Jahrgang 2 Nr. 0 vom 4.08.2001
 

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Gespräch mit Professor Isikara

Professor Dr. Ahmet Mete Isikara, 59, ist seit 1991 Direktor des Kandili-Observatoriums und Erdbebenforschungsinstituts an der Bosporus-Universität in Istanbul. Er arbeitet seit 15 Jahren an der Problematik der Vorhersage von Erdbeben. Bisheriges Fazit: Wir wissen noch zu wenig über die Vorgänge, die tief unter der Erdoberfläche ablaufen, um die Vorhersage eines Erdbebens zu agen. Das Kandili-Observatorium befasst sich seit 1982 mit der Erforschung von Erdbeben. Es verfügt über ein Netzwerk von 47 Mess-Stationen, die rund um die Uhr die tektonischen Veränderungen in der Türkei messen. Die Auswertung des permanenten Datenstroms, der in Kandili eingeht, dient als Grundlage für die Massnahmen, die im Falle eines Erdbebens zu treffen sind. Beim heutigen Stand der Erdbebenforschung beschränken sich die Möglichkeiten auf Maßnahmen zur Schadensbegrenzung, Prävention ist praktisch nicht möglich.

 

Herr Professor Isikara, wodurch entstehen Erdbeben?

Generell gesagt, durch Kontinentaldrift, das heisst, die Landmassen der Kontinente verharren nicht in ihrer geographischen Lage auf dem Globus, sondern sie bewegen sich aufeinander zu bzw. voneinander weg. Die besondere Situation der Türkei ergibt sich aus der Bewegung Afrikas nach Norden, und der Bewegung der arabischen Halbinsel nach Nordosten. Dadurch wird die anatolische Halbinsel, die Türkei, nach Westen gedrückt.

Gibt es besonders gefährdete Gebiete in der Türkei?

95% des türkischen Staatsgebiets sind durch Erdbeben gefährdet.

Ist die Wahrscheinlichkeit eines Erdbebens überall gleich gross oder gibt es regionale Unterschiede?

Die tektonisch aktivsten Gebiete liegen in einem Korridor, der sich von Ostanatolien entlang der Schwarzmeerküste über die Marmararegion bis in den ägäischen Teil der Türkei zieht.

Seit den Erdbeben vom 17. August und vom 11. November vergangenen Jahres geistern immer wieder Meldungen durch die Medien, in denen Erdbeben vorhergesagt werden, zum Teil mit Angabe des Datums und des Wochentags. Nur die Uhrzeit fehlt. Was halten Sie von solchen Prognosen?

Ignorieren. Wenn selbst wir als Wissenschaftler nicht in der Lage sind, eine auch nur annähernd richtige Vorhersage zu machen, wie kommen dann diese Leute dazu? Nach einem starken Erdbeben wie am 17. August können wir zwar Nachbeben erfassen und aufgrund der Messdaten eventuell Warnungen aussprechen, aber mit Vorhersage hat das nichts zu tun.

Es gibt Theorien, in denen die Auffassung vertreten wird, es komme etwa alle 120-150 Jahre zu einem starken Beben hier in der Marmararegion.

Dies zu beweisen dürfte schwer sein. Ich möchte noch einmal ausdrücklich darauf hinweisen, dass man den Zeitpunkt eines Erdbebens nicht vorab feststellen kann.

Welche praktischeArbeit leistet Ihr Institut?

Im Fall eines starken Erdbens werden die inzwischen landesweit stationierten Notfallkomitees benachrichtigt, um sofortige Hilfsmassnahmen zu ergreifen.Nach den Erdbeben in Gölcük und Düzce hat man in der gesamten Türkei solche Krisenstäbe gebildet. Die Aufgabe dieses Instituts besteht jedoch nicht nur darin, Erdbeben zu beobachten. Als akademisches Institut bilden wir Geophysiker aus, bis hin zur Promotion und Habilitation.

Ausserdem haben wir kürzlich mit einem sehr wichtigen Projekt angefangen und zwar besuchen wir landesweit Grundschulen, um den Kindern zwei wesentliche Dinge zu vermitteln: zum einen sollen sie die latente Angst vor Erdbeben abbauen, zum anderen sollen sie das Bewusstsein entwickeln, dem Naturereignis nicht hilflos ausgeliefert zu sein; man kann durch einfache Massnahmen die Chancen, heil davonzukommen, beträchtlich erhöhen. Wir wollen den Kindern schon im Grundschulalter vermitteln, wie man in emem erdbebengefährdeten Land leben sollte und was man vor, während und nach einem Erdbeben beachten sollte. Der Grund, warum wir die Kinder ansprechen, ist ganz einfach: Kinder geben diese Informationen an ihre Eltern weiter, damit erreichen wir je Familie mindestens drei Personen. Ich persönlich habe inzwischen über 20 Städte besucht und in den Schulen mit den Kindern gesprochen.

Es existieren inzwischen Landkarten, Stadtpläne, in denen sichere und unsichere Wohngebiete ausgewiesen werden. Was sagen Sie dazu?

Legen Sie solche Karten getrost zur Seite. Es gibt weder sichere, noch unsichere Gebiete. Entscheidend für Sicherheit oder Unsicherheit ist einzig und allein die Qualität der Bauausführung der Häuser. Das müssen die Menschen begreifen. Mein Rat an die Bevölkerung ist daher, befragen Sie die entsprechenden Behörden, die Bauämter, Ministerien. Je mehr die Menschen in dieser Hinsicht Fragen stellen und Erklärungen verlangen, umso grösser ist der gesellschaftliche Druck, der entsteht. Wir sollten als Gesellschaft von der Frage „Kommt noch ein Erdbeben“ wegkommen und lernen, mit der Gefahr zu leben. Wir müssen vorbereitet sein, egal in welchem Stadteil wir leben.

Was ist unter einem Erdbebenwarnsystem zu verstehen?

Ich habe gerade das Pflichtenheft für die Ausschreibungsunterlagen unterschrieben. Wir werden in der Provinz Istanbul 140 seismologische Mess-Stationen errichten, deren Daten uns im Falle eines Erdbebens sofort genaue Kenntnis darüber vermitteln, wo welche Hilfen notwendig sind und welche Massnahmen wir im einzelnen ergreifen müssen. Ausserdem wird ein Frühwarnsystem in der Nähe der Prinzeninseln installiert, das uns ein unmittelbar bevorstehendes Erdbeben signalisieren kann. Wir haben dann sechs bis sieben Sekunden Zeit, katastrophengefährdete Infrastruktursysteme abzuschalten, z.B. Kraftwerke, Erdgasleitungen, Hochspannung führende elektrische Leitungen, Chemiefabriken.

Wird es eines Tages möglich sein, ein Erdbeben zeitlich so genau vorherzusagen, dass die Bevölkerung einer Grossstadt wie Istanbul sich rechtzeitig in Sicherheit bringen kann?

Ja. Ich bin sicher, dass wir dies eines Tages können werden, aber bis dahin haben wir noch einen langen Weg vor uns.

Herr Professor, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Dossier Marmara-Erdbeben

 

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