Jahrgang 2 Nr. 0 vom 11.08.2001
 

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Zypern - Jugoslawien und das Osmanische Reich

Stefan Hibbeler

Im Zusammenhang mit der Diskussion über historische Schuld an den Massakern während des Zweiten Weltkrieges spielte die Frage, was dies noch mit der Generation der Nachgeborenen zu tun hat, eine wichtige Rolle. Wie Verletzungen, die teilweise schon vor Generationen Massen von Menschen getroffen haben, im nationalen Bewußtsein fortwirken, kann nachvollzogen werden, wenn man die Entwicklung in den europäischen Provinzen des ehemaligen Osmanischen Reiches betrachtet.

Das Osmanische Reich: Kulturelle Koexistenz unter zentraler Herrschaft

Das osmanische Reich unterschied sich sehr von seinen westeuropäischen Nachbarn. Es war seiner Idee nach ein Staat ohne Staatsvolk. Dementsprechend schwer ließen sich die im 19. Jahrhundert in alle seine Provinzen vordringenden National-Ideen auffangen.

Das osmanische Reich war ein zentralistischer Staat, regiert durch einen Sultan aus der Erbfolge der Familie Osman und bestimmt durch die Anerkennung des Islams als dominierende Religion. Ausgehend von der Eigenart des Islams jedoch, die sogenannten "Buchreligionen" zu tolerieren, bedeutete diese Dominanz nicht - wie in westlichen Staaten - Missionierung und Unterdrückung der anderen Religionen. Im Gegenteil: Der osmanische Staat war organisiert durch das sogenannte "Millet-System". Ein Millet zeichnete sich zunächst durch die Religion aus. Als zweites Kriterium kamen Sprache und Nationalität hinzu. Die Millets wurden dem Sultan gegenüber durch die Vorsteher der Gemeinden vertreten. Solange die Zentralgewalt des osmanischen Staates intakt war, konnte auf diese Weise eine friedliche Koexistenz zwischen Muslimen, Juden, griechischen, katholischen und armenischen Christen gewährleistet werden. Jedoch war diese Koexistenz nicht gleichbedeutend mit Gleichberechtigung - Spitzenstellungen des Staates standen nur Muslimen offen und Nicht-Muslime waren der sogenannten "Knabenlese" und Sondersteuern unterworfen.

Gleichwohl entwickelte sich im Staatsgebiet des osmanischen Reiches - insbesondere in Anatolien und in den europäischen Provinzen - ein buntes Muster unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen, die kulturell selbständig blieben und über ein gewisses Maß an Autonomie bei der Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten verfügten.

Nationale und religiöse Fragen: die Zerschlagung des Reiches

Hieraus entwickelte sich insbesondere ab dem 19. Jahrhundert jedoch ein Sprengstoff, der die territoriale Integrität des Reiches zerriß. Neben den Aktivitäten der Großmächte, die sich immer weitere Gebiete des Reiches einverleibten, spielte die Unterstützung separatistischer Bewegungen unter den verschiedenen Bevölkerungsgruppen eine wichtige Rolle.

Die größte Kraft entwickelten nationalistische Ideen zunächst unter Griechen und Armeniern. Ab 1814 operierten beispielsweise griechische Geheimbünde auf der Halbinsel Morea und vom russischen Odessa aus. 1821 bis 1829 entwickelte sich ein regelrechter Befreiungskrieg, der 1830 zur Anerkennung eines unabhängigen Griechenlandes unter der Schirmherrschaft Russlands führte.

Die Stoßrichtung dieser Befreiungsbewegungen war unter den Vorzeichen des im osmanischen Reich geltenden Milletsystems sowohl eine nationale als auch eine religiöse. Vielleicht erklärt sich gerade aus dieser Mischung und aus der Vielfalt der in den einzelnen Regionen lebenden Völkern auch die Gewalttätigkeit des Prozesses: In den meisten Provinzen, die das osmanische Reich in die Unabhängigkeit entlassen mußte, kam es zu Progromen und Vertreibungen gegen die muslimische Bevölkerung. Insbesondere die beiden Balkan-Kriege von 1912 und 1913, die zum Verlust fast aller europäischer Provinzen des osmanischen Reiches führten, sind Beispiele für die ungeheure Zerstörungskraft die die neue Ordnung in Süd-Ost-Europa hervorbrachte. Das osmanische Reich nahm in der Zeit unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg Hunderttausende von Flüchtlingen auf. Tausende Türken und andere Muslime wurden getötet.

Nationalismus und Menschenrechte: Der Zypern-Konflikt

Seit dem Befreiungskrieg der Türkei nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg verfolgen die Regierungen in Ankara keine Politik mehr, die darauf zielte, ehemalige osmanische Provinzen zurückzuerobern. Gleichwohl bestehen zahllose familiäre und kulturelle Bindungen zu den türkischen Minderheiten in den ehemaligen Provinzen fort. Zuletzt konnte dies angesichts des Bürgerkrieges in Makedonien beobachtet werden, als bei Ausbruch der Kampfhandlungen zwischen UCK-Albanern und der Regierung eine große Zahl von Mitgliedern der türkischen Gemeinde in die Türkei floh - nicht jedoch in Flüchtlingslagern untergebracht werden mußte, sondern bei Familien unterkam. Eine besondere Rolle kommt in diesem Zusammenhang Zypern zu.

Zypern wurde 1878 an Groß Britanien abgetreten, blieb jedoch bis 1914 unter osmanischer Hoheit. Nach der Annexion als Reaktion auf den türkischen Eintritt in den Ersten Weltkrieg blieb Zypern bis 1960 unter englischer Kolonialherrschaft. Auf der Insel bildeten Griechen zwar die Bevölkerungsmehrheit, mit einem Bevölkerungsanteil von 32 % war aber auch eine bedeutende türkische Minderheit vorhanden.

Die türkische Minderheit wehrte sich gegen die Politik der griechischen Mehrheit, die für die Unabhängigkeit der Insel von England und danach für ihren Anschluß an Griechenland eintrat. 1960 wurde durch Vertrag zwischen Groß Britanien, Griechenland, der Türkei und Zypern die Unabhängigkeit der Insel erreicht. Voraussetzung war, daß Zypern unabhängig bleiben und sich keinem anderen Staat anschließen dürfe. Außerdem wurde festgelegt, daß alle wesentlichen politischen Entscheidungen in Übereinstimmung zwischen beiden Bevölkerungsgruppen getroffen werden mußten.

Gegen dieses Verfassungsprinzip revoltierte im Dezember 1963 die griechische Bevölkerungsmehrheit. Die Verfassung - über weite Strecken im Hinblick auf die Minderheitenrechte der Türken noch gar nicht umgesetzt - wurde außer Kraft gesetzt. Es kam zu einer großen Zahl von Progromen gegen die türkische Bevölkerung. Auch der Einzug von UN-Friedenstruppen im Jahr 1964 konnte die Situation nicht wirklich befrieden. Bis 1974 blieben die Spannungen zwischen Griechen und Türken tonangebend. Der Putsch griechischer Offiziere im Juli 1974, die einen umgehenden Anschluß Zyperns an Griechenland verwirklichen wollten, führte zur Intervention der Türkei. Seitdem ist die Insel geteilt. Bis zum Eingreifen türkischen Militärs hatte es - trotz internationaler Truppenpräsenz - von 1963 bis 1974 hunderte von Toten gegeben.

Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien: die türkische Perspektive

Nun kann es an dieser Stelle nicht darum gehen, von Neuem den Bürgerkrieg in Jugoslawien zu analysieren. Dieser Krieg hat in ganz Europa ein starkes Echo gefunden, die Intervention sowohl in Bosnien als auch im Kosovo fand breite Unterstützung insbesondere in der westlichen Öffentlichkeit. Für die türkische Perspektive spielt jedoch eine besondere Rolle, daß es sich bei der langen Zeit unterlegenen Seite um Muslime handelte.

Das Gemetzel nach dem Fall der Stadt Srebreniza, das trotz Anwesenheit niederländischer Truppen stattfinden konnte, gehört mit zu tragischsten Erinnerungen an den Bosnien-Krieg.

Im Kosovo zudem noch um eine türkische Minderheit, die zwischen alle Fronten geraten war. Gerade am Beispiel des Kosovo läßt sich zudem das Mißtrauen der türksichen Öffentlichkeit gegenüber der Unparteilichkeit des Westens verdeutlichen. Gemäß der jugoslawischen Verfassung des Kosovo waren die Türken als Minderheit anerkannt. Der Boykott der Kommunalwahlen durch die türkischen Minderheit wiederum fand seinen Ausgangspunkt in der Frage der Anerkennung der türkischen Sprache als Amtssprache. Dieser Anspruch wurde zurückgewiesen. Gleichzeitig wurde mehrfach im türkischen Fernsehen gemeldet, daß NATO-Truppen nichts unternommen hätten, das türkische Kulturerbe im Kosovo zu schützen.

Im Makedonien-Konflikt ist wieder eine türkische Minderheit zwischen die Fronten geraten. Bereits bei Ausbruch der Kämpfe sind Angehörige dieser Minderheit in großer Zahl in die Türkei geflüchtet. Sie fanden nach Angaben türkischer Medien überwiegend nicht in Flüchtlingslagern sondern bei Verwandten Unterkunft. Allein dieser Umstand verdeutlicht die Enge der sozialen Beziehungen zwischen beiden Ländern.

Daraus ergeben sich auch Forderungen an die türkische Regierung, offensiver für die Rechte türkischer Minderheiten auf dem Balkan einzutreten. Diese Forderungen werden nicht nur von nationalistischen Kreisen geteilt.

 

Das Bild türkischer Minderheiten im Ausland, die dem Terror der jeweiligen Mehrheitsbevölkerungen ausgesetzt werden, ist in der Öffentlichkeit weit verbreitet. Ebenfalls verbreitet ist - bei aller Bewunderung des Westens - auch das Mißtrauen, ob im Zweifelsfall Fragen der Gerechtigkeit nicht zugunsten der Frage nach der Religionszugehörigkeit entschieden werden. Ein Blick in die Geschichte zeigt, daß dieses Mißtrauen nicht einfacher Polemik entspringt.

 

 

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