Istanbul Post

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Die Woche vom 23. Februar bis zum 1. März 2024

Politisch dominierten die Kommunalwahl und die Verabschiedung einer Justizreform (8. Paket) die Tagesordnung. Das Wirtschaftswachstum im vierten Quartal 2023 wurde von denen einen als Erfolg, von den anderen als Zeichen für Stagnation bewertet. Doch stärker noch wurde über den Wert der Türkischen Lira gegenüber anderen Währungen diskutiert.

Ungewisse Wahlen

Fünf Wochen vor dem Wahltermin hat der Parteirat der CHP die Wahlstrategie beraten. Dabei wurde dazu aufgerufen, die parteiinternen Diskussionen bis nach der Wahl auszusetzen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich ein Großteil ihrer Aktivitäten auf die Bestimmung der Kandidaten konzentriert. Viel Zeit bleibt ihnen nicht, um sich und ihre Ziele bekannt zu machen.

Anderen Parteien geht es nicht viel besser, AKP und MHP jedoch haben die Kandidatenfindung früh abgeschlossen und haben zwei bis drei Wochen Vorsprung. Bedenkt man zudem noch den sehr ungleichen Medienzugang, müssen sich die anderen Parteien enorm anstrengen, um unentschlossene Wählerinnen und Wähler noch zu erreichen.

Betrachtet man die veröffentlichten Umfragen, sind bedeutende Veränderungen gegenüber den Wahlen im vergangenen Jahr nicht zu erwarten. Doch bei der Kommunalwahl können wenige tausend Stimmen entscheidend sein. Als mögliche Gewinner der Wahl werden vor allem kleine Parteien vermutet. Die neue Wohlfahrtspartei (YRP), die Türkische Arbeiterpartei (TIP) und die rechtsextreme Siegespartei (Zafer Partisi).

Aus Van berichtet die Nachrichtenplattform Gazete Duvar, dass die YRP dort in den letzten Monaten ihre Mitgliederzahl um 200 Prozent steigern konnte. 80 Prozent der Neuzugänge waren zuvor bei der AKP. Einige frühere AKP-Bürgermeister, die nicht erneut aufgestellt wurden, sind zur YRP gewechselt. Aber es wird auch angenommen, dass es die Verschmelzung der AKP mit dem Staatsapparat ist, die konservative Wähler zur YRP führt.

Der zerstrittene Eindruck, den die CHP in den letzten Monaten bot, und der politische Schwenk bei der Iyi Partei könnten TIP und Zafer Partei zu Gute kommen.

Wenige Wochen vor der Wahl fällt die Häufung eines bestimmten Typs von Aussagen beim Regierungslager auf. „Während unserer Regierungszeit erreichte die Pressefreiheit ihren Gipfel“ oder zuletzt auch der Justizminister „die Wahlen in der Türkei sind ein weltweites Vorbild für Transparenz“. Wie erfolgreich sie die Wirtschaft führen haben sie ohnehin stets erklärt. Funktioniert Propaganda wirklich so einfach? Oder greifen solche Slogans nur jenen, die ohnehin an sie glauben wollen? Umgekehrt erscheint es auch in Wahlkampfzeiten nicht wirklich überzeugend, wenn der Einwand gegen AKP oder MHP geführte Kommunen darin besteht, dass diese durch Cliquen getragen werden, die sich selbst bereichern wollen und ansonsten inkompetent sind. Bei aller Kritik die Erfolge der politischen Gegenseite einzugestehen und zu würdigen, würde vielleicht ein erster Schritt zu überzeugenderer Politik sein.

Verfassungsgericht stellt Kompetenzen des Staatspräsidenten klar

2018 erließ Staatspräsident Erdoğan seine Präsidialverordnung Nr. 1, mit der er nicht nur die Ministerien neu gliederte, sondern auch in das öffentliche Dienstrecht und die Kommunalverwaltungen eingriff. Nun hat das Verfassungsgericht 37 Bestimmungen dieser Verordnung aufgehoben, weil der jeweilige Sachverhalt ausschließlich durch Gesetz zu regeln sei. Manche Themen wirken auf den ersten Blick recht technisch, andere sind von grundsätzlicher Bedeutung. So wurde mit der Verordnung der Personalverwaltung der Präsidialverwaltung die Aufgabe erteilt, zu leitenden Angestellten und Beamten „Informationen zu sammeln“. Dies bewertete das Verfassungsgericht als Eingriff in den Datenschutz, der nur gesetzlich vorgenommen werden kann.

Aufgehoben wurde auch die Übertragung einiger Kompetenzen der Kommunalverwaltungen bei der Stadtplanung an das Ministerium für Stadt, Umwelt und Klimawandel.

Die Regierung hat nun neun Monate Zeit, beim Parlament die Gesetzesgrundlage der aufgehobenen Bestimmungen zu erwirken.

Der Wert der Türkischen Lira

Die Zentralbank hatte in der Presseerklärung zur Zinsentscheidung in der vergangenen Woche angemerkt, dass sie mit einem Wertanstieg der Türkischen Lira rechnet. Der Realwert der Türkischen Lira wird mit verschiedenen Indexen gemessen. Die beiden wichtigsten sind ein Warenkorb von Devisen, dessen Wertanstieg um den Verbraucherpreisindex oder den Erzeugerpreisindex bereinigt wird.

Über Sinn und Wirkung einer Aufwertung der Türkischen Lira ist daraufhin unter Wirtschaftskolumnisten eine breite Diskussion entstanden. Auf der einen Seite hatten Exporteure-Vereinigungen bereits seit dem letzten Herbst gemahnt, dass eine Aufwertung der TL die Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigen werde. Doch ist der Wert der TL zurzeit überhöht? Betrachtet man die oben erwähnten Indexe, kann man dies nicht bestätigen. Auf der Grundlage des Verbraucherpreisindexes ist die TL (2003=100) im Januar 2024 mit 56,95 Punkten ausgesprochen „billig“. Lebt man die Erzeugerpreise zugrunde ergibt sich ein Indexwert von 86,53 Punkten. Dabei kommt jedoch hinzu, dass die Indexwerte allein keine große Aussagekraft haben. Für Exportunternehmen beispielsweise ist die Entwicklung des Indexes von höherer Wichtigkeit, wenn es darum geht beispielsweise Preise zu kalkulieren. Und da ergibt sich dass Bild, dass die TL im Januar 2024 um 17 % gegenüber Juli 2023 aufgewertet ist. Gegenüber Dezember 2023 sind es nur drei Prozent.

Während einige Ökonomen darauf hinweisen, dass es unsinnig sei, internationale Wettbewerbsfähigkeit mit Devisenkursen erreichen zu wollen und auf Produktivitätssteigerungen als Erfolgsrezept verweisen, heben andere hervor, dass nicht ein bestimmtes Kursniveau, sondern eine vorhersehbare Entwicklung entscheidend für das Wirtschaftsumfeld sei.

Der Wert der TL hängt jedoch auch von den Zentralbankreserven ab. Hier zeigt sich seit Dezember ein kontinuierlicher Rückgang der Netto-Reserven. Eine befriedigende Erklärung durch das Präsidium der Zentralbank oder Finanzminister Şİmşek gibt es nicht. Modellberechnungen gehen davon aus, dass die Zentralbank in den ersten sieben Wochen des Jahres 10 Mrd. Devisen verkauft haben könnte. Wenn dies zutrifft, ergibt sich ein Glaubwürdigkeitsproblem für die Wirtschaftsführung. Denn diese hatte erklärt, dass mit Devisenverkäufen unter der Hand aufgehört werde.

Besserung beim produzierenden Gewerbe

Die Industriekammer Istanbul gibt zusammen mit S&P Global Intelligence einen Index heraus, der auf Einschätzungen von Einkaufschefs im produzierenden Gewerbe (PMI) zurückgeht. Der Schwellenwert ist 50 und erstmals seit Juni 2023 wieder mit 50,2 Punkten im positiven Bereich. Zwar setzte sich der Rückgang bei Neuaufträgen sowohl aus dem Inland als auch dem Ausland fort, doch verringerte sich das Ausmaß. Demgegenüber wurden erstmals wieder Produktionsanstiege verzeichnet, der in fünf Sektoren auch mit einem Personalzuwachs verbunden war. Interessant ist, dass bei einem abgeschwächten Preisanstieg der Rohstoffe sich der Anstieg beim Verkaufspreis der fertigen Produkte stärker erhöhte.

Auf der anderen Seite wird als Sektor mit dem stärksten Zuwachs die Nahrungsmittelindustrie angegeben. Dass diese unmittelbar vor dem Ramadan sowohl bei Produktion und Absatz Zuwächse verzeichnet, sollte normal erscheinen. Mit der Bedrohung der Handelsrouten im Roten Meer stehen in Europa wie in der Türkei erneut die Lieferketten auf der Tagesordnung. Für die Türkei ist diese Entwicklung sowohl eine Bedrohung als eine Chance. Von einer Chance kann gesprochen werden, weil europäische Unternehmen noch einmal nach der Pandemie auf den Aspekt der Verkürzung von Lieferketten hingewiesen werden. Doch als Risiko steht auch im Raum, dass auch türkische Unternehmen auf Zulieferprodukte aus Südost-Asien angewiesen sind. Mit der Verlängerung des Konflikts im Roten Meer kann zudem – ebenso wie während der Pandemie – mit einer Verlängerung der Lieferzeiten, höheren Seefrachttarifen und schließlich auch wieder einem Containermangel gerechnet werden.

Ein Problem der Berichterstattung

Liest man regierungsnahe Medien, steigt die türkische Wirtschaft zu den Sternen auf. Liest man Oppositionsmedien befinden wir uns in ständiger Gefahr neuer Krisen. Und dann gibt es noch die Eigendynamik des Internets. Es ist einfach eine Nachricht zu kopieren und in einem eigenen Medium zu veröffentlichen. Es gibt dann eine Inflation von Meldungen gleichen Inhalts, die die Suche nach Fakten erschweren.

Die Nachricht vom gerichtlichen Konkursbeschluss gegen Sel Süt wurde mit der Schlagzeile kommuniziert: „Riesiges Milchunternehmen ist pleite“. Dann wird auf tausende bedrohte Arbeitsplätze hingewiesen.

An Firmeninformationen im eigentlichen Sinne ließ sich über eine recht zeitraubende Recherche nur eine Untersuchung der Wettbewerbsaufsicht Konya und ein Beschluss zu einer Umweltverträglichkeitsprüfung finden. Eine eigene Webseite hat das Unternehmen nicht – was bei einem „riesigen Unternehmen“ doch recht eigenartig anmutet. Aus dem Beschluss zur Umweltverträglichkeit geht hervor, dass Sel Süt eine Molkerei im Organisierten Industriegebiet in Konya betreibt und nichts gegen deren Ausbau spricht. Im Beschluss der Wettbewerbsbehörde wird erklärt, dass Sel Süt 2004 gegründet wurde und zu den „traditionellen Milchverarbeitern“ – die sie von modernen Molkereien unterscheidet – gerechnet.

Der Konkurs einer Molkerei ist eigentlich spannend, weil er in viele Richtungen ausstrahlt. Bei einer Großmolkerei sind zunächst Produzenten und Zulieferer, d.h. Milchbauern und Futtermittelerzeuger betroffen. Ein zweites Segment ist die Sammlung der Milch und die Organisation der Kühlkette. Dann gibt es noch die Molkerei und mögliche Wirkungen auf den Einzelhandel. Ein zweiter Aspekt, der ein genaueres Hinsehen lohnend erscheinen lässt, sind Angaben zu den Ursachen. Aus dem Gerichtsurteil ergibt sich jedoch nur der klassische Konkursfall – die Unfähigkeit eine Verbindlichkeit zu begleichen.

Da eine Molkerei in der Regel nicht über „tausende von Arbeitsplätzen“ verfügt, wird eine Einschätzung der Folgen für die Lieferketten von der Abwicklung des Unternehmens abhängen und sich mit der Zeit erweisen.