffneten Aufstand.

Wieder Ärger mit dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof

Der Lehrer Yüksel Yalçınkaya wurde am 21. März 2017 zu einer Freiheitsstrafe von 6 Jahren und 3 Monaten wegen Mitglied in der Gülen Gemeinschaft verurteilt. Die Anklage stützte sich auf die Kommunikationssoftware Bylock, die von Gülen Anhängern verwendet wurde, auf ein Konto bei der von der Gülen Gemeinschaft kontrollierten Bank Asya sowie der Aussage eines geheimen Zeugen. Nachdem der Rechtsweg in der Türkei ausgeschöpft war, wandte er sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und erhielt dort Recht.

Justizminister Tunç wiederum erklärte, dass der Europäische Menschenrechtsgerichtshof seine Kompetenzen überschritten habe. Dieser dürfe nicht selbst Beweise prüfen oder bewerten. Das Problem: es gibt Vorwürfe, dass bei Nutzern von ByLock und Kunden der Bank Asya selektiv vorgegangen wird. Die Problematik von geheimen Zeugen wiederum liegt auf der Hand, denn es können weder Rückfragen der Verteidigung gestellt noch die Motive der Zeugenaussage aufgeklärt werden. Die Brisanz wiederum liegt darin, dass es Tausende ähnliche Verfahren gibt.

Zensur beim internationalen Antalya Filmfestival

Der Dokumentarfilm „Kanun Hükmü“ (Gesetzeskraft) schlägt bereits hohe Wellen, bevor er in der Öffentlichkeit gezeigt wird. Er handelt vom Leben zweier Personen, die nach dem missglückten Militärputsch per Verordnung mit Gesetzeskraft aus dem öffentlichen Dienst ausgeschlossen wurden. Das Ministerium für Kultur und Tourismus als einer der Sponsoren des bekanntesten türkischen Filmfestivals erklärte, dass dieser Film nicht in das Programm aufgenommen werden dürfe, weil er Propaganda für die Gülen Gemeinschaft mache, die in der Türkei als Terrororganisation eingestuft wird.

Daraufhin wurde der Film zunächst aus dem Festivalprogramm genommen. Nach breiten Protesten wurde der Film jedoch wieder zugelassen. Daraufhin erklärte der Justizminister, dass eine solche Terrorpropaganda nicht zugelassen werden könne. Zugleich erklärten Turkish Airlines und Corendon Airlines ihren Rücktritt von der Sponsorenschaft für das Festival. Der Geschäftsführer von Corendon Airlines erklärte gegenüber der Tageszeitung Birgün, dass man dem Ministerium folgen müsse.

Die Regisseurin des Films Nejla Demirci berichtet außerdem, dass bereits die Dreharbeiten des Films durch ein Landratsamt behindert wurden. Sie führte Beschwerde beim Verfassungsgericht, das einen Verstoß gegen die Meinungsfreiheit feststellte.

Der Film wurde ein zweites Mal aus dem Festivalprogramm gestrichen. Zum ersten Mal seit 1979 wurde das Festival – wieder aus demselben Grund – abgesagt. Die Diskussion wird anhalten.

Was wollen sie beweisen?

Zülküf Uçar, Abgeordneter der Partei der linken grünen Zukunft, weist darauf hin, dass die Provinzverwaltung in Van seit neun Wochen an Wochenenden ein Kundgebungsverbot verhängt. Die Verfahrensweise ist immer dieselbe: Freitags zum Ende der Öffnungszeit der Verwaltungen wird das Verbot verhängt, ein Einspruch ist erst am Montag möglich. Doch da ist das Verbot bereits vorbei. Ziel ist vermutlich die Kundgebung des Türkischen Menschenrechtsvereins in Van, die samstags auf das Schicksal von Personen hinweist, die in Polizeigewahrsam verschwunden sind.

Das Ziel ist offensichtlich. Der Menschenrechtsverein soll an seiner Kundgebung gehindert werden. Doch der Ablauf birgt wohl noch eine Botschaft. Die Einspruchsmöglichkeit wird unterlaufen. Den Menschen wird gezeigt, dass sie kein Versammlungsrecht haben. Dass sie sich fügen sollen.

Die Parteitage der CHP

Für den ordentlichen Parteitag wurde jetzt der 4./5. November 2023 festgelegt. Bei diesem Parteitag geht es dann auch um die Wahl des Vorsitzenden. Neben dem amtierenden Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu stellen sich der vom Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu unterstützte Fraktionsvorsitzende Özgür Özel sowie Örsan Öymen zur Wahl. Bei einem zweiten Parteitag am 25./26. November 2023 soll es anschließend um Satzungsänderungen gehen.

Zuvor werden auf den Provinzparteitagen die Delegierten für den großen Parteitag gewählt. Während der Parteitag in Ankara bereits am vorherigen Wochenende durchgeführt wurde, findet der in Istanbul erst am 8. Oktober statt. Aufgrund der hohen Delegiertenzahl beider Provinzen kommt diesen Parteitagen eine besondere Bedeutung zu.

Ebenfalls in dieser Woche hat der Hohe Wahlrat bekannt gegeben, dass die Vorbereitungen für die Kommunalwahl offiziell am 1. Januar 2024 beginnen. Viel Zeit für die Vorbereitung bleibt der CHP also nicht.

Weichenstellung bei der HDP

Mit dem Beschluss, aufgrund des schwebenden Verbotsverfahrens die aktive politische Arbeit der HDP bei der Partei der linken grünen Zukunft (YSP) fortzuführen, wurde ein intensiver Prozess der Diskussion mit der Parteibasis eingeleitet, der den Sommer hindurch andauerte. Er findet seinen Abschluss beim Parteitag am 15. Oktober 2023, bei dem die neuen Ko-Vorsitzenden gewählt und die Namensänderung verabschiedet werden. Als neuen Namen der Partei wurde „Partei demokratischer Völker“ (DHP) gewählt. Neben der Umbenennung sind außerdem zahlreiche Satzungsänderungen vorgesehen.

Einem Bericht des türkischen Dienstes der BBC zufolge gelten zurzeit als aussichtsreichste Kandidaten für den Vorsitz der Abgeordneten Tülay Hatimoğulları Oruç (Adana) und Tuncer Bakırhan (Siirt).

Inflation nützt vor allem Großunternehmen

In einem Beitrag für die Wirtschaftsplattform ekonomim hat sich Ismet Özkul mit der Statistik der Unternehmensbilanzen des Türkischen Statistikinstituts 2022 auseinandergesetzt. Ein erster Befund ist, dass die Zahl der Unternehmen im vergangenen Jahr um 4,56 Prozent, die Gesamtbeschäftigung um 3,34 Prozent gestiegen ist. Der zahlenmäßige Anstieg ist bei den Mikro- und Kleinunternehmen am größten, was nicht verwunderlich ist. Der Rückgang bei den mittleren und Großunternehmen wiederum geht vor allem auf die aufgrund der Inflation verdoppelten Bilanzklassen zurück. Ein interessantes Ergebnis ist, dass fast die Hälfte des Beschäftigungsanstiegs auf die Großunternehmen entfiel, während die durchschnittliche Beschäftigungszahl in Mikrounternehmen auf 2 Personen fiel.

Das Bild wird durch die Studie zu den 500 größten Industrieunternehmen abgerundet, die jährlich von der Industriekammer Istanbul präsentiert wird. Spannender als die Frage der Rangfolge ist jedoch, was sich aus den Bilanzen der Unternehmen über die Entwicklung in der Großindustrie ablesen lässt. So sind die Unternehmensgewinne bereinigt um den Verbraucherpreisanstieg um 33,3 Prozent gestiegen. Zieht man den relevanteren Erzeugerpreisindex heran, lag der Anstieg bei 10,8 Prozent. Während insgesamt die Aufwendungen für Finanzierungen sanken, gehört zu den Details, dass zugleich die Schulden der Unternehmen untereinander anstiegen. Dies wird auf die Probleme an Kredite zu gelangen zurückgeführt. Auch wurde statt Kredite zu nutzen verstärkt auf Eigenkapital zurückgegriffen.

Positives Signal von Standard & Poors

Das internationale Kreditrankinginstitut verbesserte die Begleitnote der Türkei von „negativ“ auf „neutral“. Zur Begründung wurde auf die Zinserhöhungen sowie die Steuererhöhungen verwiesen, mit denen das Haushaltsdefizit reduziert werden soll. Die Wirksamkeit und Vorhersehbarkeit der Geld- und Finanzpolitik seien gestiegen und im Falle einer Stärkung der Zentralbankreserven auch eine weitere Erhöhung der Begleitnote auf „positiv“ möglich.