Jahrgang 2 Nr. 0 vom 4.08.2001
 

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Warum bebt die Erde?
(erschienen in der Türkischen Allgemeinen, Istanbul, im April 2000)

Seit etlichen Millionen Jahren driften die kontinentalen Gesteinsschichtplatten von Afrika und der arabischen Halbinsel mit einer Geschwindigkeit von wenigen Zentimetern pro Jahr nach Norden. Sie kollidieren dabei mit den Gesteinsplatten Europas und Asiens.

Als Ergebnis dieser Norddrift Afrikas wurde das urzeitliche Mittelmeer während eines Zeitraums von etwa 250-350 Millionen Jahren immer mehr eingeengt und schliesslich mit seinen mächtigen Sedimentschichten ausgefaltet. So entstanden die Pyreäen, die Alpen, Dinariden, Balkaniden, die Gebirge in Anatolien, der Kaukasus, die Gebirge im Südwesten und Nordosten Irans bis hin zum Himalaya. Das Mittelmeer in seinen heutigen geographischen Grenzen ist ein Überbleibsel dieses UR-Mittelmeeres.

Die Türkei liegt genau in dieser Kollisionszone und zum grössten Teil auf der anatolischen Gesteinsplatte. Diese Platte wird im Norden durch die nordanatolische Verwerfung begrenzt und im Süden durch den Kollisionsrand mit Afrika. Hier schiebt sich Afrika unter den Süden der Türkei und die Aegäis. Da die anatolische Platte wie ein Keil zwischen diesen tektonischen Verwerfungszonen eingeklemmt ist, wird sie infolge des nordwärts gerichteten Drucks von Süden her nach Westen herausgedrückt.

Die Geschwindigkeit dieser Westdrift der anatolischen Platte beträgt im Durchschnitt der Jahrtausende 2 bis 3 Zentimeter pro Jahr. Nun bestehen solche Plattenränder nicht aus glatten, sauberen Bruchkanten, sondern aus grob und winklig zerbrochenen Gesteinskomplexen unterschiedlicher Festigkeit sowie unterschiedlichen Alters. Deswegen verhaken sich diese Platten und können sich nur von Zeit zu Zeit in Form von Erdbeben ruckartig bewegen. Kleinere, schwächere Verhakungen brechen leichter und viel häufiger; sie sind Ursache der zahlreichen schwachen Erdbeben, die in der Regel nur mit empfindlichen Seismographen gemessen und aufgezeichnet werden können. Solche kleineren Erdbeben kommen in der Türkei sehr häufig vor. Nur wenige von ihnen erreichen eine Stärke um 4 nach der Richter-Skala. Beben dieser Stärke sind zwar bereits deutlich zu spüren, richten aber kaum Schäden an. Hingegen halten starke Verhakungen der kontinentalen Ciesteinsplatten dem tektonischen Druck und der dadurch bedingten Verbiegung manchmal jahrhundertelang stand, ehe sie aufreissen.

Dann kommt es zu Brüchen von bis zu mehr als 100 Kilometern. Entlang eines derartigen Bruches können sich die Platten dann innerhalb von Sekunden um mehrere Meter gegeneinander verschieben. Genau dies geschah in der Nacht vom 16. auf den 17. August 1999 mit den bekannten, katastrophalen Folgen. Das Erdbeben riss die Erdkruste entlang der nordanatolischen Verwerfung von Izmit bis Düzce auf einer Länge von über 100 Kilometern auf. Die Plattenverschiebung in westlicher Richtung betrug zwischen 2 und 4 Metern. Das Beben erreichte eine Stärke von 7.5 bis 7.8 nach der Richter-Skala und 9-10 nach der EMS-Skala. In der gesamten Marmara-Region kommt es in Abständen von Jahrzehnten bis Jahrhunderten immer wieder zu schweren Erdbeben. Ihre Stärken liegen zwischen 6 und maximal 8 nach der Richter-Skala.

Das Erdbeben vom 17. August 1999 hatte sein Epizentrum etwa im selben Gebiet wie das Beben von 1878. In den dazwischen liegenden 120 Jahren hatte sich kein vergleichbar starkes Erdbeben ereignet, daher konnten sich entsprechend grosse tektonische Spannungen in der Region aufbauen. Wissenschaftler erwarteten deshalb dort bereits seit längerem ein starkes Erdbeben und führten seit Anfang der 80er Jahre, im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstützten deutsch-türkischen Gemeinschaftsprojektes zur Erdbebenforschung, umfassende seismologisch-geophysikalische Messungen durch. Gleichwohl liessen sich weder der genaue Ort, noch der genaue Zeitpunkt und die Stärke des Izmit-Bebens exakt vorhersagen. sondern allenfalls grob abschätzen. Wenn sich aufgestaute tektonische Spannungen entlang einer Bruchzone wie der von Izmit nach Düzce plötzlich in Form eines Erdbebens entladen, kommt es an den Enden des Bruches zu erhöhten Spannungen.

Dies kann in benachbarten Gebieten, in denen sich unabhängig vom vorangegangenen Beben, bereits seit längerer Zeit Spannungen bis nahe der kritischen Bruchspannung angesammelt haben, zur verfrühten Auslösung von Erdbeben und zur Wanderung der Bebentätigkeit entlang der Störungszone führen. Das Erdbeben von Düzce am 12. November 1999 wurde durch derartige Spannungsumlagerungen ausgelöst. Es ereignete sich entlang des nördlich verlaufenden Astes der nordanatolischen Verwerfung nahe dem Ende des Bruches vom 17. August. Die nordanatolische Verwerfung setzt sich von Izmit aus in Gestalt des Marmarameers fort. Auch hier haben sich seit etwa 100 Jahren keine stärkeren Erdbeben mehr ereignet. Die Erdkruste hatte folglich Zeit genug, beträchtlliche Spannungen aufzubauen. Falls diese Verhakungen jetzt in starken Erdbeben aufreissen, ist mit Plattenverschiebungen von 2 bis 6 Metern zu rechnen. Dies entspräche einer Stärke von 7-8 auf der Richter-Skala. Je nach Entfernung zum Epizentrum könnte die Erschütterungsstärke in Istanbul nach der EMS-Skala zwischen 8 und 10 liegen, im Bereich der südlich von Istanbul gelegenen Inseln sogar bei 11. Die Auswirkungen wären verheerend.

Nur sehr gute Bausubstanz mit soliden, im festen Felsuntergrund gut verankerten Fundamenten hätte eine Chance, derartige Erderschütterungen zwar mit Schäden, aber ohne Einsturz zu überstehen. Die EMS-Skala (siehe Kasten) gibt eine Übersicht über die zu erwartenden Gebäudeschäden. Nach Regeln des erdbebensicheren Bauens errichtete Gebäude können etwa 1-2 Intensitätsgrade mehr mit vergleichbaren Schäden wie die besten Normalbauten überstehen. Ob aber die im Zuge des lzmit-Erdbebens erfolgten Spannungserhöhungen am westlichen Ende des Bruchs vom 17. August ausreichen, ein solches Katastrophenbeben südlich von Istanbul im Marmarameer bereits jetzt verfrüht auszulösen, oder ob die Verhakungen dort so stark sind, das sie noch einige weitere Jahre oder Jahrzehnte brauchen, ehe sie erneut aufreissen, lässt sich mit dem heutigen wissenschaftlichen Kenntnisstand nicht beurteilen.

Sicher ist nur eines: Je länger der “geologische Akku“ in einer Region grosser tektonischer Verformungen Zeit hat, sich aufzuladen, um so stärker wird dann die unvermeidlich irgendwann folgende Entladung, das Erdbeben. Deshalb ist es notwendig, sich auf die ständig vorhandene Erdbebengefährdung langfristig einzurichten und Erdbebenschäden vorzubeugen. (Siehe Kasten: Ratschläge zum Erdbebenschutz)

Ergänzend dazu sind Erdbeben­Warnsysteme aufzubauen. Dazu gibt es bereits eine Zusammenarbeit zwischen deutschen und türkischen Wissenschaftlern mit dem Ziel, ein solches System für Istanbul zu schaffen. Ein solches Warnsystem liefert keine Bebenvorhersage mit ausreichender Vorwarnzeit, um grössere Ortschaften zu evakuieren.

Vielmehr registriert ein solches Warnsystem Erdbeben sofort nach ihrer Entstehung und ermittelt automatisch, innerhalb wniger Sekunden, deren genauen Ort, Entstehungs-Zeitpunkt und Stärke. Da sich die zerstörerischen Erdstösse nur mit einer Geschwindigkeit von ca. 3 Kilometern pro Sekunde bewegen, Rundfunksignale aber mit 300.000 Kilometern pro Sekunde, können grössere Orte und Industriekomplexe, die einige 10 bis über 100 Kilometer vom Epizentrum entfernt liegen, mit einigen Sekunden bis zu etwa einer Minute Vorsprung vor dem Eintreffen der starken Erschütterungen gewarnt werden.

Alarmsirenen und vorbereitete Warnungen über Rundfunk- und Fernsehgeräte können automatisch ausgelöst, Züge angehalten, Brücken und Kreuzungen automatisch gesperrt, Kurzschlüsse und damit Explosions- und Brandgefahr durch gezielte Stromabschaltungen reduziert werden.

Es sind jedoch noch Jahre an Entwicklungs, vor allem aber Erprobungsarbeiten notwendig, bevor ein solches System einsatzbereit sein wird. Sicheren Schutz vor den Auswirkungen eines Erdbebens gewährleistet zur Zeit nur eine einzige Massnahme: Wohnen Sie nicht in einem Erdbebengebiet.

Ralf Klein

 

 

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