Jahrgang 2 Nr. 0 vom 15.10.2001
 

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Progrome gegen Juden in der Nacht vom 3. zum 4. Juli 1934

Der erste Weltkrieg und der daran anschließende Befreiungskrieg haben die Türkei ausgeblutet. Dies betrifft auch die Regionen weit ab von den Fronten. Und dies betrifft auch die jüdische Minderheit, auch wenn sie zu keinem Zeitpunkt in den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen geraten ist.

Das Siedlungsgebiet der jüdischen Minderheit war vor allem Thrakien, die Marmara-Region sowie Westanatolien und die Ägäis. Gerade Westanatolien war jedoch Schwerpunkt der Kampfhandlungen im Befreiungskrieg und insbesondere die Strategie der verbrannten Erde, die von den griechischen Interventionstruppen auf ihrem Rückzug nach der Sakarya-Schlacht angewandt wurde, vernichtete die Lebensbedingungen der griechischen Gemeinden. Die verbliebenen Juden aus den verbrannten westanatolischen Städten flüchteten nach Izmir und in die Marmara-Region - nur ein geringer Teil kehrte zurück.

Bis in die 30er Jahre spielte ein ausgesprochener Antisemitismus in der Türkei kaum eine Rolle, auch wenn insgesamt eine Politik verfolgt wurde, den Einfluß der Minderheiten auf Politik und Gesellschaft weiter zurückzudrängen. Gleichwohl gab es Kontakte zwischen türkischen Turanisten (völkischen Nationalisten) und Nazideutschland wie beispielsweise die Beziehung zwischen Cevat Rifat und Julius Streicher deutlich macht. Rifat gab die Zeitschrift "Milli Inkilap" heraus, die zu einem Zentrum antisemitischer Propaganda wurde und nach Einschätzung von Avner Levi einen Beitrag zu den Progromen in Thrakien leistete.

Organisierte Angriffe auf die jüdische Bevölkerung in Thrakien begannen im Juni 1934. Plünderung und Brandschatzung jüdischer Häuser in der Nacht vom 3. zum 4. Juli in den Orten Uzunköprü, Silivri, Babaali, Lüleburgaz, Corlu und Lapseki führten zu einer Massenflucht nach Istanbul.

In Ankara wurden die Ereignisse erst am 5. Juli durch Zeitungsmeldungen bekannt. Der damalige Ministerpräsident Inönü unterbrach sofort seinen Sommerurlaub und berief Kabinett und Parlament ein. Nach einer einmütigen Verurteilung der Vorfälle wurde der Innenminister in die Region entsandt und die verbliebenen jüdischen Häuser und Einrichtungen unter Polizeischutz gestellt.

Auch während des 2. Weltkrieges kam es zu keiner offenen antisemitischen Politik obgleich Nazifunktionäre vielfältige Spielräume für ihre Propaganda fanden. So berichtete beispielsweise Ishak Alaton, heute einer der angesehensten Industriellen der Türkei, daß während seiner Schulzeit auch nazistische Offiziere zu Vorträgen an das von ihm besuchte Gymnasium (Lise) kamen. (in: Ridvan Akan, 242f.)

Die Einführung der Besitzsteuer (Varlik Vergisi) im Jahre 1942 traf nach Ansicht von Avner Levi im besonderen Maße die jüdische Bevölkerung, wobei er deutlich macht, daß hier weniger rassistisch-antisemitische Ideen eine Rolle spielten als vielmehr eine Mischung aus Türkisierungspolitik und Sozialneid.

In der Flüchtlingspolitik spielten pragmatische Gesichtspunkte eine Rolle, die ebenfalls deutlich machen, daß rassistische Denk- und Argumentationsmuster auch in den 30er Jahren für die türkische Politik nicht prägend waren. So nahm die Türkei zahlreiche deutsche Intellektuelle auf und bot ihnen Schutz vor nazistischer Verfolgung. Aufgenommen wurden Flüchtlinge jedoch vor allem unter dem Gesichtspunkt ihres Nutzens für die türkische Aufbaupolitik ohne besonderes Augenmerk auf ihre Abstammung zu legen. Der Beitrag dieser Flüchtlinge für die Universitätsreform, die Modernisierung der Wissenschaften und Kunst war bedeutend.

 

Quellen:

Avner Levi: Türkiye Cumhuriyeti'nde Yahudiler. Iletisim, Istanbul 1996.

Ridvan Akar: Askale Yolculari. Yarlik Vergisi ve Calisma Kamplari. Belge Uluslararasi Yayincilik, Istanbul 2000.

 

 

 

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