Istanbul Post

Kurzmeldungen: Alle Kurzmeldungen

Die Woche vom 4. bis zum 11. November 2022

Ein steigendes Zahlungsbilanzdefizit, stagnierende Industrieproduktion und ein getrübtes Exportklima deuten auf einen schwierigen Winter für die Türkei hin. Da sich die Regierung entschlossen zeigt, einen Rückgang des Wirtschaftswachstums um jeden Preis zu verhindern, müssen wir uns auf weitere „unorthodoxe“ Entscheidungen einstellen.

Die Türkei auf der Klimakonferenz in Ägypten

Im vergangenen Jahr ging die Ratifizierung des Paris Abkommens zur Reduzierung der Treibhausgase recht schnell. Zwar war die Türkei bereits 2016 beigetreten, doch hatte die türkische Regierung die Ratifizierung von einigen Bedingungen – insbesondere finanzieller Art – abhängig gemacht. Für die diesjährige Weltklimakonferenz COP27 wird nun erwartet, dass ein verbessertes Ziel für die Reduzierung von Treibhausgasen vorgelegt wird. 2015 hatte die türkische Regierung angekündigt, den Anstieg der CO2-Emissionen bis 2030 um 21 Prozent zu reduzieren. Dies bedeutet, dass der Ausstoß an Kohlendioxid bis zu diesem Jahr weiter ansteigen würde. Umweltverbände rufen nun dazu auf, dass sich die Türkei ein ehrgeiziges Ziel setze und eine Reduzierung der Emission um 35 Prozent verkünde.

Vertreten wird die türkische Regierung bei der Konferenz von Umweltminister Kurum. Dessen Beitrag wird am 15. oder 16. November 2022 erwartet. Was er verkünden wird, ist unbekannt.

Ob es wieder eine Eigenartig des türkischen Präsidialsystems ist. Eine wirtschafts- und energiepolitische Weichenstellung für mehr als die kommende Dekade soll verkündet werden, doch weder der Öffentlichkeit noch dem Parlament sind die Klimaziele und wie sie zu erreichen sind, ist vor der4 Verkündung bei der Konferenz bekannt.

Ein Bündnis verschiedener Umweltorganisationen, darunter der WWF, hält es für möglich, dass die Türkei ihren Energiebedarf zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energien decken könnte. Dies würde zugleich auch eine wichtige Entlastung der Außenhandelsbilanz bedeuten. Sie fordern, der vollständigen Verzicht auf Kohlenutzung bei der Stromerzeugung, die Erhöhung des Anteils erneuerbarer Energien bei der Stromerzeugung auf 75 Prozent. Durch Ausbau des Schienennetzes 5 Prozent des Personenverkehrs und 10 Prozent des Güterverkehrs auf diese Verkehrssysteme zu verlagern. Erhöhung der Energieeffizienz in Industrie, Dienstleistungen und Landwirtschaft sowie zunehmende Elektrifizierung und vor Ort Verb rauch erzeugter Energie. Übergang zur elektrischen Beheizung von Gebäuden.

Es ist ja kein kleiner Schritt. Wertstoffketten, Energieeffizienz, alternative Energieerzeugung greifen in nahezu alle Lebensbereiche ein. Ein solcher Wandel wird den Arbeitsmarkt genauso verändern wie die Teilhabe am gesellschaftlichen Wohlstand. Und hier beginnt das Poker-Spiel im Kleinen wie im Großen. In welchem Maße im vergangenen Jahr ein Kreditversprechen die Motivation der türkischen Regierung zur Ratifizierung des Abkommens gefördert hat, kann nur Gegenstand von Spekulationen sein. Zu einem der größeren Stolpersteine der aktuellen Konferenz gehört die Forderung ökonomisch schwächerer Länder nach mehr Unterstützung. National wiederum ist die Umstellung mit riesigen Investitionen verbunden. Die Gretchenfrage bleibt dabei die Verteilung der Lasten.

Mangelndes Vorgehen gegen Bestechung

Die Arbeitsgruppe Korruption der OECD hat die Türkei scharf kritisiert, weil sie seit 2014 keine Schritte unternommen habe, um gegen Bestechung durch Unternehmen oder Personen im Ausland vorzugehen bzw. die entsprechenden Empfehlungen umzusetzen. In einem Jahresbericht wird die Türkei als ein Land eingestuft, dass die entsprechenden Vorkehrungen wenig oder gar nicht anwendet. Zudem wird kritisiert, dass die Abberufung von Ermittlungsbeamten die Sorge weckt, dass eine Unabhängigkeit der Untersuchung von Korruptionsvorwürfen nicht gewährleistet ist.

Politische Justiz

Während das Verfahren gegen den Istanbuler Bürgermeister İmamoğlu auf Dezember vertagt wurde, erging im Verfahren gegen 20 Anwälte des Vereins zeitgenössischer Anwälte das Urteil. İmamoğlu wird vorgeworfen, er habe den Hohen Wahlrat beleidigt. Die Anwälte wurden zum Teil wegen „Terrorismuspropaganda“, zum Teil wegen „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ verurteilt. Folgt man dem Kommentar von Gökçer Tahincioğlu für die Nachrichtenplattform T24 wurden zur Verurteilung Beweise herangezogen, die offensichtlich gefälscht sind. Sie stammen noch aus den Ermittlungen eines Staatsanwaltes, der später wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in der Gülen Vereinigung geflohen ist. Es handelt sich um Festplatten, deren Inhalt unschlüssig ist. So findet sich auf einer ein Film, der erst drei Wochen nach dem Speicherdatum veröffentlicht wurde.

Der Verein zeitgenössischer Anwälte hat in zahlreichen Verfahren auf sich aufmerksam gemacht. Sie konnten in Prozessen nachweisen, dass bei Gefängnisstürmungen 1999 und 2000 Gefangene aus nächster Nähe erschossen und andere gefoltert wurden. Sie traten für die Rechte der Hinterbliebenen des Grubenunglücks von Soma ein. Und sie haben sich damit Feinde gemacht.

Präsidium für Aleviten/Bektaschi und Cemevleri gegründet

Durch Verordnung hat Staatspräsident Erdoğan das angekündigte Präsidium für Aleviten und Bektaschi gegründet. Es soll auf der einen Seite die Bedürfnisse der Religionsgruppe erkunden und bei der Gewährung von Unterstützungen behilflich sein. Auf der anderen Seite soll es auch zur alevitischen und Bektaschi-Kultur forschen. Es verfügt über einen Beratungsrat, dessen elf Mitglieder durch den Staatspräsidenten ernannt werden. Alevitische Verbände wandten bereits im Vorfeld ein, dass die Ansiedlung des Präsidiums beim Kulturministerium ein Affront sei. Zudem blieben wesentliche Forderungen der alevitschen Gemeinden unberücksichtigt.

Zeitgleich mit der Gründungsverordnung wurden außerdem in einem Sammelgesetz Bestimmungen zur Förderung von Cemevi, d.h. der alevitischen Gebetsstätten, ins Parlament eingebracht. Auf dieser Grundlage sollen die Stromkosten von Cemevleri staatlich beglichen werden und Kommunen berechtigt sein, solche zu errichten, zu renovieren oder ihren Unterhalt zu unterstützen. Materiell würden sie damit weitgehend den Moscheen gleichgestellt.

Wahlen der Industrie und Handelskammern als Stimmungsbarometer

Im Oktober und November finden die Wahlen der Industrie und Handelskammern statt. In Istanbul als der größten Handelskammer des Landes ist die erste Etappe bereits abgeschlossen, die zweite Wahl findet am 15. November statt.

Bereits im Oktober hatte Ozan Gündoğdu von der linken Tageszeitung Birgün darauf hingewiesen, dass bisher die Industrie und Handelskammern eine konservative Domäne war, in der sich ohne jeden vorherigen Zweifel die von der AKP unterstützten Kandidaten durchsetzten. Doch bereits im Oktober gab es Überraschungen. In Van setzte sich ein Kandidat durch, der sich zuvor bei der CHP um ein Parlamentsmandat beworben hatte. In Ordu verlor der bisherige Amtsinhaber, in Malatya fiel der von der AKP unterstützte Kandidat durch. In anderen Provinzen konnten sich die von der AKP unterstützen Kandidaten nur durch Koalitionen durchsetzen.

Zu den interessanten Entwicklungen gehört auch, dass sowohl in Istanbul als auch in Ankara bei den Wahlen der Handelskammern eine Rekordbeteiligung verzeichnet wurde. Im ersten Durchgang setzte sich die Liste des Amtsinhabers durch, doch eine Liste, die für einen Wandel in der Kammer eintritt, erhielt einige Mandate in den sektoralen Räten. In Ankara setzte sich die bisherige Führung durch.

Die Stabilität der Türkischen Lira

Die Beiträge häufen sich. Zunächst wiesen zwei Kolumnisten der Wirtschaftszeitung Dünya auf den realen Kursgewinn der Türkischen Lira (bereinigt um die Erzeugerpreise) hin. Zuletzt war der Index des Exportklimas der Industriekammer Istanbul zum dritten Mal in Folge unter den Schwellenwert von 50 Punkten zurückgegangen und hatte einen Wert von 47,9 Punkten erreicht. Dann veröffentlichte auch die englische Bank Barcleys einen Bericht, in dem sie erklärt, dass die Türkische Lira zwar in den letzten Monaten einige Stabilität aufzuweisen habe, sie jedoch gemessen an der Entwicklung der Verbraucherpreise beträchtlich an Wert gewonnen habe. Sie glaubt, dass bis zum Jahresende eine Abwertung um 11 Prozent möglich sei.

Mit einer solchen Abwertung könnte die Türkische Lira gegenüber dem Euro einen Kurs um 20 TL/Euro erreichen.

Tatsächlich steigt der Handlungsdruck auf die Regierung, die sich in einem Zielkonflikt befindet. Auf der einen Seite zeigen nicht nur Umfragen in der Industrie, dass die Auslandsbestellungen stagnieren, sondern auch aus dem Logistik-Gewerbe mehren sich die Hinweise, dass der Export zurückgeht. Sollte die Regierung eine Abwertung der Türkischen Lira zulassen, so hätte dies einen erneuten Inflationsschub zur Folge. Auf der anderen Seite setzt die Regierung auf eine vorübergehende Preisstabilität, um ihre Chancen bei der im nächsten Sommer bevorstehenden Parlaments- und Präsidentenwahl zu wahren.

Weiter steigendes Zahlungsbilanzdefizit

Hatte die Zahlungsbilanz im September 2021 noch einen Überschuss von 2,7 Mrd. Dollar ausgewiesen, so verzeichnet sie in diesem Jahr 2,9 Mrd. Dollar Defizit. Hauptursache dafür ist das stark gestiegene Außenhandelsdefizit. Aber auch ein Abfluss von 3,4 Mrd. Dollar bei den internationalen Kapitalmarkanlagen trägt deutlich zum Defizit bei. Während sich die Devisenzuflüssen ungeklärter Quelle seit Jahresbeginn auf 24,94 Mrd. Dollar belaufen, sind die Reserven der Zentralbank um 1,66 Mrd. Dollar zurückgegangen.

Natürlich spielen die stark gestiegenen Weltmarktpreise für Energie eine wichtige Rolle beim wachsenden Außenhandelsdefizit. Eine gute Tourismussaison konnte diesen Effekt nicht kompensieren. Für die nächsten Monate muss aufgrund steigenden Energiebedarfs mit einem weiteren Anwachsen des Zahlungsbilanzdefizits gerechnet werden. Der Rückgang der Zentralbankreserven wiederum deutet darauf hin, dass diese zur Finanzierung des Defizits herangezogen werden. Die Risiken für die Stabilität der türkischen Wirtschaft steigen.