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Das Parlament arbeitet auf Hochleistung, um vor der Sommerpause die Gesetzespläne der Regierung zu verwirklichen. Derweil hat die Regierung eine gewisse Kurskorrektur vorgenommen und denkt nun doch an Schritte zur Integration syrischer Flüchtlinge. Pläne zur Rentenreform dürften einigen Diskussionsstoff liefern.
Eigentlich hätte das Parlament am 1. Juli in die Sommerpause gehen müssen. Doch die Regierungsmehrheit beschloss, die Sitzungsperiode um einen Monat zu verlängern, um einige als dringlich eingestufte Gesetzesvorhaben zu verwirklichen. Darunter befand sich auch ein so genanntes „Sackgesetz“ mit dem Änderungen an zahlreichen Steuerbestimmungen vorgenommen werden sollten. Diese Art von Gesetz hat einen schlechten Ruf. Häufig enthalten diese Sammelgesetze Bestimmungen, die recht unterschiedlichen Rechtsgebieten angehören. Dies erschwert die Ausschussberatungen und erhöht die Fehlerwahrscheinlichkeit.
Die geplanten Änderungen bei den Steuern waren bereits im Juni teils durch Aussagen des Finanzministers, teils durch gezielte Indiskretionen an die Öffentlichkeit gelangt und wurden intensiv diskutiert. Dies ist im Grunde begrüßenswert. Doch dass mit der Vorlage des Gesetzentwurfes im Parlament bis Mitte Juli gewartet wurde, erscheint dann doch als eine Missachtung des Parlaments. Denn nun soll dieses Sackgesetz innerhalb von zwei Wochen durch den Haushaltsausschuss und danach im Plenum verabschiedet werden.
Beim Übergang zum Präsidialsystem wurde auch das Gesetzgebungsverfahren geändert. Zuvor konnten Gesetzentwürfe sowohl vom zuständigen Ministerium als auch von Abgeordneten eingebracht werden. Nach dem neuen System können nur noch Abgeordnete Gesetze einbringen. Dies sollte zu einer Stärkung des Parlaments führen. De Facto ist es jedoch so, dass die Ministerien die Gesetze ausarbeiten und diese dann Abgeordneten zur Unterschrift vorgelegt werden, um sie dann einzubringen. Die Mitwirkung der Abgeordneten ist dabei eine reine Formalität.
Zur Qualität von Gesetzen trägt bei, wenn vor ihrer Verabschiedung eine Folgeabschätzung vorgenommen wird. Diese sollte durch das Parlament erfolgen, denn die Hoheit über die Ausgestaltung liegt bei ihm. Vorgesehen ist dies im türkischen Parlament nicht und die Praxis beim gegenwärtigen Steuergesetz, nur zwei Wochen für die Verabschiedung vorzusehen, zeigt auch, dass die Rolle des Parlaments auf eine Formalität reduziert wird.
Ein weiteres Qualitätsmerkmal von Gesetzen ist, dass die Betroffenen gehört werden, bevor es verabschiedet wird. Durch diese Stellungnahmen können Probleme frühzeitiger erkannt und vermieden, zum Teil auch Interessenausgleiche erreicht werden. Auch dies müsste im Parlament erfolgen, denn dies trifft die Entscheidung. Wenn solche Beteiligungsprozesse überhaupt durchgeführt werden, dann überwiegend durch die Ministerien. Auch in dieser Hinsicht wird das Parlament auf die Rolle einer Gesetzgebungsmaschine reduziert.
Insgesamt soll das Parlament in zwei Wochen 180 Rechtsvorschriften erlassen, die auf verschiedene Gesetze verteilt sind. Dazu soll es an sieben Tagen der Woche ohne Beschränkung der Sitzungszeit tagen. Die erste Ausschusssitzung zum Tierschutzgesetz dauerte 18 Stunden. Die Änderung des Tierschutzgesetzes ist besonders umstritten, denn sie öffnet den Weg, Probleme mit Straßenhunden durch Massenvernichtung zu lösen. Tierschützer und Veterinäre lehnen das Gesetz ab. In der Ausschussberatung erklärte ein AKP-Abgeordneter, dass es nicht angehen könne, die Kinder in den Häusern einzuschließen, nur damit Hunde sich frei bewegen können. Man mag mit den Schultern zucken und denken, dass Polemik zur Politik gehört. Doch es gibt offensichtlich Probleme im Hinblick auf Straßenhunde. Diese Probleme müssen analysiert und Lösungsoptionen entwickelt werden. Dabei werden sich mit Sicherheit bessere Lösungen als die vorgeschlagene finden lassen. Voraussetzung wäre jedoch ein Parlament, das seiner Funktion gerecht wird.
Das irakische Außenministerium hat angekündigt, dass es ein Gipfeltreffen zwischen Staatspräsident Erdoğan und Staatspräsident Assad in Bagdad geben könnte. Die Sondierungen haben also Fortschritte gemacht, obgleich Syrien nach wie vor den Abzug der türkischen Truppen aus Syrien zur Bedingung stellt. Dass die Gespräche auch ohne diese Forderung nicht einfach werden, lässt sich auch an der Erwartung von türkischer Seite ermessen, dass die syrische Regierung nicht nur Garantien für eine sichere Rückkehr der syrischen Flüchtlinge in der Türkei gibt, sondern ihnen auch ihr enteignetes Eigentum zurückerstattet wird.
Der Abzug der türkischen Truppen aus Syrien dürfte mit Garantien der syrischen Regierung verbunden werden, kurdische Autonomiebestrebungen nicht zuzulassen und eine Amnestie oder eine Eingliederung der von der Türkei unterstützten Milizen in die syrische Armee voraussetzen. Im Hinblick auf die Kurden in Syrien spielen dann auch die USA eine Rolle, die deren Autonomiebestrebungen in Nordost-Syrien indirekt unterstützen. Ein Hauptinteresse dürfte dabei die Destabilisierung Syriens sein, um das Assad-Regime an einer Rolle im Israel-Konflikt zu hindern. Zwei weitere Faktoren dürften für die USA die Präsenz iranischer Milizen und die russischen Militärbasen sein.
Während allein die bilateralen Probleme nicht leicht zu lösen sind, sorgt die Rivalität zwischen den USA und Russland sowie die Feindschaft gegenüber dem Iran für zusätzlichen Konfliktstoff. Eine kurzfristige Entwicklung ist darum nicht sehr wahrscheinlich.
Dies wiederum lenkt den Blick auf das Problem, das Ankara zurzeit am stärksten auf den Nägeln brennt: die Flüchtlingspolitik. Die Nachrichtenplattform T24 berichtet von einer geplanten Doppelstrategie. Während in Verhandlungen mit der syrischen Regierung eine Rückkehr von möglichst vielen syrischen Flüchtlingen aus der Türkei ermöglicht werden soll, ist erstmals auch die Rede von Integrationsmaßnahmen für jene, die nicht zurückkehren können oder wollen. Dies ist ein neues Element. Es umfasst nicht nur sprachliche und kulturelle Integration, sondern es soll auch dazu übergegangen werden, reguläre Arbeitsbedingungen für in der Türkei erwerbstätige Syrer durchzusetzen.
Auch wenn dies nicht genügen wird, die negative Haltung eines wachsenden Bevölkerungsteils gegen die syrischen Flüchtlinge umzukehren, so können zumindest zwei Dinge damit erreicht werden. Zum einen wird ein Schritt gegen den Eindruck unternommen, dass Syrer gegenüber Türken Vorteile genießen. Zum anderen wird die Konkurrenz auf dem irregulären Arbeitsmarkt gemindert.
Am 7. Mai 2023, unmittelbar vor der Parlaments- und Präsidentenwahl, wurde Istanbuls Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu in Erzurum bei einer Kundgebung mit Steinwürfen angegriffen. Er selbst wurde nicht getroffen, doch wurden 17 Personen verletzt. Es wurden 28 Personen angeklagt, an der Aktion beteiligt zu sein. Sie wurden nun wegen „Körperverletzung“ zu 5 Monaten und 26 Tagen Haft verurteilt. Eine Strafe dieser Größenordnung wird in der Türkei nicht vollstreckt, wenn nicht eine Vorstrafe vorliegt.
Man könnte sich fragen, was passiert wäre, wenn die Angeklagten die Steine nicht auf İmamoğlu, sondern Staatspräsident Erdoğan geworfen hätten. Vermutlich wären sie von seinen Personenschützern erschossen worden. Doch vermutlich hätte sich in diesem Fall, falls jemand überlebt hätte, Gedanken darüber gemacht, dass es sich um einen Angriff auf einen demokratischen Wahlprozess gehandelt habe. Dass kollektives Handeln vorgelegen hat. Natürlich wurde auch die öffentliche Ordnung gestört und das Demonstrationsrecht verletzt. Präsidentenbeleidigung und anderes wäre ins Feld geführt worden. Herausgekommen wäre ein Strafmaß von mehreren Jahren.
Man muss nun die doppelten Maßstäbe der türkischen Justiz nicht als Kriterium heranziehen. Doch dass es sich bei dem Angriff auf eine Wahlkampfkundgebung nicht um eine einfache Körperverletzung handelt, sollte offensichtlich sein. Dass mehrfach Veranstaltungen der Opposition während des Wahlkampfes 2023 aufgrund mangelnden Polizeischutzes vorzeitig abgebrochen werden mussten, ist bekannt. Mit diesem Urteil erhält diese Praxis nun auch die Weihe durch die Justiz.
Und man bedenke das Missverhältnis: 5 Monate und 26 Tage für vollzogene Körperverletzung an Teilnehmern der Kundgebung gegenüber langjährigen Haftstrafen wegen angeblicher Präsidentbeleidigung?
Bleibt außerdem auf ein Foto einzugehen, das in dieser Woche viel Aufmerksamkeit erregt hat. Es zeigt den Besuch des MHP-Vorsitzenden Devlet Bahçeli bei den Sondereinheiten der Polizei, bei der der Kommandeur dem Gast mit einer Verbeugung die Hand küsst. Es ist eine Geste, die in einigen Familien noch von Jüngeren gegenüber Älteren erwartet wird. Sie erinnert aber auch an den Kniefall und Ring-Kuss im Feudalismus. Dass die MHP und ihr Vorsitzender in der Polizei recht populär sind, ist kein Geheimnis. Auf der anderen Seite zeigen die Ermittlungen zur Ermordung des früheren Vorsitzenden der Ülkü Ocakları Sinan Ateş, in welchem Maße Polizisten und polizeiliche Ressourcen in die Vorbereitung des Attentats involviert waren. Diese Verquickung, zusammen mit den guten Verbindungen in die Justiz schaffen ein Klima, in dem sich Anhänger dieser Partei anscheinend frei fühlen, sich über Gesetze zu stellen.
Während das Parlament dabei ist, eine Erhöhung der Mindestrente von 10.000 TL auf 12.500 TL zu beschließen, wird mitgeteilt, dass davon 3,7 Mio. Rentnerinnen und Rentner betroffen sind. Eigentlich wollte die Regierung auf eine Erhöhung der Mindestrente verzichten, doch es war wohl der wachsende Unmut im Land, der zu einer Kursänderung zwang.
Der letzte größere Eingriff ins Rentensystem ist im vergangenen Jahr mit dem Erlass einer Frührente für diejenigen, die vor 1999 sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren. Einem Bericht von NTV zufolge waren davon 2 Millionen Beschäftigte betroffen. Das Durchschnittsalter war 48,1 Jahre. Der Vorsitzende der Handelskammer Istanbul Şekip Avdagiç ging in einer Rede darauf mit dem Hinweis ein, dass sich 2023 die Zahl der Rentenanträge verdoppelt hat. Mit der Rente wurden auch die gesetzlichen Abfindungsansprüche fällig, die in der Türkei eine bedeutende Rolle bei der Alterssicherung spielen. Im Effekt hat dies nach Einschätzung von Avdagiç zu einem enormen zusätzlichen Geldfluss geführt (der letztlich wohl nicht ohne Auswirkung auf die Inflation bleibt).
Hinzu kommt, dass viele der Frührentner erneut erwerbstätig geworden sind. Da ihnen eine Registrierung der neuen Tätigkeit nichts nützt, sondern eher Risiken birgt (im vergangenen Jahr sollte eine Zulage nur Rentnern zugestanden werden, die nicht erwerbstätig sind) hat dies zu einer enormen Ausweitung des irregulären Arbeitsmarktes geführt. Die Arbeitgeberseite wiederum ist über diese arbeitenden jungen Rentner recht erfreut, weil ohne sie insbesondere in der Industrie Facharbeitermangel eingetreten wäre.
Die Kehrseite ist, dass mit dem schnellen Anwachsen der Zahl der Rentner das Defizit der Rentenversicherung steigt. Das Rentenniveau wiederum ist für mehr als 3,7 Mio. Menschen nicht hoch genug, um allein die Ernährungskosten zu sichern. Nun gibt es einem Bericht der Wirtschaftsplattform ekonomim zufolge Pläne gegenzusteuern.
Zum einen ist an eine Erhöhung des Rentenalters um zwei Jahre gedacht. Zum anderen scheint man das Prinzip der Grundrente aufgeben zu wollen. Für diejenigen, deren Rente unzureichend ist, sollen Sozialleistungen (Beihilfen für Verkehr, Lebensmittel oder auch Mieten) greifen. Damit ergäbe sich Einsparungspotenzial, denn wenn es sich um Sozialleistungen handelt, würde vermutlich eine Prüfung der Bedürftigkeit eingeführt. Ein zweiter Aspekt ist, dass unter älteren Menschen der Gedanke, Sozialleistungen zu beantragen, mit ihrer Würde unvereinbar ist.
Doch umgekehrt ist bei der Würde eigentlich der springende Punkt. Wenn die kollektive Alterssicherung nicht ausreicht, um ein Leben ohne Sozialleistungen führen zu können, obgleich die Pflichtbeiträge entrichtet wurden, scheint das System vor allem in dieser Hinsicht reformbedürftig.