Kurzmeldungen: Alle Kurzmeldungen
Die türkische Politik hat eine neue Polemik, nachdem der CHP-Vorsitzende Kılıçdaroğlu der Regierung vorwarf, durch ihre verschiedenen „Vermögensfrieden“ dem Drogenhandel in der Türkei Vorschub geleistet zu haben. Gendarmerie und Polizei stellten Strafanzeigen und – siehe da – unter anderem nach dem Straftatbestand des neuen Desinformationsgesetzes. Möglicherweise hat die Inflation im Oktober mit mehr als 85 Prozent ihren Scheitelpunkt erreicht. Doch die Banken warnen verstärkt vor „systemischen Risiken“.
Die Reaktion war politisch geschickt. Die CHP hat eine Gesetzesvorlage eingebracht, die es Frauen freistellen soll, ein Kopftuch zu tragen. Die AKP reagierte darauf mit dem Einwand, dass ein einfacher gesetzlicher Schutz nicht ausreiche, dieses Recht müsse in der Verfassung verankert werden. Staatspräsident Erdoğan erweiterte dann die Angelegenheit um den Schutz der Familie gegen Perversionen. Zugleich wurde gemunkelt, dass die AKP ein Verfassungsreferendum anstrebe, das zugleich mit der nächsten Präsidenten-/Parlamentswahl durchgeführt werden könnte.
Vermutlich würden Verfassungsbestimmungen zur Sicherung der Kopftuchfreiheit eine breite Zustimmung erhalten. Was die AKP genau im Hinblick auf den Schutz der Familie vor hat, ist bisher unklar. Doch auch dies dürfte vermutlich eine mehrheitliche Zustimmung finden. Dies könnte, wenn das Referendum zeitgleich mit den Wahlen durchgeführt würde, einige Wählerinnen und Wähler veranlassen, ihre Stimme dem konservativ-nationalistischen Bündnis zu bieten. Zudem böte sich im Wahlkampf die Möglichkeit, den Oppositionsparteien vorzuwerfen, sie würden „Perversionen“ fördern. Die Lobby für Homosexuelle ist schwach, ihr Zugang zur Öffentlichkeit ausgesprochen begrenzt. Ihre Sichtbarkeit wird systematisch unterdrückt.
Als Auftakt dieser Strategie besuchten in dieser Woche Delegationen der AKP die CHP, die Iyi Partei, die HDP sowie die MHP. Zum MHP-Besuch erfolgte keine inhaltliche Aussage. Die CHP erklärte, sie werde eine Verfassungsänderung nicht unterstützen, da sie auf ein Referendum hinauslaufe. Ein Referendum zu Grundrechten halte sie für falsch.
Die HDP erklärte, dass sie ihre Entscheidung später bekannt geben werde. Grundsätzlich sei ihre Position zum Kopftuch klar, doch auch sie wendet sich dagegen, dass ein Grundrecht zum Gegenstand eines Referendums wird.
Was auf den ersten Blick wie eine überzeugende Position klingt, ist bei näherem Hinsehen nicht unbedingt einleuchtend. Wenn die CHP die Kopftuchfreiheit als Grundrecht betrachtet, dann wäre sie bereits durch die Verfassung geschützt. Wenn dem so wäre, brauchte man auch das von der CHP eingebrachte Gesetz nicht.
Auf der anderen Seite war allein der Besuch einer AKP-Delegation bei der HDP eine kleine politische Sensation. Denn es ist bisher AKP-Politik die HDP systematisch zu isolieren und auszugrenzen. Was im Grunde selbstverständlich sein sollte, dass nämlich im Parlament vertretene politische Parteien durch ihre Wahl legitimiert sind, wurde durch die AKP-Delegation bestätigt. Ein politischer Fortschritt, wenn diese Politik fortgesetzt würde.
Für eine Verfassungsänderung, die durch Referendum bestätigt werden müsste, wird die Zustimmung von 360 Abgeordneten benötigt. Das Regierungsbündnis verfügt über 335 Abgeordnete. Doch dann sind da ja noch die unabhängigen Abgeordneten und die Transfers zwischen den Parteien, die in diesen Tagen zunehmen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die AKP die erforderliche Mehrheit aufbringen kann.
Am 31. Oktober 2022 erklärte der Vizefraktionsvorsitzende der AKP Mahir Ünal seinen Rücktritt und wurde durch das Vorstandsmitglied Özlem Zengin ersetzt, die bereits zuvor dieses Amt innehatte. Ünals Rücktritt wird auf seine Kritik an der Einführung des westlichen Alphabets bezogen, dass er als Kulturrevolution bewertete und dem Volk sein historisches Erbe geraubt habe. Daraufhin wurde er scharf vom MHP-Vorsitzenden Devlet Bahçeli kritisiert. Staatspräsident Erdoğan stellte sich zwar zunächst vor seinen Parteifreund, doch scheint die Kritik des Bündnispartners den Ausschlag gegeben zu haben.
Der Vorbericht der Sachverständigenkommission, die die Bergwerkexplosion von Amasra untersucht, kommt zu dem Schluss, dass die Belüftung des Bergwerks unzureichend war. Mehrfach seien bereits vor der Explosion Grenzwerte für Methangas überschritten worden. Projekte zur Erhöhung der Sicherheit der Mine seinen jedoch nicht umgesetzt worden. Im Zusammenhang mit dem Unglück, bei dem 41 Bergleute starben, wurden bisher acht leitende Mitarbeiter des Bergwerks in Untersuchungshaft genommen.
Das Türkische Statistikinstitut hat die Berechnung der Deviseneinnahmen aus dem Tourismus geändert und berücksichtig jetzt auch Gesundheitstourismus und Bildung als gesonderte Reiseanlässe. Dies führt zu einer Berechnung von Mehreinnahmen von 22,5 Mrd. Dollar. Bereits zuvor hatte Finanzminister Nebati darauf hingewiesen, dass der hohe Anstieg des „Rechenfehlers“ in der Zahlungsbilanz auf den Tourismus zurückgehe. Der Rechenfehler entsteht, wenn eine Diskrepanz zwischen Devisenzuflüssen und –abflüssen vorliegt. In den letzten Monaten hatte der schnelle Anstieg der Devisenzuflüsse ungeklärter Quelle zu Diskussionen geführt. Es war unter anderem vermutet worden, dass es sich um Gelder aus Russland handele, die dazu genutzt würden, Embargos und Sanktionen zu unterlaufen. Der CHP-Vorsitzende Kılıçdaroğlu hatte sogar behauptet, dass ein bedeutender Teil dieser Devisen ungeklärter Herkunft aus dem Rauschgifthandel stamme und die Regierung dies durch ihre Finanzamnestiegesetze noch gefördert habe. Mit dem neuen Berechnungsverfahren der Tourismuseinnahmen dürfte sich der Betrag ungeklärter Devisenzuflüsse deutlich verringern.
Der Vorstoß von Kemal Kılıçdaroğlu zur Regierungsverantwortung für die schnelle Ausbreitung von Rauschgiften in den vergangenen Jahren hat beträchtliche Wellen geschlagen. Gendarmerie und Polizei stellten eine Strafanzeige wegen Verleumdung. Innenminister Soylu warf Kılıçdaroğlu vor, sich von ausländischen Geheimdiensten benutzen zu lassen.
Dass unverzüglich darauf eine große Operation gegen den Rauschgifthandel erfolgte, muss darum nicht unbedingt eine polizeiliche Entscheidung gewesen sein. Unter dem martialischen Namen „Ausrottungsoperation“ wurde eine Festnamewelle gegen 138 Verdächtige ausgelöst, von denen 130 verhaftet wurden. Der Schönheitsfehler: in der Erklärung des Innenministers, der darauf hinwies, dass die Operation nach monatelanger Ermittlung erfolgte, findet sich kein Hinweis auf die Zielrichtung. Handelt es sich bei den 130 Festgenommenen um Straßenhändler oder um die Köpfe der Handelsorganisationen? Da offensichtlich ist, dass die Bekämpfung des Handels das Rauschgiftproblem nicht löst, bleiben zudem noch Fragen nach Prävention und Möglichkeiten der Suchttherapie…
In den letzten Monaten ist immer wieder davon berichtet worden, dass viele Menschen unter 30 Jahren ihre Zukunft im Ausland suchen. In einem Beitrag für die Nachrichtenplattform T24 hat Bekir Agırdır auf eine Studie des Meinungsforschungsinstituts Konda und des Erinnerungszentrums zur Wahrnehmung der Menschenrechte unter jungen Erwachsenen hingewiesen, die von der Friedrich Nauman Stiftung gefördert wurde.
Zunächst weist er auf die politische Bedeutung der Altersgruppe hin: ein Drittel der 62 Millionen Wahlberechtigten ist unter 30 Jahre alt. Zunächst weist er auf die geringe politische Beteiligung hin. Unter 100 jungen Erwachsenen gehören 81 Prozent keiner Partei an. Doch auch die Beteiligung an zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Vereinen, Gewerkschaften und Plattformen ist gering. Von 100 Befragten geben 78 Prozent an, sich nicht zu beteiligen. Paradoxer Weise verringert sich zudem die Beteiligung mit steigendem Bildungsniveau. Bei vertiefenden Interviews zeigt sich, dass ein Grund für die geringe Beteiligung „mangelndes Vertrauen“ sei. Doch dieses bezieht sich anscheinend weniger auf die zivilgesellschaftlichen Organisationen als auf die Furcht, aufgrund eines Engagements zur Zielscheibe des Staatsapparates zu werden. Zudem wird die Wirksamkeit der zivilgesellschaftlichen Organisationen als gering eingeschätzt.
Als einer der wichtigsten Gründe, warum sich junge Erwachsene nicht an Protestaktionen beteiligen wird die Furcht vor Polizeigewalt genannt. Dies zeigt, in welchem Maße die politische Strategie der systematischen Auflösung von Protesten Wirkung zeigt.
Aber auch die Stimmung ist schlecht. 52 Prozent der Befragten gibt an, sich in den vergangenen zwei Wochen keine gute Stimmung verspürt zu haben oder sich wohl gefühlt zu haben. 65 Prozent geben an, dass sie in den vergangenen zwei Wochen auf nichts gestoßen seien, das ihr Interesse geweckt habe. Zur schlechten Stimmung gesellt sich zudem die Hoffnungslosigkeit, die sich insbesondere davon nährt, dass sie glauben, dass es keine Chancengleichheit gibt.
Betrachtet man die Bilanzen der türkischen Banken, mag man davon ausgehen, dass ihre Geschäfte glänzend laufen. Ihre Gewinne sind um ein Mehrfaches gestiegen. Doch zugleich weisen Banken immer drängend auf „systemische Risiken“ hin, die den Sektor in Gefahr bringen.
Dies liegt nicht zuletzt an der Regierungspolitik. Als die Zinssenkungen der Zentralbank nicht zu einem raschen Rückgang der Kreditzinsen führten, griffen Zentralbank und Bankenaufsicht immer wieder in das Kreditgeschäft ein. Sie zwangen die Banken dazu, ihre Kreditzinsen dem Leitzins der Zentralbank anzunähern und verstärkt Staatsanleihen zu niedrigen Zinsen zu kaufen. Es ist offensichtlich, dass in einem Moment, in dem der hohe negative Realzins aufgegeben wird, insbesondere durch die Staatsanleihen hohe Verluste anfallen werden. Diese Verluste könnten leicht ein Mehrfaches der aktuellen hohen Gewinne ausmachen. Dass dieser Moment kommt, ist offensichtlich und die Banken verlangen Schutz.
Aufsehen erregte insbesondere das Interview des Geschäftsführers der İş Bank Hakan Aran mit Bloomberg HT, in dem er dazu aufrief, so schnell wie möglich zur Marktwirtschaft zurückzukehren.