Istanbul Post

Kurzmeldungen: Alle Kurzmeldungen

Die Woche vom 15. bis zum 22. Februar 2019

Die Parteien befanden sich die Woche hindurch im Endspurt für die Kandidatennominierung für die Kommunalwahl. Doch für den politisch interessierten Teil der Öffentlichkeit dürfte vermutlich die Bestätigung der Urteile gegen Mitarbeiter der Tageszeitung Cumhuriyet sowie die Anklageschrift zu den Gezi Park Protesten größere Aufmerksamkeit gefunden haben.

Die Woche hindurch hielt der Wertverlust der Türkischen Lira an. Der Bausektor musste im Januar einen bedeutenden Einbruch bei den Wohnungsverkäufen hinnehmen. Das Verbrauchervertrauen ging weiter zurück.

Nach fünf Jahren der Gezi Park Prozess

Am 20. Februar 2019 reichte die Staatsanwaltschaft eine Anklageschrift mit Zentrum Gezi Park Proteste ein. Hauptbeschuldigter ist Osman Kavala, der seit 16 Monaten in Untersuchungshaft sitzt und dem die Organisation der Proteste vorgeworfen wird. Mit ihm zusammen wird gegen 16 Personen erschwerte lebenslängliche Haft gefordert, weil sie versucht hätten, die Türkisch Republik zu beseitigen.

Die Gezi Park Proteste waren im Sommer 2013 die größte Protestbewegung der jüngeren türkischen Geschichte. Ausgelöst wurden sie durch ein brutales Vorgehen gegen Demonstranten, die gegen die Vernichtung des Gezi Parks im Herzen Istanbuls protestierten. Die Proteste verliefen überwiegend friedlich und breiteten sich über das ganze Land aus. Eine Besonderheit der Protestbewegung war, dass sie von keiner Partei geführt wurde.

Amnesty International reagierte auf die Anklageschrift mit der Bemerkung, dass nicht ein Verfahren gegen die Demonstranten sondern wegen des unverhältnismäßigen polizeilichen Gewalteinsatzes angebracht sei. Und bereits mit der Anklageschrift dürfte deutlich sein, dass hier eine neue Hypothek für die Beziehungen der Türkei zu Europa aufgenommen wird.

Die Gründe, ein solches Verfahren dennoch zu beginnen, lassen sich in mehrere Gruppen teilen. Die Polarisierung der Gesellschaft war eine wichtige Strategie der AKP, mit der sie seit 2002 alle Wahlen und Abstimmungen gewonnen hat. Ein anderer Aspekt ist zudem, dass die spontane Protestwelle vermutlich nach wie vor ein Trauma nicht für die Politik, sondern auch für den Sicherheitsapparat darstellt. Nicht nur aus der Abneigung, Verantwortung für eigene Entscheidungen zu übernehmen, sondern auch aus dem Bedürfnis, eine schematische Erklärungsweise für diese Entwicklung zu finden, wurde die These von "ausländischen Agenten" und einem "Terrorcocktail" entwickelt. Diese These nun durch ein Gerichtsverfahren weiter zu legitimieren, dürfte ein weiteres Anliegen sein.

Das Gericht hat nun zwei Wochen Zeit, die Anklageschrift zu prüfen. Eine Zurückweisung wäre eine Überraschung.

Noch einmal: der Prozess gegen die Tageszeitung Cumhuriyet

Erstinstanzlich waren zahlreiche Mitarbeiter und Vorstandsmitglieder der Tageszeitung Cumhuriyet schuldig gesprochen und gegen sie Strafen von 2 – 7 Jahren Haft verhängt worden. Im Kern lautete der Vorwurf, die Angeklagten hätten die Redaktionslinie der Zeitung geändert, um eine Terrororganisation zu unterstützen, ohne selbst deren Mitglied zu sein. Die "Änderung einer Redaktionslinie" dürfte vermutlich ein Novum in der internationalen Rechtsprechung darstellen.

Nun wurde der Schuldspruch in zweiter Instanz durch das Regionalgericht Istanbul bestätigt. Diese Bestätigung erging ohne neuen Prozesstermin nach Aktenlage. Eine solche Verfahrensweise ist zwar zulässig, wenn das Gericht davon ausgeht, dass bei einer erneuten Anhörung der Angeklagten keine Änderung am Urteil erfolgen werde. Doch angesichts der Einzigartigkeit der "Schuld" und der nationalen wie internationalen Kritik an diesem Urteil hätte größere Sorgfalt dem Berufungsgericht gut angestanden.

Das Berufungsurteil hat für die Betroffenen unterschiedliche Folgen. Diejenigen, die zu einer Strafe von mehr als fünf Jahren Haft verurteilt wurden, können Berufung beim Kassationsgerichtshof einlegen. Für diejenigen mit einer Strafe darunter wird das Urteil rechtskräftig. Dies bedeutet zumindest für sechs der Verurteilten, dass sie erneut ins Gefängnis müssen. In einem Kommentar für die Tageszeitung Hürriyet weist Sedat Engin auf eine weitere Problematik hin: Was passiert, wenn der Kassationsgerichtshof zu dem Schluss kommt, dass das Urteil aufgehoben werden muss? Der Spruch des Regionalgerichts müsste dann revidiert werden. Doch durch die erneute Haft wäre weiteres Unrecht geschehen.

Datenhunger

Im Zuge einer neuen Untersuchungsstrategie zur Bekämpfung der Gülen Gemeinschaft erfährt die Öffentlichkeit, dass anscheinend Telefondaten fast über ein  Jahrzehnt hinweg gespeichert werden. Die Abteilung für Terrorismusbekämpfung der Polizei teilt mit, dass 7,5 Mio. Telefondaten festgestellt wurde, bei denen von einem öffentlichen oder einem Festnetztelefon ein Angehöriger der Armee angerufen wurde.

Solche Anrufe spielen bei den aktuellen Ermittlungen gegen Bemühungen zur Wiederbelebung der Gülen-Strukturen eine wichtige Rolle. Führungspersonen der Gülen Organisation stellen Kontakt zu Anhängern nicht mehr über chiffrierte Kommunikationsprogramme, sondern durch Kurzanrufe von öffentlichen Telefonen her.

Bleibt noch die Frage, wie umfangreich das gespeicherte Material ist. Vermutlich sind es Kennung des anrufenden Apparats, Zielapparat und Dauer. Aber wer weiß? Vielleicht werden auch Anrufinhalte über Jahrzehnte aufbewahrt? Man kann ja nie wissen, wann man sie wieder braucht…

Sexueller Übergriff bei einer Festnahme

Der Verein der Angehörigen politischer Gefangener TAYAD wird von den Sicherheitskräften dem Umfeld der DHP-C zugerechnet. Nicht zuletzt aus diesem Grund wird gegen TAYAD Aktionen massiv vorgegangen. Am vergangenen Wochenende hat nun eine Studentin sich für TAYAD in einem öffentlichen Protest eingesetzt. Sie wurde festgenommen. Doch bei den Fotos von der Festnahme ergab sich ein Detail, das für einige Diskussionen sorgte. Die kopftuchtragende Studentin wird von zwei Polizisten abgeführt. Doch die Hand des einen Polizisten befindet sich auf ihrem Hintern, zwischen ihren Beinen. Dieser "Griff" gehört nicht zu den polizeiüblichen Maßnahmen beim Abführen von Gefangenen.

Jenseits der Frage, ob eine Festnahme angemessen war, sorgte insbesondere die Äußerung von Innenminister Soylu für Empörung. Dieser erklärte, der Vater der Studentin sei ein FETÖ-Anhänger, der Bruder sei DHKP-C Anhänger, die Frau sei also eine "Projekt-Frau". Er übersah bei dieser Äußerung wohl geflissentlich, dass die Studentin keine Chance hatte, die Hand des Polizisten an besagte Stelle zu legen. Das Opfer zu beschuldigen, gehört zu den Abwehrstrategien des türkischen Sicherheitsapparats gegen Misshandlungsvorwürfe. Da sich weder Staatspräsident noch AKP bemüßigt fühlen, sich von den Ausbrüchen des Innenministers zu distanzieren, müssen sie sich seine Äußerungen zurechnen lassen.

Europaparlament empfiehlt Aussetzung der Beitrittsverhandlungen

Auch wenn die abschließende Abstimmung über die Stellungnahme des Europaparlaments zum Beitrittsprozess der Türkei erst im März stattfindet, hat der Entwurf im außenpolitischen Ausschuss mit 47 zu 7 Stimmen eine breite Mehrheit gefunden. Die Stellungnahme beinhaltet einen Aufruf an die Staats- und Regierungschefs der EU-Länder, den Beitrittsprozess der Türkei auszusetzen, weil sich das Land zunehmend von den Kopenhagener Kriterien entfernt. Bezogen auf die Aktualisierung der Zollunion wird gefordert, die Verhandlungen an Fortschritte beim Schutz von Grundrechten und Rechtstaatlichkeit in der Türkei zu koppeln. Während nicht wahrscheinlich ist, dass der europäische Rat einen Beschluss zur Aussetzung der Beitrittsverhandlungen treffen wird, ist die Aktualisierung der Zollunion von einer Zustimmung des Europaparlaments abhängig.

Schlechte Stimmung

Das Verbrauchervertrauen gab im Februar erneut um 0,4 Punkte nach und wird vom Türkischen Statistikinstitut mit 57,8 Punkten angegeben. Zusammen mit den nachlassenden Konjunkturerwartungen beim Handel und Bausektor ändert auch die leichte Erholung bei Dienstleistungen nichts daran, dass all die genannten Indexe sich im negativen Bereich bewegen.

Demgegenüber bemüht sich die Regierung durch kommunale Verkäufe von Gemüse und Obst den Verbraucherpreisanstieg zu drücken. Einige Supermarktketten haben nachgezogen und verkaufen in kleinen Mengen nun Obst und Gemüse unter dem Einkaufspreis. Durch die Erhöhung der TL-Liquidität wird zudem Druck auf Privatbanken ausgeübt, Zinsen zu senken und das Kreditvolumen wieder zu vergrößern. Angesichts der Anfang der Woche veröffentlichten Statistik über kreditfinanzierte Wohnungsverkäufe ist der Erfolg jedoch eher gering.