Istanbul Post

Kurzmeldungen: Alle Kurzmeldungen

Die Woche vom 25. Oktober bis zum 1. November 2024

Die Absetzung des Bürgermeisters des Istanbuler Stadtbezirks Esenyurt hat die innenpolitischen Fronten verhärtet. Die Inflation in Istanbul ist zwar auch im Oktober weiter gesunken, jedoch deutlich entfernt von den Erwartungen der Regierung. Derweil weist der Kolumnist der Wirtschaftsplattform ekonomim Şeref Oğuz auf die Abgehobenheit der politischen Diskussionen von den Alltagserfahrungen der Menschen hin. Während letztere mit immer größerer Mühe ihren Lebensunterhalt sichern, spielt dies in der politischen Diskussion eine sehr untergeordnete Rolle.

Absurditätskabinett

Staatspräsident Erdoğan hat eine Schadenersatzklage gegen den Oberbürgermeister Istanbuls İmamoğlu eingereicht. Dieser habe seine früheren Wahlerfolge nicht anerkannt, sondern erklärt, Erdoğan würde „mit dem Knüppel“ Wahlergebnisse ungeschehen machen. Den Schaden an der Ehre des Präsidenten bemisst dessen Anwalt mit einer Million Türkische Lira.

Man hätte ja auch ein Verfahren wegen Präsidentenbeleidigung einleiten können. Doch ein Strafverfahren erschien wohl nicht opportun. Parlamentarische Immunität ist hier nicht das Hindernis. Aus diesem Grunde hatte der Staatspräsident seine Verleumdungsklagen gegen die Opposition bisher auf zivilrechtlichem Wege führen lassen.

Gesetzt den Fall, die Klage hat Erfolg. Es wäre ein gerichtliches Urteil über eine politische Äußerung. Dass die Opposition von der politischen Unabhängigkeit der Justiz nicht überzeugt ist, ist kein Geheimnis. Welche Folgen hätte die Verurteilung des Istanbuler Oberbürgermeisters zu einer Buße in Höhe von einer Million Türkischer Lira? Sie bedrohen ihn mit einem Politikverbot durch ein Strafverfahren und nun mit einer Strafe, die sein persönliches Vermögen zunichte macht.

Es ist ein Einschüchterungsversuch, der vermutlich nicht nur auf Ekrem İmamoğlu zielt. Er wird eine Gegenreaktion hervorrufen. Für den inneren Frieden der Türkei auf jeden Fall ein Bärendienst.

Der Bürgermeister von Esenyurt

Der Bürgermeister des Istanbuler Stadtbezirks Ahmet Özer (CHP) wurde am 30. Oktober mit einer Polizeioperation am frühen Morgen festgenommen. Seine Wohnung und sein Amtszimmer wurden durchsucht. Die Staatsanwaltschaft Istanbul teilt mit, dass gegen ihn wegen Mitgliedschaft in der PKK ermittelt wird. Es bestehe ein schwerwiegender Verdacht, der sich auf bis zu zehn Jahre zurückreichende Ermittlungen stützt, die aus Dechiffrierung von Funksprüchen der PKK sowie sichergestellten Dokumenten beruhen soll. Der Anwalt von Bürgermeister Özer erklärt, dass die Ermittlungen gegen seinen Mandanten jedoch erst im Juli 2024 eingeleitet worden seien. Die Festnahme sei unverhältnismäßig, weil sein Mandat einer Ladung zur Aussage nachgekommen wäre. Auf der Grundlage des Antiterrorgesetzes wird ihm zudem die Kontaktaufnahme zu seinem Mandanten verwehrt. Während die Verteidigung keinen Zugang zu den Untersuchungsakten hat, werden einzelne Behauptungen Medien zugespielt. Bereits am Abend wurde durch das Innenministerium ein Vize-Provinzgouverneur als Zwangsverwalter eingesetzt.

Die CHP reagierte entsetzt. Istanbuls Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu erklärte, die Türkei müsse sich von dem Bild eines Landes lösen, in dem Politiker in den frühen Morgenstunden festgenommen werden. Der CHP-Vorsitzende Özgür Özel sprach von einem Komplott. Er berief alle Parlamentsabgeordnete nach Istanbul. Bei einem Meeting auf dem zentralen Platz des Stadtbezirks am 31. Oktober sprach auch die Co-Vorsitzende der DEM.

Aus der MHP hieß es, dass auch andere Städte, in denen die CHP in Absprache mit der DEM Bürgermeisterkandidaten nominiert hat, solche Untersuchungen durchgeführt werden müssten.

Überlegt man sich, dass Staatspräsident Erdoğan bei der Parlamentseröffnung vor nicht einmal einem Monat erklärt hatte, dass es Zeit sei, zusammenzustehen und angesichts der wachsenden Kriegsgefahr in der Region keine Angriffsflächen zu bieten, lässt sich kaum eine wirksamere Provokation denken, als in Istanbul einen Zwangsverwalter als Bürgermeister einzusetzen. Und hatte der MHP-Vorsitzende Bahçeli bei der Parlamentseröffnung die Hände der DEM-Vorsitzenden geschüttelt, so tritt seine Partei nun dafür ein, Bürgermeister unter Terrorismusverdacht zu stellen, die in Kooperation von CHP und DEM nominiert wurden.

In einem Kommentar für die Tageszeitung Karar beschäftigt sich Yıldıray Oğur mit der Frage, ob die Absetzung des Bürgermeisters von Esenyurt als Ende der vom MHP-Vorsitzenden begonnenen Friedensinitiative zu bewerten ist. Zunächst zeigt er die Haltlosigkeit des Terrorismusvorwurfs gegen den Bürgermeister. Doch er merkt auch an, dass auch vor dessen Absetzung die Justiz regelmäßig für politische Zwecke benutzt worden ist. Er ist nach wie vor der Auffassung, dass der Vorstoß von Devlet Bahçeli nur die sichtbare Spitze des Eisberges ist und im Hintergrund geheime Gespräche mit der PKK geführt werden. Doch dies habe wenig mit demokratischen Entwicklungen zu tun. Doch selbst wenn solche Gespräche stattfinden, wirkt der Zeitpunkt für eine Einigung nicht unbedingt günstig. Die Zukunft der PKK hängt genauso von der künftigen Nahost-Politik der USA ab wie von den Feindseligkeiten zwischen Israel und dem Iran. Beides wird sich vermutlich noch mindestens drei Monate im Fluss befinden.

Die Folgen einer Straßenreportage

Dilruba Kayserilioğluwar Anfang August auf der Straße von einem Reporter angesprochen worden. Er fragte sie u.a. nach ihrer Meinung zur Änderung des Tierschutzgesetzes. Sie war aufgebracht und bezeichnete die Anhänger des Staatspräsidenten als Schwachköpfe. Am 12. August wurde sie verhaftet und blieb 18 Tage in Untersuchungshaft. Bereits Anfang September wurde das Gerichtsverfahren gegen sie begonnen, am 31. Oktober das Urteil gesprochen. Sie wurde zu insgesamt eineinhalb Jahren Haft wegen Beleidigung des Präsidenten sowie Volksverhetzung verurteilt. Die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt.

Untersuchungshaft für eine Meinungsäußerung und ein Gerichtsverfahren in einem rekordverdächtigen Tempo… Kaum ein Mörder kommt in so kurzer Zeit vor Gericht. Straßenreportagen sind der Regierung bereits seit längerem ein Dorn im Auge. Hier wurde ein Exempel statuiert, was einem passieren kann, wenn man öffentlich seine Meinung sagt. Und es zeigt sich, dass es immer schwieriger wird, vor einem Mikrofon eine Antwort zu erhalten.

Der Haushalt und das Inflationsprogramm

In einem Beitrag für die Wirtschaftsplattform ekonomim hat sich Nevzat Saygılıoğlu mit dem Haushaltsentwurf beschäftigt, dessen Beratung im Parlament begonnen wurde. Zunächst stellte er in einem Beitrag fest, dass auf der Einnahmenseite eine Steigerung des Steueraufkommens um die Hälfte vorgesehen ist. Auf der Ausgabenseite liegt die Steigerung bei 31,7 Prozent. Das Inflationsziel des mittelfristigen Wirtschaftsprogramms liegt bei 17,5 Prozent. Sowohl Steuern als auch Ausgaben sollen also deutlich höher wachsen als die Inflation.

Als Folge der Hochzinspolitik steigen insbesondere die Zinslasten. Doch dies ist nicht der alleinige Grund, denn es ist eine hohe Neuverschuldung vorgesehen. Der Anstieg der Zinslast liegt gegenüber dem vorherigen Haushalt bei 55,5 Prozent. Die Ausgaben für Personal sollen um 35 Prozent steigen. Das Budget für Investitionen, von denen ein Großteil auf den Straßenbau entfällt, steigt um 38 Prozent. Anhaltspunkte für die Wirksamkeit des von Finanzminister Şimşek verkündete Sparprogramm sieht er nicht.

Der Journalist Fatih Altaylı wiederum weist darauf hin, dass im vergangenen Jahr 43 Prozent des Regierungsbudgets für die Sozialversicherung SGK aufgewendet wurde. Doch mit Blick auf den jüngsten Kriminalfall um Korruption bei der Intensivbehandlung von Neugeborenen zeigte sich auch ein Defizit bei der Überwachung der Ausgaben der Krankenversicherung. Im vergangenen Jahr wurden 2.907 Kontrollen durchgeführt. Erfasst waren u.a. 85 Krankenhäuser und Gesundheitszentren. Der Anteil der privaten Krankenhäuser liegt bei nicht einmal 3 Prozent. Das Volumen der festgestellten Beanstandungen liegt bei 270 Mio. TL.

Den Gürtel enger schnallen

Kurzfristig richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Erhöhung des Mindestlohns und der Renten zum Jahreswechsel. Aufmerksame Beobachter haben Berechnungen angestellt. Derzeit wird der Haushalt für das kommende Jahr beraten und für die Sozialversicherung SGK findet sich im Haushaltsansatz eine Prognose des Beitragsaufkommens 2025. Es soll um 28 Prozent steigen. Da das mittelfristige Wirtschaftsprogramm auch eine Beschäftigungssteigerung vorsieht, schätzen Kommentatoren die Anhebung des Mindestlohns auf 25 Prozent. Dies liegt zwar deutlich über dem Inflationsziel von 17,5 Prozent, doch deutlich unter der Inflation in diesem Jahr. Die abhängig Beschäftigten sollen also einen beträchtlichen Verlust ihrer Kaufkraft hinnehmen.

Wiederum aus dem Haushaltsansatz lässt sich auch die Steuerentwicklung absehen. Hier ist ein Zuwachs um 50 Prozent vorgesehen. Auch dies liegt deutlich über dem Inflationsziel. D.h. bei gesunkener Kaufkraft wird die Steuerlast steigen. Zwar wurden Pläne angekündigt, die Steuerlast gerechter zu verteilen, doch ist davon bisher nichts in die Praxis umgesetzt worden.

Ein bedeutender Anteil des Haushalts fließt in die Finanzierung der Sozialversicherung SGK. Nun wird seit einigen Wochen eine „Sozialreform“ angekündigt. Sie sieht vor, das Rentenalter zu erhöhen und die individuelle Altersversorgung zu einem festen Bestandteil des Rentensystems zu machen. Tatsächlich liegt das Rentenniveau deutlich unter den Ernährungskosten, die regelmäßig von den Gewerkschaftsbünden veröffentlicht werden. Und es wird vermutlich auch Argumentationsprobleme geben, wenn man im vergangenen Jahr eine großzügige Frühverrentung ermöglicht hat, nun aber das Rentenalter heraufsetzen will. Alles im Allem viel Stoff, um die sozialen Spannungen in den kommenden Monaten zu erhöhen.

Inflation in Istanbul bei 3,64 Prozent

Die Handelskammer Istanbul hat für Oktober 2024 einen Anstieg der Verbraucherpreise um monatlich 3,64 Prozent, jährlich einen von 59,10 Prozent ermittelt. Der Großhandelsindex stieg um 0,15 Prozent. Mit 11,43 Prozent lag der Anstieg bei Bekleidung am höchsten, Nahrungsmittel stiegen um 3,40 Prozent, während Verkehr als einziger Bereich einen Rückgang um 0,62 Prozent aufwies. Im Vormonat hatte die Handelskammer Istanbul einen Wert von 3,90 Prozent für den Anstieg der Verbraucherpreise ermittelt.

Die Diskussion über die Inflation entfaltet sich entlang von drei Indexen. Nach dem von der Handelskammer Istanbul herausgegebenen Daten folgen Anfang kommender Woche die Werte des Türkischen Statistikinstituts und der unabhängigen akademischen Arbeitsgruppe Inflation (ENAG).

Doch selbst wenn man die häufig als zu niedrig kritisierten Daten des Türkischen Statistikinstituts zugrunde legt, zeigt sich einer Berechnung von Prof. Dr. Aykut Kibritçioğlu von der Türkisch-Deutschen Universität, dass sich in den vergangenen drei Jahren die Kaufkraft von Mindestlohn und Mindestrente stark verringert haben. In diesen drei Jahren ist der Mindestlohn um 299,73 Prozent, die Mindestrente um 225,44 Prozent gestiegen. Die Inflation lag für diesen Zeitraum bei 342,67 Prozent. Die Preissteigerung bei Nahrungsmitteln bei 385,92 Prozent. Am höchsten lag die Preissteigerung mit 477,34 Prozent bei der Gastronomie, am niedrigsten mit 143,02 Prozent bei Schuhen und Bekleidung.