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"Es fällt schwer zu sagen, daß die Zeit gut genutzt worden ist ..."Gespräch mit dem Sekretär der Istanbuler Architektenkammer Bülend TunaBetrachtet man die Analysen, die nach dem Marmara-Erdbeben von 1999 angestellt wurden, so steht die Planlosigkeit der Städte als Ursache für die hohe Zahl von Todesopfern und Verletzten ganz oben in der Liste der Versäumnisse. Nach Ansicht von Bülend Tuna hat sich an dieser Situation nichts wesentliches geändert. Zwar hat der Schrecken des Erdbebens zu einem starken Drang geführt, Lehren zu ziehen, die Schlußfolgerungen seien jedoch in eine falsche Richtung gegangen. Anstatt sich auf die Frage des Verlaufs der seismischen Bruchgräben zu konzentrieren oder auf die Frage, wie nach einem Erdbeben der Katastrophenschutz koordiniert werde, sei es wichtig, so schnell wie möglich eine Bestandsaufnahme der vorhandenen Bausubstanz vorzunehmen, Konzepte für die Sicherungsmaßnahmen zu entwickeln und die Stadtplanung zu verbessern. Analyse der VersäumnisseWas die "Sünden der Vergangenheit" betrifft, erklärte Tuna, daß obwohl der Verlauf des Nord-Anatolischen Bruchgrabens bekannt gewesen und damit deutlich gewesen sei, daß in dessen Nähe keine Industrieansiedlungen erfolgen dürften, habe man sich über alle Bedenken hinweggesetzt. Die Übertragung der Stadtplanungskompetenz auf die Städte in den 80er Jahren hat mit zu diesem Problem beigetragen, da die Städte ohne sich viel um die Beteiligung von Experten zu kümmern, vor allem unter Gewinngesichtspunkten Bebauungspläne entworfen und damit die Voraussetzungen für Baugenehmigungen geschaffen haben. Um diese Sünden aufzuarbeiten, müßten die Städte einer "Rehabilitation" unterworfen werden. Dies wirft jedoch eine Vielzahl von Problemen auf. So sind beispielsweise nach dem Erdbeben Bodenanalysen vorgenommen worden anhand derer eine Obergrenze für die Bebauung ermittelt wurde. Die Bebauung in dem betroffenen Gebiet ist jedoch zum Teil höher. Nun befindet sich ein beschädigtes Gebäude mit beispielsweise fünf Stockwerken in einem Gebiet, daß eigentlich nur eine Bebauung mit zwei Stockwerken zuläßt. Folgerichtig wäre es, dieses Gebäude nicht zu reparieren, sondern an seiner Stelle eines mit nur zwei Stockwerken zu errichten. Dies wirft jedoch die Frage der Entschädigung für die Eigentümer auf. Diese Frage ist nach wie vor ungelöst - statt dessen ist zu sehen, wie solche Gebäude trotzdem instandgesetzt werden. Mangelhafte BaukontrolleDas nächste Problem ist die fehlende Baukontrolle. Seitens der Architektenkammer wurde angeregt, daß Architekten nach Bauabschluß eine Plakette an den von ihnen betreuten Bauten anbringen. Diese Maßnahme stieß jedoch auf Widerstand seitens der Kollegen, denn was nach Bauabschluß durch die Bewohner an baulichen Veränderungen vorgenommen wird, möchten die Architekten nicht verantworten. So kann es ohne weiteres sein, daß ein Bewohner eines höheren Stockwerkes nicht weiß, daß zur besseren Nutzung eines Geschäftes im Untergeschoß eine tragende Säule entfernt wurde ... Von außen sieht so ein Gebäude sicher aus ... Auch drastischere Fälle kommen vor: Bauherren setzen auf den fertigen Bau noch ein oder zwei Stockwerke drauf usw. Auch in der eigentlichen Baukontrolle gibt es viele Lücken. Bülend Tuna berichtete von einem eingestürzten Haus in Avcilar, dessen Bauplan ihm bereits unzureichend erschien. Eine Inspektion der Einsturzstelle zeigte jedoch, daß ein Teil der tragenden Säulen nicht gebaut worden war. Außerdem war über die vorgesehene Geschoßzahl hinausgegangen worden. Solche "Zeitbomben" wiederum stellen nicht nur in sich eine Gefahr dar, sondern auch für die umliegenden Häuser, die bei einem Einsturz ebenfalls beschädigt werden können. Nicht allein die Architekten sind verantwortlich ...Angesichts dieser Mißstände kann die Verantwortung für die vielen durch Erdbeben zerstörten Häuser nicht allein den Architekten angelastet werden. Verantwortlich gemacht werden müssen auch die Kommunalpolitiker, die unsichere Gebiete als Baugebiete ausweisen; die Mitarbeiter der kommunalen Bauaufsicht, die ihren Kontrollaufgaben nicht nachkommen; Bauunternehmer, die Arbeiten nicht sachgemäß ausführen und auch Bauherren, die nachträglich gefährliche Veränderungen an den Bauten vornehmen. Angesichts dieser Verhältnisse ist es jedoch schwer, eine wirksame Inventarisierung der vorhandenen Bausubstanz zur Risikoabschätzung vorzunehmen. Vielfach sind nicht einmal Baupläne vorhanden. Das neue Baukontroll-Gesetz ist keine Lösung ...Das von der Regierung vor kurzem durchgesetzte Baukontrollgesetz, daß eigentlich einer Reihe der geschilderten Mängel Abhilfe schaffen sollte, kann dies nach Ansicht der Architektenkammer nicht erreichen. Zum einen ist der Vorgänger des Gesetzes bereits durch das Verfassungsgericht aufgehoben worden und es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, daß auch dieses Gesetz aufgehoben wird. Zum anderen jedoch wird die staatliche Bauaufsicht nach diesem Modell außen vor gelassen: Die Kontrolle wird privaten Firmen überlassen, die Verfahrensausgestaltung ist lückenhaft, eine Abstimmung der beteiligten Stellen nicht gewährleistet. Mänger der Bestandsaufnahme beeinträchtigen die KatastrophenschutzplanungDie Mängel in der Bestandsaufnahme werfen wieder Probleme für die Katastrophenschutzplanung auf: Ohne die Sicherheit von Straßen und Brücken geprüft und verbessert zu haben, ist eine sinnvolle Planung der Verkehrsmaßnahmen nach einem Erdbeben kaum sinnvoll möglich. Ohne die Stabilität von Schulen und Krankenhäusern überprüft zu haben, ist auch keine sinnvolle Planung von Unterbringung und medizinischer Versorgung möglich. Zwar sei vereinzelt mit diesen Überprüfungen begonnen worden, doch seien die Ergebnisse nicht überzeugend. Auch sei ein Erdbeben-Szenario für die Stadt Istanbul des Erdbebenbeobachtungszentrums Kandili bisher nicht beachtet worden. Ein weiterer Mangel der bisherigen Vorbereitungsarbeiten auf ein Erdbeben liegt ebenfalls auf dem Gebiet der Inventarisierung: Für eine große Zahl historisch und baugeschichtlich wichtiger Bauten liegt keine Rekonstruktionsplanung vor. Stürzt beispielsweise die Süleymanie-Moschee - eines der wichtigsten Werke des berühmten Architekten Mimar Sinan - ein, so wäre es nach heutigem Stand nur möglich, ein ähnliches Gebäude zu bauen, nicht jedoch eine Rekonstruktion vorzunehmen. Eine Ausnahme stelle die Sophienkirche (Haghia Sofia) dar, für die solche Untersuchungen vorlägen. Aktivitäten der Istanbuler ArchitektenkammerDie Architektenkammer versucht sich in den Prozeß der Erdbebensicherung einzubringen und nimmt beispielsweise beratend an Konferenzen der Landräte teil. Gleichzeitig wird eine intensive fachliche Diskussion geführt und die Bildungsarbeit unter den Architekten verstärkt. Von der Kammer wurden Handreichungen zum erdbebensicheren Bauen herausgegeben. Eine weitere Aktivitätsrichtung ist die Aufklärung der Bevölkerung - zum Beispiel durch die Durchführung öffentlicher Veranstaltungen oder die Beteiligung an Aktivitäten zum Jahrestag des Marmara-Erdbebens. So wird, wie auch im vergangenen Jahr, auch wieder eine Veranstaltung zur Bestandsaufnahme zwei Jahre nach dem Mamara-Erdbeben durchgeführt werden.
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