Warum bebt die Erde?
(erschienen in der Türkischen Allgemeinen, Istanbul,
im April 2000)
Seit etlichen Millionen Jahren driften die kontinentalen
Gesteinsschichtplatten von Afrika und der arabischen Halbinsel mit einer
Geschwindigkeit von wenigen Zentimetern pro Jahr nach Norden. Sie kollidieren
dabei mit den Gesteinsplatten Europas und Asiens.
Als Ergebnis dieser Norddrift Afrikas wurde
das urzeitliche Mittelmeer während eines Zeitraums von etwa 250-350
Millionen Jahren immer mehr eingeengt und schliesslich mit seinen mächtigen
Sedimentschichten ausgefaltet. So entstanden die Pyreäen, die Alpen,
Dinariden, Balkaniden, die Gebirge in Anatolien, der Kaukasus, die Gebirge
im Südwesten und Nordosten Irans bis hin zum Himalaya. Das Mittelmeer
in seinen heutigen geographischen Grenzen ist ein Überbleibsel dieses
UR-Mittelmeeres.
Die Türkei liegt genau in dieser Kollisionszone
und zum grössten Teil auf der anatolischen Gesteinsplatte. Diese Platte
wird im Norden durch die nordanatolische Verwerfung begrenzt und im
Süden durch den Kollisionsrand mit Afrika. Hier schiebt sich Afrika
unter den Süden der Türkei und die Aegäis. Da die anatolische Platte
wie ein Keil zwischen diesen tektonischen Verwerfungszonen eingeklemmt
ist, wird sie infolge des nordwärts gerichteten Drucks von Süden her
nach Westen herausgedrückt.
Die Geschwindigkeit dieser Westdrift der anatolischen
Platte beträgt im Durchschnitt der Jahrtausende 2 bis 3 Zentimeter pro
Jahr. Nun bestehen solche Plattenränder nicht aus glatten, sauberen
Bruchkanten, sondern aus grob und winklig zerbrochenen Gesteinskomplexen
unterschiedlicher Festigkeit sowie unterschiedlichen Alters. Deswegen
verhaken sich diese Platten und können sich nur von Zeit zu Zeit in
Form von Erdbeben ruckartig bewegen. Kleinere, schwächere Verhakungen
brechen leichter und viel häufiger; sie sind Ursache der zahlreichen
schwachen Erdbeben, die in der Regel nur mit empfindlichen Seismographen
gemessen und aufgezeichnet werden können. Solche kleineren Erdbeben
kommen in der Türkei sehr häufig vor. Nur wenige von ihnen erreichen
eine Stärke um 4 nach der Richter-Skala. Beben dieser Stärke sind zwar
bereits deutlich zu spüren, richten aber kaum Schäden an. Hingegen halten
starke Verhakungen der kontinentalen Ciesteinsplatten dem tektonischen
Druck und der dadurch bedingten Verbiegung manchmal jahrhundertelang
stand, ehe sie aufreissen.
Dann kommt es zu Brüchen von bis zu mehr als
100 Kilometern. Entlang eines derartigen Bruches können sich die Platten
dann innerhalb von Sekunden um mehrere Meter gegeneinander verschieben.
Genau dies geschah in der Nacht vom 16. auf den 17. August 1999 mit
den bekannten, katastrophalen Folgen. Das Erdbeben riss die Erdkruste
entlang der nordanatolischen Verwerfung von Izmit bis Düzce auf einer
Länge von über 100 Kilometern auf. Die Plattenverschiebung in westlicher
Richtung betrug zwischen 2 und 4 Metern. Das Beben erreichte eine Stärke
von 7.5 bis 7.8 nach der Richter-Skala und 9-10 nach der EMS-Skala.
In der gesamten Marmara-Region kommt es in Abständen von Jahrzehnten
bis Jahrhunderten immer wieder zu schweren Erdbeben. Ihre
Stärken liegen zwischen 6 und maximal 8 nach der Richter-Skala.
Das Erdbeben vom 17. August 1999 hatte sein Epizentrum etwa im selben Gebiet
wie das Beben von 1878. In den dazwischen liegenden 120 Jahren hatte
sich kein vergleichbar starkes Erdbeben ereignet, daher konnten sich
entsprechend grosse tektonische Spannungen in der Region aufbauen. Wissenschaftler
erwarteten deshalb dort bereits seit längerem ein starkes Erdbeben und
führten seit Anfang der 80er Jahre, im Rahmen eines von der Deutschen
Forschungsgemeinschaft unterstützten deutsch-türkischen Gemeinschaftsprojektes
zur Erdbebenforschung, umfassende seismologisch-geophysikalische Messungen
durch. Gleichwohl liessen sich weder der genaue Ort, noch der genaue
Zeitpunkt und die Stärke des Izmit-Bebens exakt vorhersagen. sondern
allenfalls grob abschätzen. Wenn sich aufgestaute tektonische Spannungen
entlang einer Bruchzone wie der von Izmit nach Düzce plötzlich in Form
eines Erdbebens entladen, kommt es an den Enden des Bruches zu erhöhten
Spannungen.
Dies kann in benachbarten Gebieten, in denen sich unabhängig vom vorangegangenen
Beben, bereits seit längerer Zeit Spannungen bis nahe der kritischen
Bruchspannung angesammelt haben, zur verfrühten Auslösung von Erdbeben
und zur Wanderung der Bebentätigkeit entlang der Störungszone führen.
Das Erdbeben von Düzce am 12. November 1999 wurde durch derartige Spannungsumlagerungen
ausgelöst. Es ereignete sich entlang des nördlich verlaufenden Astes
der nordanatolischen Verwerfung nahe dem Ende des Bruches vom 17. August.
Die nordanatolische Verwerfung setzt sich von Izmit aus in Gestalt des
Marmarameers fort. Auch hier haben sich seit etwa 100 Jahren keine stärkeren
Erdbeben mehr ereignet. Die Erdkruste hatte folglich Zeit genug, beträchtlliche
Spannungen aufzubauen. Falls diese Verhakungen jetzt in starken Erdbeben
aufreissen, ist mit Plattenverschiebungen von 2 bis 6 Metern zu rechnen.
Dies entspräche einer Stärke von 7-8 auf der Richter-Skala. Je nach
Entfernung zum Epizentrum könnte die Erschütterungsstärke in Istanbul
nach der EMS-Skala zwischen 8 und 10 liegen, im Bereich der südlich
von Istanbul gelegenen Inseln sogar bei 11. Die Auswirkungen wären verheerend.
Nur sehr gute Bausubstanz mit soliden, im festen Felsuntergrund gut verankerten
Fundamenten hätte eine Chance, derartige Erderschütterungen zwar mit
Schäden, aber ohne Einsturz zu überstehen. Die EMS-Skala (siehe Kasten)
gibt eine Übersicht über die zu erwartenden Gebäudeschäden. Nach
Regeln des erdbebensicheren Bauens errichtete Gebäude können etwa
1-2 Intensitätsgrade mehr mit vergleichbaren Schäden wie die besten
Normalbauten überstehen. Ob aber die im Zuge des lzmit-Erdbebens erfolgten
Spannungserhöhungen am westlichen Ende des Bruchs vom 17. August ausreichen,
ein solches Katastrophenbeben südlich von Istanbul im Marmarameer bereits
jetzt verfrüht auszulösen, oder ob die Verhakungen dort so stark sind,
das sie noch einige weitere Jahre oder Jahrzehnte brauchen, ehe sie
erneut aufreissen, lässt sich mit dem heutigen wissenschaftlichen Kenntnisstand
nicht beurteilen.
Sicher ist nur eines: Je länger der geologische Akku in einer
Region grosser tektonischer Verformungen Zeit hat, sich aufzuladen,
um so stärker wird dann die unvermeidlich irgendwann folgende Entladung,
das Erdbeben. Deshalb ist es notwendig, sich auf die ständig vorhandene
Erdbebengefährdung langfristig einzurichten und Erdbebenschäden vorzubeugen.
(Siehe Kasten: Ratschläge zum Erdbebenschutz)
Ergänzend dazu sind ErdbebenWarnsysteme
aufzubauen. Dazu gibt es bereits eine Zusammenarbeit zwischen deutschen und türkischen
Wissenschaftlern mit dem Ziel, ein solches System für Istanbul zu schaffen.
Ein solches Warnsystem liefert keine Bebenvorhersage mit ausreichender
Vorwarnzeit, um grössere Ortschaften zu evakuieren.
Vielmehr registriert ein solches Warnsystem Erdbeben sofort nach ihrer
Entstehung und ermittelt automatisch, innerhalb wniger Sekunden, deren
genauen Ort, Entstehungs-Zeitpunkt und Stärke. Da sich die zerstörerischen
Erdstösse nur mit einer Geschwindigkeit von ca. 3 Kilometern pro Sekunde
bewegen, Rundfunksignale aber mit 300.000 Kilometern pro Sekunde, können
grössere Orte und Industriekomplexe, die einige 10 bis über 100 Kilometer
vom Epizentrum entfernt liegen, mit einigen Sekunden bis zu etwa einer
Minute Vorsprung vor dem Eintreffen der starken Erschütterungen gewarnt
werden.
Alarmsirenen und vorbereitete Warnungen über Rundfunk- und Fernsehgeräte
können automatisch ausgelöst, Züge angehalten, Brücken und Kreuzungen
automatisch gesperrt, Kurzschlüsse und damit Explosions- und Brandgefahr
durch gezielte Stromabschaltungen reduziert werden.
Es sind jedoch noch Jahre an Entwicklungs, vor allem aber Erprobungsarbeiten
notwendig, bevor ein solches System einsatzbereit sein wird. Sicheren
Schutz vor den Auswirkungen eines Erdbebens gewährleistet zur Zeit nur
eine einzige Massnahme: Wohnen Sie nicht in einem Erdbebengebiet.
Ralf Klein