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Die Verhandlungen über eine Verfassungsänderung zur Sicherung der Kopftuchfreiheit für Frauen und zum Schutz der Familie haben nun doch begonnen. Die Oppositionsparteien scheinen dabei das Ziel zu verfolgen, durch eine ausreichende Mehrheit ein Referendum, das zeitgleich mit den Wahlen stattfinden könnte, zu vermeiden. Wie erwartet hat zudem Staatspräsident Erdoğan als vorgezogenen Wahltermin den 14. Mai anvisiert. Es wird davon ausgegangen, dass er Anfang März die Neuwahl des Parlaments anordnen wird, die zugleich auch eine Präsidentenwahl auslöst. Die Zentralbank hat den Zinssatz von 9 Prozent beibehalten, was keine Überraschung war.
Staatspräsident Erdoğan hat erklärt, dass er die Wahlen auf den 14. Mai vorziehen möchte. Ein Monat ist nicht unbedingt eine lange Zeit, doch nun entbrennt die Diskussion darüber, ob es sich um vorgezogene Wahlen handelt oder nicht. Denn der Staatspräsident hatte stets erklärt, dass es keine vorgezogenen Wahlen geben werde. Es wird sie geben und die Diskussion darüber ist Zeitverschwendung, wenn man an all die Probleme der Bevölkerung denkt, die gelöst werden müssen.
Nun haben sich CHP und Iyi Partei auch auf die Diskussion über eine Verfassungsänderung eingelassen. Ausgelöst wurde sie durch den Vorstoß des CHP-Vorsitzenden Kılıçdaroğlu, das Recht für Frauen ihren Kopf zu bedecken oder nicht, gesetzlich zu schützen. Dies reichte Staatspräsident Erdoğan nicht, er fordert eine Verfassungsänderung und er verband dies außerdem mit dem Anliegen, die Familie als Keimzelle der türkischen Gesellschaft besser zu schützen. Wovor? Vor allen anderen Beziehungen als denen zwischen Mann und Frau. Dies soll nun in die Verfassung eingehen.
Vorgespräche zu dieser Verfassungsänderung hatten die sechs kooperierenden Oppositionsparteien aus eher technischen Gründen abgelehnt. Dagegen eine spezifisch auf Frauen und nur das Kopftuch betreffende Verfassungsänderung vorzunehmen, erheben sie keine Einwände. Und auch gegen die Annahme, alle anderen Formen des Zusammenlebens als die heterosexuelle Ebene als „unnatürlich“ zu bewerten (Begründungstext des AKP-Entwurfs) scheinen sie keine Einwände zu haben.
In einem Interview mit dem türkischen Dienst der Deutschen Welle geht der Weggefährte von Tayyip Erdoğan, der frühere AKP-Spitzenpolitiker Bülent Arınç darauf ein, dass nach wie vor Dutzende von Alten und Schwerkranken Personen im Gefängnis sitzen. Zugegeben – es ist eine kleine Gruppe, doch ließe sich hier schnell und einfach Abhilfe schaffen. Er nannte dies als Beispiel für eine Politik, die auch in dem kurzen Zeitraum bis zu den Wahlen noch Lösungen geschaffen werden können.
Die Regierung demgegenüber scheint eine neue Teilamnestie staatlicher Forderungen – von Steuerschulden bis zu Bußgeldern – zu planen, die noch im Februar vom Parlament verabschiedet werden soll. Die AKP hat zahlreiche solche Gesetze auf den Weg gebracht. Kritiker wenden ein, dass all jene, die ihre Verpflichtungen gegenüber dem Staat nicht begleichen, belohnt würden, wenn sie nur lange genug warteten.
Derweil wartet ein Teil der Bevölkerung darauf, wie sich die Opposition denn eine Lösung der alltäglichen wirtschaftlichen Probleme vorstellt. Auch wen sie als Präsidentschaftskandidaten vorstellen möchte, will man wissen. Aus CHP-Kreisen wird mitgeteilt, man werde am 30. Januar eine Präsentation (gemeint ist wohl des politischen Programms) vorstellen. Auf den Präsidentschaftskandidaten müsse man wohl noch länger warten. Und all dies findet selbstverständlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Weder sind innerparteiliche Abstimmungsprozesse erkennbar, noch der Versuch die breite Öffentlichkeit in die Diskussionen einzubeziehen. Dies dämpft die Erwartungen an eine Reformagenda doch beträchtlich.
Und dann sind da noch die verpufften Initiativen. Als der CHP-Vorsitzende Kılıçdaroğlu Anfang Dezember 2022 die Vision seiner Partei für das zweite Jahrhundert der Türkischen Republik vorstellte, hat dies kurzzeitig für Aufmerksamkeit gesorgt. Seither ist es so still darum geworden, als ob die Veranstaltung nicht stattgefunden hätte. Demgegenüber hat sich das politische Niveau auf ein „Wer bietet mehr?“ reduziert, bei der die Regierung „Wohltaten“ verteilt – vom Mindestlohn, den Renten bis hin zur Frühverrentung – und die Opposition erklärt, es müsse doch immer noch mehr sein. So dankbar die Bevölkerung für Verbesserungen ihrer Situation ist, Hoffnung und Aufbruchsstimmung lässt sich so nicht herstellen.
Für diejenigen, die soziale Medien intensiv benutzen, gehören Trolle zum Alltag. Doch wer gerade Troll ist und welche Regeln übertreten werden, ist oft nicht leicht auszumachen. Es gibt die klaren Fälle: Scheinkonten, die zentral gesteuert versuche, bestimmte Diskussionen in den Vordergrund zu schieben und zu dominieren, gehören dazu. Rufmordkampagnen, Beleidigungen, Drohungen sind wohl auch offensichtlich. Doch wie die Diskussion um Elon Musks Übernahme von Twitter zeigen, geht es dabei insbesondere auch um die Verantwortung der Netzwerkbetreiber.
Interessant ist zudem, dass sich jeder als Opfer wahrnimmt, wenn es in politische Gefilde geht. Das Regierungsbündnis hat letzten Oktober ein Desinformationsgesetz erlassen. Denn sie sieht sich immer wieder mit Wellen von Kritik in den sozialen Medien konfrontiert. MHP und AKP wollen gleichsam den Netzwerkbetreibern ihre Sorgfaltspflicht aus den Händen nehmen und selbst die Maßstäbe setzen, was legitim ist und was nicht.
Als in der vergangenen Woche der CHP-Abgeordnete Özgür Özel in einer Pressekonferenz recht theatralisch auf die „Troll-Armeen“ der AKP hinwies, vermengte er verschiedene Aspekte. Ein Aspekt ist, dass bestimmte Unternehmen auf dem Gebiet sozialer Medien parallel zum Aufstieg von Ministern öffentliche Aufträge erhalten und damit außerordentliche Wachstumsbedingungen vorfinden. Diese öffentlichen Aufträge werden zudem vielfach regelwidrig vergeben, denn es werden Ausnahmebestimmungen für vereinfachte Vergabeverfahren benutzt. Diese sind intransparent und die Objektivität der Vergabe kaum zu überprüfen. Und dann sprach er von hunderttausenden von Trollen im Dienste der AKP, die über Whats-Up Gruppen gesteuert werden.
Doch wo will er die Grenze ziehen, zwischen Anhängern einzelner Politiker und der AKP auf der einen Seite und bezahlten Agent Provokateurs? Dass er die Gülen Bewegung mit hineinmischte und es mit einigen Daten nicht sehr genau nahm, macht die Sache nicht unbedingt besser.
Dabei ist der Aufbau der Kampagnen des Regierungslagers in einzelnen Beispielen recht gut dokumentiert. Bei der Sängerin Gülşen beispielsweise wird erst auf ein Video hingewiesen, bei dem sie sich in einem kurzen Dialog mit einem Bandmitglied ironisch über die Predigeroberschulen äußert. Dem folgt eine Kampagne in sozialen Medien, der Eingriff von AKP-Spitzenpolitikern oder gar des Staatspräsidenten. Dann schreitet die Justiz ein und im Zweifelsfall erfolgt eine Festnahme und Verhaftung. Dieser Ablauf übersteigt die Existenz von Trollen oder Diskussionen über Meinungsfreiheit im Internet bei Weitem: es geht um einen Parteistaat, der deutlich macht, dass er jeden und jede jederzeit seiner Existenz berauben kann, in dem beispielsweise Konzerte abgesagt oder Personen entlassen werden.
Eine andere Diskussion sind die Algorithmen der sozialen Medien, die vordergründig weniger das „öffentliche Wohl“, sondern die Geschäftsinteressen der Betreiber im Auge haben und darum durchaus selbst zur Manipulation der Nutzer tendieren. In der Türkei liegt dabei der Augenmerk vor allem auf eine Kontrolle der Betreiber. Doch eine wirksame Sensibilisierung der Nutzer im Hinblick auf Manipulation durch Algorithmen, eine Art „Medienalphabetisierung“ wäre wohl ebenfalls ein vielversprechender Ansatz, der das Ziel manipulierender Algorithmen ins Leere laufen ließe.
Der Winter kommt dieses Mal spät in die Türkei. Betrachtet man die Dürre-Analyse des staatlichen Wetterdienstes für den Zeitraum Oktober bis Dezember, so wird fast das gesamte Marmara-Gebiet als extrem oder stark dürr gekennzeichnet. Betrachtet man die Analyse für einen Zeitraum von zwei Jahren, so zeigt nur die Schwarzmeerküste überdurchschnittliche Niederschläge, während die Südhälfte weitgehend von Dürre in verschiedenen Ausprägungen betroffen ist. Urfa, Kilis und Şırnak im Südosten sind von extremer Dürre betroffen.
Dürre trifft zunächst die Landwirtschaft. Die Nachrichtenplattform Gazete Duvar hat eine Artikelserie zur Trockenheit begonnen. Im Mittelpunkt der ersten Folge standen Van und Konya. In beiden Provinzen sogen sich die Bauern vor allem um den Weizen. Sollte es nicht innerhalb von ein bis zwei Wochen regnen, müsse künstlich bewässert werden. Dies wiederum ist teuer.
Aber jenseits der zusätzlichen Stromkosten. Wird Grundwasser für die Landwirtschaft genutzt, so ist es gleichermaßen als ob die Reserven angebrochen werden. Für die Ersetzung des entnommenen Grundwassers wäre vor allem Schneefall erforderlich. Der jedoch ist in den meisten Gebieten der Türkei ausgeblieben.
Höhere Produktionskosten können die Landwirte meist nur zum Teil als höhere Abgabepreise weitergeben. Viele Betriebe machen Verluste, insbesondere in den Gebieten, in denen die Dürre seit Jahren anhält.
Ein anderer Aspekt ist die Lage der Großstädte. In Istanbul hat die kommunale Wasserversorgung ISKI zum Wassersparen aufgerufen. Zwar sieht man bisher keinen unmittelbaren Versorgungsengpass, doch die Wasserreservoirs der Metropole gehen schnell zurück.
Der Verein der türkischen Geschäftsleute und Unternehmer hat gemeinsam mit der privaten Koç Universität eine Konferenz durchgeführt, in dem es um die nähere Zukunft der türkischen Wirtschaft ging. Zu den Rednerinnen und Rednern gehörten Selva Demiralp, Hakan Kara, Cevdet Akçay und Gizem Öztok Altınsaç. Natürlich standen die Wahlen und deren möglicher Ausgang ebenfalls auf der Tagesordnung. Doch insgesamt herrschte unabhängig vom Wahlausgang für die nähere Zukunft eine eher düstere Stimmung. Es überrascht nicht, dass das derzeitige Wirtschaftsmodell als nicht zukunftsfähig angesehen wird. Die zahllosen Eingriffe in die Märkte haben zu ernsten Verwerfungen gteführt. Hinzu kommt, dass auch die internationale Konjunktur als nicht hilfreich eingeschätzt wird. Die Vortragenden waren sich jedoch einig, dass nach einer Phase von einem bis eineinhalb Jahren mit niedrigem Wirtschaftswachstum die Türkei zu ihrem normalen zurückkehren könnte.
Unabhängig vom Wahlausgang wird für die zweite Hälfte des Jahres von Zinserhöhungen ausgegangen, obgleich deren Höhe heute nicht einschätzbar ist. Auch eine neue Abwertung der Türkischen Lira ist erwartbar.