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Angesichts der schnellen Teuerung wird vermutlich eine der ersten Angelegenheiten im neuen Parlamentsjahr die Anhebung der Mindestrente sein. Da jedoch auch die Regierung nicht vor Ablauf von mindestens zwei Jahren mit einem Rückgang der Inflation auf das Niveau von vor zwei Jahren rechnet, dürfte die Wirkung einer solchen Maßnahme nur vorübergehend sein.
Am 12. September 2023, dem Jahrestag des Militärputsches von 1980, wiederholte Staatspräsident Erdoğan seinen Aufruf an die übrigen Parteien, gemeinsam eine neue Verfassung zu erarbeiten. Zugleich warf er der Opposition vor, immer zu kneifen, wenn es ernst werde. Man kann sich also beruhigt zurücklehnen: nein, es ist keine Wandlung mit dem Staatspräsidenten vorgegangen. Er benutzt eines seiner Lieblingsthemen, um die politische Bühne zu dominieren. Anzeichen dafür, dass er erkannt hat, dass die Aufhebung der Gewaltenteilung das Land an den Rand eines ökonomischen Abgrunds geführt hat, gibt es nicht.
Paradoxer Weise ist eine der Grundlagen für die Kooperation der Opposition die Forderung nach einer neuen Verfassung, die die Gewaltenteilung wieder herstellt. Doch seit ihrer Niederlage im Mai beherrschen Rangeleien um den Vorsitz der CHP und Winkelzüge im Vorfeld der Kommunalwahl im kommenden März die Agenda.
Bei all den durchsichtigen Manövern gibt es auch Kommentare, dass es bereits ein guter Start wäre, die gültige Verfassung anzuwenden. Eines der grundlegendsten Rechte eines Parlamentes ist beispielsweise die Haushaltshoheit. Der Ökonom Mahfi Eğilmez setzt sich in seinem persönlichen Blog mit der Haushaltsentwicklung auseinander. Von der Haushaltsprojektion 2022 über den Haushalt 2023 bis zum Nachtragshaushalt im Juli sind die Einnahmen- und Ausgabenprognosen astronomisch gestiegen. Doch weder bei den Einnahmen noch bei den Ausgaben lässt sich erkennen, wofür sie eigentlich sind bzw. woher sie eigentlich kommen sollen. Zu den Bürgerrechten gehört das Versammlungsrecht. Das Verfassungsgericht entschied zwei Mal, dass die Mahnwache der Samstagsmütter in Istanbul nicht behindert werden darf. Gleichwohl werden alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer jeden Samstag von Neuem verhaftet.
Der Parteirat der Iyi Partei hat beschlossen in allen 81 Provinzen mit eigenen Bürgermeisterkandidaten bei der für den 31. März 2024 vorgesehenen Kommunalwahl anzutreten. Die Berichterstattung über die Beratung ist etwas widersprüchlich. Fest steht jedoch, dass sich nur vier Mitglieder des Rates gegen diesen Beschluss aussprachen.
Auf den ersten Blick wirkt die Entscheidung nicht sehr plausibel. Die Metropolen Ankara und Istanbul konnten nur durch eine Kooperation mit der CHP errungen werden. Auch in Städten wie Adana und Antalya ist eine solche Zusammenarbeit wichtig.
Auf der anderen Seite hatte die Vorsitzende der Partei Meral Akşener nach der Parlamentswahl erklärt, dass die Kooperation mit der CHP und den kleineren Parteien der Iyi Partei geschadet habe. Insbesondere die Unterstützung von Kemal Kılıçdaroğlu durch die HDP sah sie als problematisch an. Mit eigenen Kandidaten und ohne Bündnis hofft die Iyi Partei vermutlich ist ihr Profil zu schärfen. Zwar wird sie bei der Kommunalwahl vermutlich schlecht abschneiden, doch könnte dies vielleicht zu einem Vorteil bei der nächsten Parlamentswahl werden.
Gewagt ist die Entscheidung – wenn es dabei bleibt – jedoch schon. Denn eine klare Niederlage bei der Kommunalwahl könnte auch dazu führen, dass die Iyi Partei in der Bedeutungslosigkeit versinkt. Unwahrscheinlich ist eine solche Niederlage nicht, weil insbesondere in Istanbul bisherige Wähler der Iyi Partei den amtierenden Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu unterstützen dürften.
Am 15. September 2023 hat Özgür Özel, Fraktionsvorsitzender der CHP im Parlament, nun offiziell seine Kandidatur für den Vorsitz seiner Partei erklärt und zugleich ein Positionspapier veröffentlicht. Neben dem Amtsinhaber Kemal Kılıçdaroğlu bewirbt sich außerdem noch Örsan Öymen. Özel nannte als möglichen Termin für den Parteitag den 5. November.
Mit dem Positionspapier von Özgür Özel könnte die Diskussion über den „Wandel“ bei der CHP vielleicht etwas inhaltlicher werden. Mit Aussagen, dass die CHP stets an der Seite der Arbeitenden stehen müsse oder auch der Betonung sozialer Gerechtigkeit positioniert er die Partei deutlicher links als sie es in den letzten Jahren war. Auch den Kurden-Konflikt spart er nicht aus und erklärt, dass im Parlament eine Konsenskommission unter Einbeziehung aller Parteien gebildet werden müsse, um ein Plan zur Beilegung des Konflikts zu entwickeln. Wichtig ist zudem die Kritik am Beraterwesen in seiner Partei, an dem er kritisiert, dass es an die Stelle der eigentlichen Parteiarbeit getreten sei. Er verspricht wiederbelebte Organe und eine aktive innerparteiliche Diskussion und Meinungsbildung.
In einem Beitrag für die Tageszeitung Birgün erklärt Berkant Gültekin, dass es die „politischste“ Präsentation der letzten Jahre aus der CHP sei. Zugleich weist er jedoch darauf hin, dass Özel seit Jahren Spitzenpolitiker der CHP und damit auch für die von ihm kritisierten Zustände mit verantwortlich ist. Selbstkritik könne an dieser Stelle die Glaubwürdigkeit erhöhen.
Vermutlich wird man, wenn man in zehn Jahren zurückschaut, den Umbruchcharakter unserer Gegenwart besser verstehen. Beim Verkehr vollzieht sich ein rasanter Wandel vom Antrieb durch Verbrennungs- zum Elektromotor. Und mit Blick auf die Vergangenheit lässt sich voraussehen, dass viele Auto-Marken, die heute über bedeutende Marktanteile verfügen, bereits in zehn Jahren kaum noch eine Rolle spielen. In einem Beitrag für die Wirtschaftsplattform ekonomim berichtet Ussal Şahbaz über die Internationale Automobilausstellung. Chinesische Firmen haben mit ihrer Präsenz Aufsehen erregt. Seiner Meinung nach haben diese Firmen gute Aussichten, diesen Zukunftsmarkt zu dominieren. Aus diesem Grund rät er, dass das türkische Kfz-Zuliefergewerbe, das bisher schwerpunktmäßig für europäische Fabriken arbeitet, neue Verbindungen knüpfen sollte.
Bei einem anderen Zukunftsprojekt, das beim G20-Gipfel in Indien auf den Weg gebracht wurde, geht es um die Lenkung von Handelsströmen. Als Antwort auf das chinesische Seidenstraßenprojekt soll ein Indien-Nahost-Europa-Korridor geschaffen werden. Kernstück dürfte dabei ein Schienennetz sein, das von Saudi Arabien über Jordanien nach Israel führt. Von dort soll es per Schiff weiter nach Griechenland und dann wieder per Schiene nach Europa führen. Parallel dazu sollen eine Wasserstoffpipeline entstehen und die Datennetze ausgebaut werden.
Auch wenn Kritiker einwenden, dass das Projekt noch in den Kinderschuhen stecke, weil in Indien nur eine unverbindliche Absichtserklärung unterzeichnet wurde und auch die Finanzierung ungeklärt sei, weist Fehmi Taştekin in einem Beitrag für Gazete Duvar auf die großen Investitionen der Golfstaaten in das Schienennetz hin. Und auch wenn das Projekt vordergründig als Versuch betrachtet wird, chinesischen Einfluss im Nahen Osten und Afrika einzudämmen, ist es nicht unwahrscheinlich, dass sich beide Projekte ergänzen könnten.
Die Türkei ist an dem Projekt nicht beteiligt und Staatspräsident Erdoğan erklärte, dass ein Projekt ohne Beteiligung der Türkei zum Scheitern verurteilt sei. Da das Projekt jedoch nicht vom Himmel gefallen sein dürfte hat es vermutlich die türkische Diplomatie versäumt, sich frühzeitig wirksam einzubringen.
Ein weiterer Meilenstein der Veränderung ist der Beginn mit den Vorbereitungen für die Einführung eines Karbon-Zolls an den EU-Grenzen am 1. Oktober. Wirksam wird dieser Zoll erst 2026, doch für die Vorbereitung der besonders energieintensiven Sektoren wie Stahl, Zement und Keramik sind bedeutende Investitionen erforderlich, wenn die Türkei keine Wettbewerbsnachteile hinnehmen will. Nach Einschätzung von Sultan Tepe von der Industriekammer Istanbul haben die Großunternehmen in der Türkei bereits einen bedeutenden Weg zurückgelegt, das Problem bestehe jedoch bei den mittelständischen Unternehmen, die vielfach noch nicht über das erforderliche Problembewusstsein verfügten.
Verkehr – Handelswege – grüne Industrie sind nur einige Faktoren, die einen schnellen Wandel nach sich ziehen. Zurzeit ist die Türkei für einen solchen Wandel alles andere als gut aufgestellt. Es bedürfte einer Aufbruchsstimmung, die diese Themen vom Rand der öffentlichen Wahrnehmung ins Zentrum bringt.