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Der Prozess um die Gezi Park Proteste 2013 schafft immer neue Probleme. Nach der Missachtung des Urteils des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte haben sich nun das 13. Große Strafgericht Istanbul und die dritte Kammer des Kassationsgerichtshofes dem Verfassungsgericht widersetzt. Die Richter des Kassationsgerichtshofes gingen sogar noch einen Schritt weiter und stellten Strafantrag gegen ihre Kollegen vom Verfassungsgericht. Diese überraschende Entwicklung legt den Schluss nahe, dass es nicht nur um die weitgehend friedliche Protestbewegung von 2013 oder prominente zivilgesellschaftliche Aktivisten wie Osman Kavala und Can Atalay geht, sondern auch darum, eine neue, von der europäischen Menschenrechtsordnung abgekoppelte Rechtssprechung durchzusetzen.
Am 13. Oktober stand eine Entscheidung des Verfassungsgerichts im individuellen Klageverfahren von Can Atalay auf der Tagesordnung. Doch die Sitzung konnte nicht stattfinden, weil ein Richter erklärte, er habe nicht ausreichend Zeit für seine Vorbereitung gehabt.
Am 25. Oktober 2023 entschied das Verfassungsgericht dem Antrag des inhaftierten Abgeordneten der Türkischen Arbeiterpartei (TIP) Can Atalay stattzugeben und schrieb das 13. Große Strafgericht Istanbul an, eine unverzügliche Freilassung zu erlassen. Es folgte damit seiner früheren Rechtsprechung, dass die Einschränkung der Grundrechte, insbesondere der parlamentarischen Immunität durch Artikel 14 der Verfassung zu unbestimmt und in ihren Folgen unvorhersehbar sei, um eine konsistente Anwendung zu ermöglichen.
Das 13. Große Strafgericht folgte diesem Urteil des Verfassungsgerichts nicht, sondern schrieb dem 3. Strafgericht am Kassationsgerichtshof, das im September den Revisionsantrag Atalays zurückgewiesen hatte und bat um eine neue Rechtseinschätzung. Angesichts eines bindenden Urteils des Verfassungsgerichts, gegen das keine Berufung möglich ist, ein ungewöhnlicher Schritt, der zur Verlängerung des rechtswidrigen Zustands führt. Interessant ist, dass in dem Schreiben aus Istanbul als Entscheidungsdatum des Verfassungsgerichts nicht der 25. Oktober, sondern der 13. Oktober verwendet wurde. Doch die Sitzung war verschoben worden. Dies legt nahe, dass bereits vor dem 25. Oktober vorsorglich ein Vorgehen im Falle eines Urteils des Verfassungsgerichts auf Grundrechtsverletzung entschieden wurde.
Die Staatsanwaltschaft am Kassationsgerichtshof trug ihren Standpunkt, dass die Inhaftierung Atalays fortbestehen müsse und er seine parlamentarische Immunität verloren habe, erneut vor, ohne auf das Urteil des Verfassungsgerichts einzugehen. Daraufhin entschied die 3. Strafkammer des Kassationsgerichts auf dem bisherigen Urteil zu bestehen und stellte zugleich Strafantrag gegen die neun Verfassungsrichter, die für Grundrechtsverletzung entschieden haben.
Ein Berater des Staatspräsidenten erklärte, dass das Verfassungsgericht nicht einfach die gefestigte Rechtsprechung des Kassationsgerichtshofes übergehen könne. Als der neue CHP-Vorsitzende von einem „Putsch gegen die verfassungsmäßige Ordnung“ sprach, wies Justizminister Tunç entschieden zurück. Staatspräsident Erdoğan äußerte sich schließlich und erklärte, dass man den Standpunkt des Kassationsgerichtshofes nicht einfach übergehen könne. Das Verfassungsgericht habe mehrfach durch Urteile für Verwirrung im Rechtssystem gesorgt. Dies sei ein Problem, das bei an der Arbeit für eine neue Verfassung unbedingt berücksichtigen müsse. Aus der MHP als Bündnispartner der regierenden AKP kam die Einschätzung, dass man das Problem mit dem Verfassungsgericht lösen müsse oder es ganz auflösen könnte. Am 10. Oktober schloss sich das Präsidium des Kassationsgerichtshofes der Haltung des 3. Strafgerichts an und wies darauf hin, dass die Doktrin eines Fachgerichts für das Verfassungsgericht Maßstab sein müsse. Es übersieht dabei, dass in Verfassungsauslegung das Fachgericht das Verfassungsgericht ist.
Am 11. Oktober erschien die regierungsnahe Tageszeitung Yeni Şafak auf der Titelseite mit den Fotos der neun Verfassungsrichter und warf ihnen vor, die Pforte für Gülen Anhänger und die PKK geöffnet zu haben.
Der Strafantrag gegen die Richter und der Beginn einer persönlichen Kampagne gegen die Richter soll vermutlich Druck auf das Verfassungsgericht ausüben. Wenn ein Antrag auf erneute Feststellung der Grundrechtsverletzungen von Can Atalay noch nicht gestellt ist, wird er vermutlich zeitnah erfolgen. In diesem Fall muss das Verfassungsgericht erneut entscheiden. Ob die neun Richter dann bei ihrem Urteil bleiben, ist offen.
Ob ein Strafantrag gegen Verfassungsrichter zur Beendigung ihrer Mitgliedschaft führt, entscheidet das Verfassungsgericht mit absoluter Mehrheit. Doch über die Aufnahme eines Ermittlungsverfahrens findet sich keine Bestimmung in der Verfassung.
Eine Möglichkeit des Verfassungsgerichts, das Gesicht zu wahren, ohne offen gegen den Druck zu rebellieren, wäre einfach, eine erneute Entscheidung zu Can Atalay zu vermeiden. Niemand kann das Verfassungsgericht zwingen, einen Fall auf die Tagesordnung zu nehmen. Dies kann zuweilen Jahre dauern.
Der Streit fällt in die Phase, in der der Europarat über Sanktionen gegen die Türkei aufgrund des Missachtung des Urteils des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte im Fall Osman Kavala entscheiden muss. Die parlamentarische Versammlung im Europarat hat angedroht, dass den türkischen Mitgliedern ab dem 1. Januar 2024 die Akkreditierung entzogen werden könnte. Auch hatte es angeregt, individuelle Sanktionen gegen alle zu verhängen, die am fortgesetzten Rechtsbruch beteiligt sind. Die prominentesten Ziele könnten die Mitglieder des 3. Strafgerichts am Kassationsgerichtshof sein.
Es gibt jedoch eine weitere Möglichkeit, die einen schweren Gesichtsverlust für die türkische Justiz bedeuten würde. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte könnte entscheiden, dass er das individuelle Verfahren vor dem türkischen Verfassungsgericht nicht mehr als innerstaatlichen Rechtsweg anerkennt. In diesem Fall wäre die Anrufen des europäischen Gerichts möglich, auch wenn dieses noch nicht geurteilt hat. Zugleich würde dem türkischen Verfassungsgericht bescheinigt, dass es nicht mehr als unabhängiges Gericht bewertet wird.
So oder so schreitet die Demontage des Rechtsstaats in der Türkei schnell voran. Dass die Regierung kurzfristig eine Mehrheit findet, um die Verfassungsänderung zu erreichen, mit der sie das Verfassungsgericht abschaffen oder die Verbindlichkeit seiner Urteile aufheben könnte, ist nicht zu erwarten. Aber es kann persönlicher Druck ausgeübt werden und beim Ausscheiden von Richtern durch die Benennung von neuen sichergestellt werden, dass keine missliebigen Urteile mehr erfolgen.
Dass die Anwaltskammer Ankara und die Union der türkischen Anwaltskammern am 10. November eine Protestkundgebung vor dem Kassationsgerichtshof abhielten ist so ehrenwert wie hilflos. Vielleicht sollten sie noch eine Veranstaltung durchführen und sich schützend vor das Verfassungsgericht stellen. Auch die Mahnwache von Abgeordneten im türkischen Parlament ist ehrenwert, doch Sätze wie „Wir werden nicht zulassen…“ bedürften der Fortsetzung, was denn unternommen werden soll. In der Vergangenheit endeten solche Sätze immer damit, dass eben doch zugelassen wurde, dass Tatsachen geschaffen wurden.
Mit 812 der 1.367 Delegiertenstimmen wurde der bisherige Fraktionsvorsitzende Özgür Özel zum neuen Parteivorsitzenden gewählt. Kemal Kılıçdaroğlu erhielt 536 Stimmen. Özel wurde vom Oberbürgermeister Istanbuls Ekrem İmamoğlu unterstützt und tritt für einen Wandel der Partei mit mehr Transparenz und Beteiligung der Parteibasis ein. Auch bei der Wahl des Parteirates, des höchsten Entscheidungsgremiums der Partei zwischen den Parteitagen konnte er eine klare Mehrheit erreichen.
Für den bisherigen Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu muss es ein bitterer Tag gewesen sein. Bereits beim ersten Wahlgang lag er hinter Özel zurück. Da für die Wahl ohnehin eine absolute Mehrheit der Delegiertenstimmen erforderlich ist, hätte sein Rückzug dennoch den zweiten Wahlgang erforderlich gemacht.
Damit der Wandel nicht nur ein personeller bleibt, soll im November ein weiterer Parteitag durchgeführt werden, auf dem es um Satzungsänderungen gehen wird. Zu den bisher diskutierten Ideen gehört eine App für CHP-Mitglieder, mit deren Hilfe sie sich einmal pro Woche mit Feedbacks und Bewertungen einbringen können. Auch sollen bei der Bestimmung von Kandidaten Abstimmungen unter den Mitgliedern durchgeführt werden. Andere Ideen wie beispielsweise die Direktwahl des Vorsitzenden finden ihre Grenze am Parteiengesetz, könnte aber mit Empfehlungscharakter verwirklicht werden.
Viel Zeit hat die neue Führung der CHP nicht. Im Dezember müssen die Kandidaten für die Kommunalwahl bestimmt werden, denn bereits am 1. Januar 2024 beginnt offiziell der Wahlkampf. Die AKP beginnt ihre Mitgliederbefragung bereits und will sie am 19. November abgeschlossen haben.
Ein Jahr nach seiner Verabschiedung wurde erstmals mit dem Verdacht der Desinformation eine Ermittlung gegen den Journalisten Tolga Şardan eingeleitet. Er wurde inhaftiert und seine Wohnung durchsucht, kam jedoch nach sechs Tagen Haft wieder frei. Şardan hatte über einen Bericht des Geheimdienstes MIT über Korruption in der Justiz berichtet. Das Präsidialamt jedoch bestreitet die Existenz eines solchen Berichtes. Gleichzeitig beschloss das Verfassungsgericht, die Klage gegen den Strafrechtsartikel zur Desinformation auf die Tagesordnung zu nehmen. Am 8. November wurde die Klage mit Stimmenmehrheit abgewiesen.
Der Straftatbestand ist an drei Bedingungen geknüpft. Zunächst muss es sich bei der Tat um eine Falschinformation handelt. Außerdem muss diese geeignet sein, die öffentliche Ordnung zu gefährden. Und schließlich muss dies nicht nur vorsätzlich erfolgen, sondern mit der Absicht, Unruhe zu stiften. Man sollte glauben, dass alle drei Bedingungen kaum zu erfüllen sind. Doch begnügte sich beispielsweise Justizminister Tunç damit, die drei Bedingungen auf eine zu reduzieren. Zur Festnahme von Tolga Şardan erklärte er, dass die Verbreitung von Falschinformationen doch nicht ungestraft bleiben könne. Wobei als einzige Quelle, von einer Falschinformation zu sprechen, das Dementi der Präsidialverwaltung herangezogen wird. Wenn jedoch alles, was vom Präsidenten als „falsch“ dementiert wird, nicht mehr berichtet werden darf, bleibt nur noch wenig zu sagen.
Die Erdbeben vom 6. Februar mit ihren mehr als 50.000 Toten haben die Notwendigkeit der Erdbebensicherheit noch einmal vor Augen geführt. Doch auch mehr als 20 Jahre nach dem großen Marmara Erdbeben und der Gewissheit, dass das nächste Beben dort vor allem Istanbul treffen wird, haben an der Sicherheitslage wenig geändert.
Das neue Gesetz soll nun zur Beschleunigung führen. Verfahren werden vereinfacht, Zustimmungsanforderungen verringert, Gerichtsverfahren nicht mehr abgewartet. Doch besonderen Anstoß erregte, dass auch Gebäude enteignet werden können, die nicht gefährdet sind. Auf diese Weise kann jede Immobilie mit Begründung des Katastrophenschutzes enteignet werden.
Betrachtet man die bisherige Praxis der Stadtsanierungsprojekte in Istanbul, so fällt auf, dass sie nicht unbedingt in den gefährdetsten Stadtgebieten durchgeführt wurden. In Beykoz-Tokatköy wurde eine halbe Siedlung abgerissen. Den Bewohnern, die sich nicht fügen wollten, wurde zunächst Strom und Wasser abgestellt. Als dies nicht ausreichte wurde mit Polizeigewalt geräumt. Die Räumung fand vor Abschluss des Prozesses vor dem Verwaltungsgericht statt, bei dem die früheren Bewohner Recht bekamen. Doch ihre Häuser waren längst abgerissen.
Die Industriekammer Konya und die Wirtschaftszeitung Ekonomi haben in Konya eine Konferenz zur Vorbereitung auf den europäischen Green Deal durchgeführt. In seiner Eröffnungsrede wies der Kammervorsitzende Büyükeğen darauf hin, dass türkischen Unternehmen bei Exporten in die EU Extrasteuern in Höhe von 4 Mrd. Dollar jährlich drohen, sollten die Vorbereitungen nicht erfolgreich abgeschlossen werden. Konyas Oberbürgermeister Uğur İbrahim Altay wiederum wies darauf hin, dass die Vorbereitungen eines Aktionsplans für die Einlösung des Emissionsziels bis 2053 weitgehend abgeschlossen seien. Der Plan behalte sowohl Maßnahmen zur Verringerung der Emissionen als auch solche, die die Stadt robuster gegenüber den Folgen des Klimawandels machen.
Leider nicht im Bericht über die Konferenz enthalten ist ein Überblick über den Stand der Vorbereitungen auf sektoraler oder Unternehmensebene. Betont wurde jedoch, dass große Eile geboten ist. Sich auf die neuen Spielregeln im Handel mit Europa rechtzeitig einzustellen, dürfte ein Schlüsselthema für die türkische Exportwirtschaft werden. Und vielleicht kann dies zugleich auch dazu führen, durch effizientere Prozesse die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen zu verbessern.
Das Meinungsforschungsinstitut AGS Global hat eine Untersuchung unter Angestellten von Holdings durchgeführt und nach ihrem Umgang mit der Inflation gefragt. Als problematischste Bereiche wurden dabei Treibstoff/Verkehr, Nahrungsmittel sowie Bekleidung genannt. Am stärksten wurde das Budget für auswärtiges Essen gekürzt sowie die Ausgaben für Reisen und Ferien. Aber auch bei Heimelektronik und Bekleidung wurde gespart. 40 Prozent der Befragten gaben an, in diesem Jahr keine Urlaubsreise gemacht zu haben. Dieser Anteil lag im Vorjahr bei nur 20 Prozent. Veränderungen gab es außerdem bei den Verkehrsgewohnheiten. Ein Drittel gab an, dass Auto häufiger stehen zu lassen, ein Viertel denkt über Fahrgemeinschaften nach.