Jahrgang 2 Nr. 0 vom 29.09.2001
 

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Vom Umgang mit Minderheiten

Die Türkei stellt sich selbst immer wieder gern als ein Land mit einer jahrhundertelangen Tradition gelungenen Zusammenlebens unterschiedlicher Völker dar. Spätestens im 20. Jahrhundert jedoch sind Veränderungen eingetreten, die weitgehend zum Verschwinden der nichtmuslimischen Völker geführt haben. Armenier, Juden und Griechen, die im 19. Jahrhundert noch einen maßgeblichen gesellschaftlichen Einfluß besaßen, sind nur noch als verstreute Gemeinden vorhanden, die Schwierigkeiten haben, ihr Gemeindeleben aufrecht zu erhalten. Einen maßgeblichen Anteil daran hatte eine teils offene teils versteckte Turkisierungspolitik, die die Gemeinden mal ökonomisch mal physisch drangsalierte. Doch auch wenn Vergleiche zu nationalistischer und rassistischer Politik in West-Europa naheliegen, überwiegen bei genauerem Hinsehen die Unterschiede.

Der osmanische Staat und die europäischen Nationalstaaten

So paradox es klingen mag, so erscheint es in einer Weise richtig, den osmanischen Staat in seiner Blütezeit als gleichzeitig föderalistisch-dezentral und als zentralistisch zu beschreiben. Dabei lag die absolute und uneingeschränkte Macht beim Sultan. Alle Provinzgouverneure waren ebenso wie die Gerichtsbarkeit unmittelbar der Kontrolle des Sultans unterworfen. Gleichzeitig handelte es sich um einen ideologischen Staat - die dominierende Religion war der Islam und der Sultan handelte als Kalif zugleich als höchste weltliche Instanz in religiösen Fragen. Von zusätzlichem symbolischen Wert war, daß die osmanischen Sultane die Schlüssel zum Tor der Kaaba in Mekka besaßen. Umgekehrt jedoch hatte der entwickelte osmanische Staat jedoch auch ein dezentrales Element, das für die Stützung der Zentralmacht von nicht unerheblicher Bedeutung war: indem den christlichen und jüdischen Minderheiten innerhalb des Reiches ein nicht unbedeutendes Maß an Selbstverwaltung und völlig religiöse Toleranz zugestanden wurde, konnten diese in den Staat integriert werden und ein Gegengewicht zu den Verselbständigungstendenzen innerhalb des Staatsapparates bilden. Dass mit dieser partiellen Autonomie der Minderheiten jedoch keinesfalls Freiheitsrechte gemeint waren, wird durch eine Reihe von Sonderbelastungen deutlich: nicht nur mußten Nicht-Muslime besondere Steuern zahlen, sie wurden zu verschiedenen Zeiten auch durch Kleider- und Bauordnungen eingeschränkt und der sogenannten "Knabenlese" unterworfen. Letztere ist ein weiteres Element der Machtstablisierung der osmanischen Sultane gewesen. Indem nichtmuslimische Kinder ihren Familien entzogen, muslimisch erzogen und dann in den Staatsdienst übernommen wurden, wurde sowohl militärisch als auch im Beamtenapparat ein Personal herangezogen, das nicht in Familienbande und Klanstrukturen eingebunden war. Die bedeutendste Institution waren die Janitscharen.

Im 18. Jahrhundert jedoch beginnt aus einer ganzen Reihe von Gründen dieses komplizierte Gleichgewicht zu zerfallen. Es gelingt Gouverneuren zunehmend, sich Provinzen anzueignen, einzelne Völker erreichen eine weitgehende Selbständigkeit gegenüber der Zentralgewalt und die Janitscharen werden zur führenden Kraft in Aufständen gegen die Sultane. Der Aufstieg Russlands zur europäischen Großmacht schuf zudem nicht nur eine kontinuierliche Bedrohung der osmanischen Nord-, West- und Ostgrenzen, sondern auch für die orthodox-christlichen Minderheiten eine potentielle Schutzmacht neben dem katholisch-protestantischen West-Europa. So spielt neben der ideologischen Unterstützung aus West-Europa im griechischen Befreiungskrieg vor allem der Einfluß russischer Agenten auf dem Balkan eine wichtige Rolle beim Verlust der osmanischen Westprovinzen.

In Europa hatte sich demgegenüber im 18. Jahrhundert eine andere Entwicklung vollzogen. Zunächst in England und Frankreich hatten sich starke Zentralgewalten herausgebildet, die einerseits religiöse Homogenität forcierten und andererseits auch auf ethnische Vereinheitlichung drängten. Ein ähnlicher Prozeß läßt sich auch in Deutschland und Österreich im 18. und 19. Jahrhundert finden. So ist der europäische Nationalstaatsgedanke verbunden mit der Idee eines Staatsvolkes; die Nation ist geprägt durch die Gemeinschaft eines Volkes, das durch gemeinsame Kultur, Geschichte und Sprache geprägt ist. Aufgrund der Säkularisation tritt der religiöse Gesichtspunkt dabei in den Hintergrund, bleibt jedoch im Hinblick auf die christliche Dominanz weitgehend unhinterfragt gegeben.

Das Erlebnis westlicher Überlegenheit wiederum weckte innerhalb des osmanischen Reiches ein starkes Interesse an europäischer Kultur. Der Einfluß des Nationalstaatsgedankes unter den Minderheiten im 19. Jahrhundert wiederum stellte die Frage der Nation in einer völlig andersartig organisierten Gesellschaftsordnung als prekäres Problem. Die jung-osmanische Bewegung versuchte darauf eine liberale Antwort zu finden. Durch zwei Fermane - Anordnungen des Sultans - wurde die rechtliche Stellung der Minderheiten aufgewertet, die religiöse Dominanz über die Justiz abgeschafft und der Weg für eine Verfassung geebnet. Es zeigte sich jedoch bald, daß weitreichende gesellschaftliche Reformen nicht durch einfache Anordnung erzielt werden können: Alle religiösen Gruppierungen des Reiches wehrten sich gegen staatliches Eindringen in ihre bisherigen Domänen. Insbesondere unter der griechischen und der armenischen Minderheit gewannen Ideen, eigenständige Staatswesen zu gründen an Resonanz. Verloren die Jung-Osmanen recht bald an Einfluß, beginnt die Geschichte des türkischen Nationalismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Ab 1905 beginnt türkisch-nationalistische Politik in allen Politikfeldern einflußreich zu werden. Einen nachhaltigen Wiederhall fand sie aber wohl infolge der verlorenen Balkan-Kriege ab 1912, bei denen nicht nur große europäische Gebiete verloren gingen sondern es auch zu Massenvertreibungen der muslimischen Bevölkerung kam.

Hatten die christlichen Minderheiten bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts dem Sultan Abül Hamid als Ventil innenpolitischer Probleme gedient und sich diese Politik in einer Reihe von Progromen gegen Armenier niedergeschlagen, so wird mit Ausbruch des 1. Weltkrieges ein neues Kapitel aufgeschlagen. Die Teilnahme armenischer Regimenter und Freischärler an den Operationen russischer Truppen, Progrome gegen die muslimische und jüdische Bevölkerung in einer Reihe der Ostprovinzen lieferten den Anlaß, der jungtürkische Nationalismus den ideologischen Rahmen für die großangelegte Deportation der Armenier im Osmanischen Reich, die von zahlreichen Gemetzeln und Massenhinrichtungen begleitet wurde.

 

Unterschiede im europäischen und türkischen Nationalismus zu Anfang des 20. Jahrhunderts

In der Diskussion über die Würdigung der Deportation der Armenier im Osmanischen Reich spielt die Frage, ob es sich dabei um Völkermord handelt eine wesentliche Rolle. Einzelne Autoren versuchen sogar, hierin eine Wegbereitung für die nationalsozialistische Vernichtungspolitik zu sehen. Nun sind jedoch weder die Form der Deportation oder ihre Systematik noch der ideologische Rahmen oder die politischen Rahmenkonstellationen vergleichbar. Zwar zeigen unterschiedliche Untersuchungen, daß Teile des osmanischen Staatsapparates neben der geplanten Deportation als Ziel auch eine unmittelbare Vernichtung der armenischen Volksgruppe verfolgten. Umgekehrt ist es im Gegensatz zum Deutschen Reich zu keinem Zeitpunkt offizielle Politik gewesen, Armenier zu vernichten. Ein ideologisches Äquivalent zum deutschen Herrenmenschentum fehlt völlig. Vielmehr zeigt sich, daß der Konflikt sich vor allem darauf zentriert, welche Volksgruppe den Staat kontrollieren kann. Unter den Vorzeichen des europäischen Nationalstaatsgedankens versuchten sowohl Türken als auch Armenier, wenn nicht homogen besiedelte Gebiete so doch Regionen mit eindeutig dominanten Bevölkerungsgruppen zu schaffen.

 

Türkisierungspolitik seit Gründung der Republik

Es hat seit Gründung der Türkischen Republik im Jahre 1923 eine ganze Reihe von Maßnahmen gegeben, die die Lebensmöglichkeiten der Minderheiten beschnitten und zu ihrer Verdrängung geführt haben. Unterschieden werden müssen dabei aber zunächst die "traditionellen" von den anderen Minderheiten. Traditionelle Minderheiten werden hier verstanden als solche, die im osmanischen Reich den Status eines "milet" gehabt und somit über staatliche Anerkennung und partielle Autonomierechte verfügt haben. Ethnische Minderheiten wie beispielsweise Araber und Kurden verfügten über diesen Status nicht. Auch wurde dieser Status nicht religiösen Minderheiten wie Aleviten, Jesiden und Zoroaster zuteil.

Richtete sich die Türkisierungspolitik gegen die "traditionellen" Minderheiten vor allem gegen ihre gesellschaftlich mächtige Position und zielte darauf, sie aus wirtschaftlichen und kulturellen Schlüsselpositionen zu vertreiben, so ist die Haltung anderen Minderheiten gegenüber im Prinzip der "Unteilbarkeit des türkischen Staatsgebietes" begründet. Wie weit nun letztere Befürchtung als ein "historisches Trauma" zu charakterisieren oder als reale Gefahr gesehen werden muß, sei dahingestellt. Ihre Verwurzelung in der Bevölkerung ist jedoch grundsätzlich anders als dies beispielsweise im deutschen Rechtsextremismus und Rassismus auftritt. Ist letzteres ein unter der Bevölkerung weit verbreitetes Ressentiment, das wesentlich an körperlichen Merkmalen festgemacht und durch Stereotype ergänzt wird, ist die Türkisierungspolitik eine immer wieder staatlicherseits eingesetzte Strategie. Dies zeigt sich nicht zuletzt darin, daß es immer wieder deutlich wurde, daß Progrome gegen Minderheiten ohne Mithilfe des Staatsapparates oder organisierter politischer Gruppen nicht auftraten.

 

Weitere Beiträge

Minderheitenkonferenz beim Istanbuler Provinzgouverneur


Opfer der Zypernkrise - Die Massenausweisung von Griechen aus Istanbul im Jahr 1964


Progrome gegen Juden in der Nacht vom 3. zum 4. Juli 1934


Am 6. und 7. September 1955 erfolgten in Istanbul und Izmir Ausschreitungen gegen die ethnischen Minderheiten.


Rezension:

Tuzla Ermeni Cocuk Kampi / Armenian Children`s Camp of Tuzla


Jüdischer Kulturtag in Istanbul

 

Überblick über wichtige Ereignisse

1934 Progrom gegen Juden in Thrakien

1941 Mobilisierung; Angehörige der Minderheiten werden eingezogen, aber unter sehr schlechten Bedingungen ausschließlich für Bauarbeiten eingesetzt.

1942 Die Besitzsteuer führt zu einer weitgehenden Enteignung der Minderheiten

1955 Progrom vom 6./7. September in Istanbul

1961 Ausweisung Tausender Griechen aus Istanbul.

1974 Yargitay-Urteil zur Enteignung von Grundstücken der Minderheitenstiftungen.

 

 

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