Istanbul Post

Kurzmeldungen: Alle Kurzmeldungen

Die Woche vom 16. bis zum 23. August 2019

Die Absetzung der drei HDP-Oberbürgermeister kann wohl als Auftakt für einen "heißen Herbst" bewertet werden. Zugleich beginnt in den von der PYD kontrollierten Gebieten die Vorbereitungen für die Einrichtung der von der Türkei geforderten Sicherheitszone. Aus Tal Abyat in Nord-Syrien wurde der erste Abzug von Milizionären berichtet.  Demgegenüber wurde in der Provinz Idlib ein türkischer Beobachtungsposten im Norden der syrischen Provinz Hama von Regierungstruppen eingekesselt.

Bürgermeister von Diyarbakır, Van und Mardin abgesetzt

Am 19. August wurden die drei Bürgermeister durch das Innenministerium abgesetzt und an ihrer Stelle die jeweiligen Provinzgouverneure ernannt. Begründet wurde die Maßnahme mit Ermittlungsverfahren, die gegen die Bürgermeister mit dem Vorwurf der Terrorpropaganda und der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung eröffnet wurden. Außerdem wird als Grund die Praxis der Ko-Bürgermeister angeführt, die keine Rechtsgrundlage im Kommunalgesetz habe. Die HDP hat in allen von ihr Kommunen seit Jahren je einen Mann und eine Frau als Ko-Bürgermeister aufgestellt, ohne dass bisher von rechtlichen Problemen die Rede war. Am 21. August meldete die Nachrichtenplattform Diken außerdem, dass der Ersatz-Bürgermeister den Stadtrat von Van aufgelöst hat.

Die Maßnahme wurde von der HDP und der CHP scharf kritisiert. Dreißig Anwaltskammern veröffentlichten eine gemeinsame Erklärung gegen die Absetzung der Bürgermeister. Gegen Proteste am Istanbuler Taksim Platz und einer Protestkundgebung von Anwälten ging die Polizei mit Gewalt vor.

Der Einsatz von Gewalt überschreitet von Zeit zu Zeit Grenzen, so dass selbst aus eigenen Reihen Kritik erfolgt. Am 20. August löste die Polizei eine Protestkundgebung gegen die Absetzung des Oberbürgermeisters auf. Ein Video verbreitete sich in den sozialen Medien, auf dem zu sehen ist, wie ein Polizist auf jemanden einschlägt. Der Provinzgouverneur (und jetzige Oberbürgermeister) sah sich genötigt eine Erklärung abzugeben. Der Mann, der brutal zusammengeschlagen wurde, habe zuvor einen Polizisten mit einer Eisenstange angegriffen und verletzt. Er sei verfolgt , gestellt und unter Einsatz von Zwang festgenommen worden. Der Mann sei vorbestraft, habe eine Beziehung zur PKK und sei schizophren.  Im übrigen werde der Vorfall untersucht.

Maßstab für den Einsatz von Polizeigewalt ist die Verhältnismäßigkeit. Gewalt gegen eine Person einzusetzen, die sich nicht (mehr) wehrt oder wehren kann, ist unverhältnismäßig. Es mag Gründe geben, die einen Polizisten verleiten, mehr Gewalt einzusetzen. Auch Polizisten sind Menschen, verspüren Wut und Stress. Aber Teil ihrer Ausbildung ist es, professionell mit Gewalt, die Teil ihres Berufes ist, umzugehen. Wenn sich auch noch herausstellt, dass die Person, die Ziel der Gewalt wurde, psychisch krank ist, wird die Problematik des Einsatzes von Gewalt umso deutlicher.

Riskante Entwicklungen in Syrien

Am 19. August 2019 ereigneten sich zwei für die Türkei problematische Entwicklungen in der im Westen Syriens gelegenen Provinz Idlib. Zunächst meldete das türkische Verteidigungsministerium, dass ein Flugzeug einen türkischen Militärkonvoy angegriffen habe. Bei dem Angriff seien drei Zivilisten getötet und zwölf verletzt worden. Über den Grund für die Anwesenheit von Zivilisten bei dem Transport oder ihre Nationalität wurde keine Aussage gemacht. Ein Bericht des türkischen Dienstes der BBC zufolge könnte es sich um syrische Milizionäre gehandelt haben.

Einige Stunden später eroberte die syrische Armee die im Südosten der Provinz Idlib gelegene Stadt Khan Sheikhoun. Der südlich davon gelegene türkische Beobachtungsposten bei Murak ist seitdem eingeschlossen. Am 23. August erreichten syrische Regierungstruppen den Beobachtungsposten. Außenminister Çavuşoğlu hatte zwei Tage zuvor erklärt, der Posten werde nicht zurückgezogen. Gleichwohl ist mit der Errichtung eines neuen Postens einige Kilometer weiter nördlich begonnen worden.

Eine Woche zuvor war berichtet worden, dass die Vorstöße der syrischen Armee nicht zuletzt aufgrund von türkischen Raketenlieferungen an die Milizen in Idlib gestoppt worden seien. Die türkische Regierung habe damit gezeigt, dass sie sich nicht einfach vor vollendete Tatsachen stellen lasse.

Erklärtes Ziel der syrischen Regierung ist es, die beiden Fernverkehrsstraßen M4 und M5 wieder unter Kontrolle zu bringen und zu öffnen. Dies würde bedeuten, dass rund ein Drittel des noch von der überwiegend islamistischen Opposition kontrollierten Gebietes an die Regierung fallen würde. Zugleich werden die Kämpfe von massiven Fluchtbewegungen begleitet. Zwar ist kein starker Anstieg der Aufnahme neuer syrischer Flüchtlinge in der Türkei zu verzeichnen, doch dürfte auch die Binnenflucht zunehmende Versorgungsprobleme aufwerfen. Als Fluchtalternativen kommen nur noch die türkisch-syrische Grenze sowie die von der türkischen Armee kontrollierten Gebiete in Nord-Syrien in Frage.

Die türkische Regierung setzt darauf, die Flüchtlinge in Syrien zu versorgen. Die Aufnahme einer weiteren großen Zahl von Syrern hätte vermutlich einen beträchtlichen politischen Preis für die Regierung. Hinzu kommt, dass eine große Anzahl von Familienangehörigen von Milizionären in die Türkei kommen könnte. In einem Beitrag für die Tageszeitung Milliyet warnte Güneri Cıvaoğlu, dass dies zu ähnlich instabilen Verhältnissen wie im Grenzland zwischen Pakistan und Afghanistan führen könnte.

Umstrittene Eröffnung des Justizjahres

Es ist Tradition, nach der Sommerpause das neue Gerichtsjahr mit einer Feier zu beginnen. Der Ort war bisher der Kassationsgerichtshof. In diesem Jahr ist der Präsident Gastgeber. Dagegen haben sich 42 der 80 Anwaltskammern gewandt und einen Boykott angekündigt. Auch 20 der 380 Richter des Kassationsgerichtshofes sollen erklärt haben, dass sie an der Feier nicht teilnehmen werden. Hintergrund des Einspruchs ist die Forderung, eine klare Grenze zwischen Justiz und Politik zu ziehen.

Selbstkritik

Vielleicht werden sie den AKP-Provinzvorsitzenden von Antalya Ibrahim Ethem Taş als "Nestbeschmutzer" beschuldigen. Doch seine Kritik an dem abgewählten AKP Bürgermeister Menderes Türel ist für türkische Verhältnisse bemerkenswert. In einem Klima, in dem Kritik als böswillige Haltung bewertet wird, den Vorwurf gegen einen Parteikollegen zu erheben, dieser habe durch zusätzliche Vorstandsposten in kommunalen Unternehmen zu beträchtlichem Schaden für die Steuerzahler beigetragen, ist mutig. Mutiger wäre es natürlich gewesen, wenn Taş diesen Vorwurf erhoben hätte, als Türel noch Bürgermeister war.

Der "B-Plan" gegen US-Sanktionen

Müll kann manchmal ungeahnte Probleme aufwerfen. In Russland wurden auf dem Müll Aufzeichnungen über Kontakte zwischen dem türkischen und dem russischen Finanzministerien gefunden. Details machen deutlich, dass es im Juli ein ziemlich spontanes Treffen zwischen beiden Ministerien in Russland gegeben hat.  Gegenstand war, ob im Falle von US-Sanktionen die Türkei das russische System für internationale Geldtransfers nutzen kann, das Russland als Alternative zum SWIFT-System entwickelt hat. Eine abschließende Einigung wurde bei dem Treffen nicht erzielt, aber verabredet, weiter an dem Thema zu arbeiten. Hinter verschlossenen Türen, versteht sich. Denn das Thema ist öffentlich in der Türkei nicht einmal erwähnt worden.

Ändern wird sich vermutlich nur, dass künftig die Notizen zu solchen Verhandlungen zunächst in den Reißwolf und dann in den Müll gehen.

Die vielen Gesichter der Wirtschaftskrise: Privatschulen

Fehlendes Vertrauen in die Qualität staatlicher Schulen ist für viele Familien ein Motiv, ihre Kinder bei Privatschulen anzumelden. Dies wurde zudem noch staatlich gefördert. Bis im vergangenen Jahr ein Politikwechsel einsetzte. Bildungsminister Selçuk kündigte an, dass die Beihilfe für Schulgebühren auslaufen soll.

Am 22. August 2019 berichtete Ozan Çepni in einem Beitrag für die Tageszeitung Cumhuriyet über das Beispiel Doğa Kolej. Während der gesamte Privatschulsektor nach der Ankündigung der neuen Bildungspolitik mit Sparmaßnahmen reagierte, befindet sich die Marke Doğa Kolej anscheinend am Rande des Konkurses. Çepni weist darauf hin, dass dort 10.000 Lehrer beschäftigt werden, deren Gehälter seit Monaten verspätet und unvollständig bezahlt werden. Hintergrund ist auch, dass der Inhaber des Unternehmens zugleich Bauunternehmer ist. Die Lage im Bausektor wiederum lässt vermutlich kaum Spielraum für die Sanierung der Doğa Kolej Schulen. Çepnis  Nachricht zufolge wird nun im Bildungsministerium darüber nachgedacht, wie ein Konkurs verhindert werden kann, ohne dass allzu hohe Kosten für das Ministerium entstehen. Erwogen wird die Einsetzung eines Treuhändlers, der die Zerschlagung des Unternehmens einleiten könnte. Auf diese Weise könnte ein Teil der Schulen gerettet werden.

Der Nachklang zum Tarifvertragsabschluss der Arbeiter im öffentlichen Dienst

Der Vorsitzende des Gewerkschaftsbundes Türk İş Ergün Atalay ist nach dem Tarifabschluss für die Arbeiter im öffentlichen Dienst in die Kritik geraten. Bei der Zeremonie zur Unterschrift des Tarifvertrages war versehentlich ein Mikrofon angeschaltet geblieben. Übertragen wurden seine Worte: "Was soll ich sagen und alles durcheinander bringen". Dies wurde von Kritikern als Beleg dafür bewertet, dass es geheime Absprachen zwischen dem Gewerkschaftsbund und der Regierung gegeben habe. Atalay weist diesen Vorwurf zurück. Die Ministerin hatte gerade zuvor die Eckpunkte des Tarifabschlusses vorgestellt. Er hatte dazu nichts zu sagen.

Er selbst sieht als schwächsten Punkt des Tarifvertrages nicht dessen Höhe an. Es ist nicht gelungen, auch die in den öffentlichen Dienst übernommenen Beschäftigten von Subunternehmen in den Geltungsbereich aufzunehmen. Bei Licht betrachtet wurde mit dieser Übernahme ein zwei Klassen System für die Beschäftigung von Arbeitern im öffentlichen Dienst errichtet. Die übernommenen Arbeiter müssen sich mit weniger Rechten und Bezahlung zufrieden geben. Gleichwohl ist ihre Stellung besser als zuvor, denn die Arbeitsbedingungen im öffentlichen Dienst gelten als besser als in den meisten Privatunternehmen.

Atalay wies die Kritik an ihm zurück. Tarifverhandlungen müssen immer auch die Grundbedingungen berücksichtigen. Die wirtschaftliche Lage ist schwierig, in vielen Sektoren finden Entlassungen statt. Seine Devise sei immer gewesen "zuerst die Türkei, zuerst die Arbeiter". Bedenkt man, dass es sich bei Türk İş um die mitgliederstärkste Gewerkschaftsföderation handelt, muss man zu dem Schluss gelangen, dass eine Mehrheit der organisierten Arbeiter ähnlich denkt. Dann fügte er noch hinzu, dass 90 Prozent seiner Kritiker keine Arbeiter seien. Die Kritik sei böswillig. Sie erfolge von Gruppen, die den Terrorismus unterstützen.

Großes Verständnis für den Arbeitgeber, die Berücksichtigung nationaler Interessen und die Diffamierung von Kritikern sind nicht unbedingt gute Voraussetzungen für Tarifverhandlungen.

In der Zwischenzeit sind die Tarifverhandlungen der Beamten gescheitert und gehen in die Zwangsschlichtung. Bis zum Monatsende wird eine Entscheidung der Schlichtungskommission erwartet. Die Erwartungen an eine Schlichtungskommission sind abhängig von ihrer Zusammensetzung. Arbeitgeber und Gewerkschaften sind vertreten. So weit, so gut. Die Ernennung des Vorsitzenden, dessen Stimme letztlich entscheidet, erfolgt durch den Staatspräsidenten. Die Regierung kann in der Schlichtung nicht unterliegen. Soll man das Verfahren dann also "Schlichtung" nennen?

Wie geht es weiter mit der Wirtschaftsentwicklung

Nach dem Rückgang der Industrieproduktion im Juni haben sich die Hoffnungen verringert, dass die aktuelle Wirtschaftskrise überwunden sei. Andererseits weist der Ökonom Mahfi Eğilmez darauf hin, dass es eine enge Verbindung zwischen dem Umsatz des Handels und der Industrieproduktion gibt. Der Handel wiederum zeigt eine gleichbleibende steigende Tendenz, obgleich er auch im Juni noch unter dem Niveau des Vorjahresmonats lag. Steigende Nachfrage löst in der Regel steigende Produktion aus – zumindest wenn nicht etwas dazwischen kommt. Dementsprechend warnt Eğilmez  vor vorschnellen Schlüssen.

Die türkische Zentralbank dagegen zeigt sich experimentierfreudig. Mit einer Erklärung am 19. August regelt sie die vorgeschriebenen Rücklagen der Geschäftsbanken bei der Zentralbank neu. Die Höhe der Rücklagen und ihre Verzinsung werden gekoppelt an das Wachstum des Kreditvolumens der jeweiligen Bank. Banken mit hohem Kreditwachstum erhalten einen Zinssatz von 15 Prozent, die übrigen einen von 5 Prozent. Die Maßnahme zielt offensichtlich auf eine Förderung der Nachfrage.

Nun liegt die Steigerung des Kreditvolumens grundsätzlich wohl im Interesse jeder Bank – schließlich verdient sie an den Zinsen Geld. Das zögerliche Verhalten der Banken bei der Kreditvergabe hat wohl vor allem mit dem Vertrauen zu tun, ob sie das Geld auch zurückerhält. Hinzu kommt, dass von Gewinn nur die Rede sein kann, wenn die Kreditzinsen über den Finanzierungskosten der Bank liegen. Die Zentralbank befiehlt also mehr Mut. Dabei ist wirtschaftliches Handeln doch eher eine Frage der Rationalität…