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"Mein Ziel ist eine Gesellschaft, die auf Erdbeben vorbereitet
ist"
Gespräch mit Professor Isikara vom Erdbeben-Observatorium der Bosporus
Universität Istanbul
(16. August 2001)
IP: Nach dem Marmara-Erdbeben sind Sie häufig im Fernsehen
und in Schulen aufgetreten und haben darüber gesprochen, wie man
sich im Falle eines Erdbebens verhalten muß. Sind für Verhaltensänderungen
solche Maßnahmen ausreichend? Wie bewerten Sie Ihre Erfahrungen?
Ich habe mit diesen Arbeiten bereits im Jahr 1991 begonnen. Aber, um es
offen zu sagen: Es gab nicht viele die darauf gehört haben. 1996
habe ich zusammen mit dem obersten Schulrat von Istanbul begonnen, in
Istanbul Erdbeben-Wochen durchzuführen. Drei Jahre vor dem Erdbeben.
Und in diesen drei Jahren haben wir in den Schulen Istanbuls diese Veranstaltungen
durchgeführt. Wann haben wir den Nutzen davon gesehen? Am 13. September
1999, am Tag der Schuleröffnung, als das erste starke Nachbeben war.
Die Schüler haben sich genau richtig verhalten. Die Schulräte
haben mir erklärt, daß die Schüler zu 95 Prozent nicht
in Panik geraten sind. Genau im Gegenteil: sie haben eingesetzt, was sie
gelernt haben.
Wenn Sie nun auf die Tätigkeiten nach dem Erdbeben schauen, dann
bin ich seitdem in 47 Provinzen und drei Großstädte gegegangen.
Ohne jetzt von Istanbul zu sprechen. In diesen Provinzen und Städten
wurden von den Landräten oder Gouverneuren Konferenzräume zur
Verfügung gestellt. Dorthin haben wir Schüler verschiedener
Schulen eingeladen. Dann haben wir uns unterhalten - genau wie ich es
an Istanbuler Schulen gemacht habe.
Warum habe ich Kinder als Zielgruppe gewählt? Zum ersten:
sie lernen sehr schnell. Zum zweiten: ich erreiche mit einem Schüler
gleich drei Personen. Denn die Schüler geben ihr Wissen an Vater
und Mutter weiter. Ich habe auch mit vielen Eltern getroffen. Nachdem
die Kinder mir zugehört hatten und nach Hause kamen, haben sie beispielsweise
das Bett vom Fenster weggerückt oder dafür gesorgt, daß
die Schränke in der Wand verankert wurden. Sie haben angefangen,
was sie gelernt haben an ihre Eltern weiterzugeben.
Kann ich diese ganze Arbeit allein leisten? Natürlich nicht. Man
muß realistisch sein. Darum sind wir im Gespräch mit dem Bildungsministerium.
Ich habe dem Bildungsminster sehr nachdrücklich vorgeschlagen, Katastrophenschutz-Stunden
in den Lehrplan aufzunehmen. Anfang vergangener Woche habe ich mit dem
Vorsitzenden der Lehrplankommission (Talim ve Terbiye Kurulu) gesprochen.
Sie haben sich meine Vorschläge angehört. Mein Vorschlag ist,
es als ein besonders Fach zu unterrichten. Sie wollen es eher zwischen
verschiedene Unterrichtreihen einstreuen. Die Katastrophenschutz-Unterrichtsreihe
soll als Schwerpunkt Erdbeben haben. Aber daneben gibt es auch noch andere
Naturkatastrophen wie beispielsweise Überflutungen. Wir wollen den
Schülern dann, gemäß ihrer Altersgruppe, einfache Lebensrettungsmaßnahmen
und Erste Hilfe beibringen. Auch dies werden die Schüler wieder mit
nach Hause tragen. Für diese Lebensrettungs- und Erste-Hilfe-Kurse
können sie von den regionalen Gesundheitsdiensten Unterstützung
erhalten.
Warum nun diese Kursinhalte? Nach einem Erdbeben sind Sie zunächst
mit Ihrer Familie, Ihren Nachbarn, in Ihrem Stadtviertel allein. Es dauert
bis Notfallhelfer und Erste-Hilfe-Kräfte eintreffen. Aber wenn ein
Nachbar oder Freund verschüttetet worden oder ein Bekannter verletzt
worden ist, können Sie, wenn Sie vorbereitet sind, zumindest bis
Helfer eintreffen, dem Verschütteten die Hand reichen. Wenn sie einfache
Rettungstechniken beherrschen, können Sie ihn vielleicht befreien.
Wenn es eine Blutung gibt, können Sie sie vielleicht stillen. Schnell
zu helfen ist sehr wichtig. Sie können vielleicht das Leben Ihres
Nachbarn oder Ihres Freundes retten. Darum bestehe ich auf diese Vorbereitungsprogramme.
Es zielt darauf, das Bewußtsein zu schärfen.
Daneben haben wir in Istanbul ein Projekt zur Vorbereitung auf Katastrophen.
Im Rahmen dieses Projektes planen wir, zusammen mit dem Gouverneur von
Istanbul, in den 32 Stadtteilen von jeder Schule je einen Lehrer in dreißiger
Gruppen Katastrophenschutz-Fortbildungen durchzuführen. Danach verlangen
wir von diesen Lehrern, daß sie in ihre Schulen gehen und ihre Kenntnisse
zunächst an das Lehrerkollegium und das Personal weiterzugeben. Danach
sollen die Lehrer ihre Kenntnisse den Schülern vermitteln. Wir denken,
daß wir bis Januar aus den 32 Stadtteilen ca. 3000 Lehrer weiterbilden.
Das wird für die Vorbereitung Istanbuls auf ein Erdbeben sehr nützlich
sein.
Ich habe es schon oft gesagt. Die Frage, ob ein Erdbeben stattfindet,
ist nebensächlich. Wenn die nötigen Vorbereitungen getroffen
sind und Sie vorbereitet sind, können sie ein Erdbeben überstehen,
ohne Schaden zu nehmen. Das ist die Botschaft, die ich der Gesellschaft
geben möchte.
Und natürlich in Zusammenarbeit mit dem Bildungsministerium zwei-
oder dreitägig eine ähnliche Veranstaltung mit Lehrern aus den
81 Provinzen in Ankara durchzuführen. Dabei sollen aus jeder Provinz
zwei oder drei Lehrer kommen. Wir werden ihnen ebenfalls eine grundlegende
Erdbebenschutzausbildung geben. Und diese Lehrer werden in ihre Heimatprovinzen
zurückkehren und versuchen, ihr Wissen weiterzuverbreiten.
IP: In kürze wird der zweite Jahrestag des Marmara-Erdbebens
sein. Eigentlich weiß jeder, daß dies nicht das letzte zerstörerische
Erdbeben gewesen ist. Ist nach Ihrer Meinung die Türkei heute besser
auf ein Erdbeben vorbereitet?
Ist die Türkei nun besser vorbereitet? Ja, sie ist besser vorbereitet.
Aber dennoch ist diese Vorbereitung noch nicht ausreichend. Da müssen
wir noch eine Menge tun.
Auch müssen die Bemühungen, von denen ich bereits sprach, unbedingt
institutionalisiert werden.
Am Freitag wird die SOS 2001", eine Katastrophenschutz-Messe
eröffnet. Das ist eine Primiere für die Türkei. Dort wird
insbesondere auf Selbsthilfemöglichkeiten jenseits bautechnischer
Maßnahmen hingewiesen. Es ist nötig, daß wir unsere Möbel
in einer Weise aufstellen, daß sie durch ein Erdbeben nicht beeinflußt
werden. Ich habe mich in besonderer Weise dafür eingesetzt: In dem
Maße, in dem die Bevölkerung sehen kann, was getan werden muß,
in dem Maße wird auch das Bewußtsein geschärft.
IP: In den vergangenen zwei Jahren haben nationale und internationale
Teams die seismischen Bruchstellen im Marmara-Meer untersucht. Können
solche Untersuchungen Ergebnisse liefern, die es ermöglichen ein
Erdbeben in Istanbul vorauszusagen oder sind sie vor allem aus wissenschaftlicher
Sicht nützlich?
Untersuchungen im Marmara-Meer zu machen, ist aus wissenschaftlicher Sicht
sehr schön. Aber dies ist eine Aufgabe von Wissenschaftlern und muß
unbedingt gemacht werden. Die Angelegenheit, die die Gesellschaft angeht
ist die Frage, ob wir auf ein Erdbeben, daß im Marmara-Meer entstehen
kann, vorbereitet sind. Wie groß es auch immer sei - wichtig ist
es, vorbereitet zu sein.
IP: Es soll ein Vorwarnsystem installiert werden. Gibt es dabei
Fortschritte? Welchen Nutzen wird es haben? Wann wird es in Betrieb genommen?
Eigentlich geht es nicht einfach um ein Vorwarnsystem, sondern um ein
Notfall-Leit- und Vorwarnsystem. Zum jetzige Zeitpunkt haben wir mit den
Untersuchungen für die Anordnung der Meßstationen für
das Notfall-Leitsystem begonnen. An 100 Punkten in Istanbul werden Meßgeräte
für Erdbewegungen aufgestellt. Außerdem befindet sich in unseren
Händen ein Plan über die Gebäudedichte der Stadt. Innerhalb
von drei Minuten nach einem Erdbeben gehen im Kandili Observatorium in
zwei Zentren, dem Polizeipräsidium, dem Gouverneur, der Großstadtverwaltung,
dem Amt des Ministerpräsidenten und der 1. Armee die Daten ein. Im
Falle eines Erdbebens wird die Größenordnung der Schäden,
d.h. gibt es schwere oder mittlere Schäden, und deren Ausbreitung
in den ersten drei Minuten offensichtlich werden. Wenn man eine gute Koordination
macht, können die Notfallkräfte schnell vor Ort sein und eingreifen.
Je schneller sie an den Schadensstellen sind, desto geringer wird der
Verlust an Menschenleben sein.
Was das Vorwarnsystem betrifft - das Zentrum des Erdbebens ist ziemlich
nahe und darum wird die Vorwarnzeit vielleicht 7 bis 8 Sekunden, höchstens
10 Sekunden betragen. Wir werden hier ein Signal geben und an diejenigen,
die sich angemeldet haben, senden. Wozu kann man dieses Signal verwenden?
Z.B. um den Betrieb von Chemie-Fabriken oder die Energieversorgung zu
stoppen oder auch um Metro-Züge zu bremsen. Das eigentliche Ziel
ist es, Bränden vorzubeugen. Die Brände nach einem Erdbeben
können weit größere Schäden anrichten als das Beben
selbst.
Im Oktober werden voraussichtlich die ersten 20 Geräte aufgestellt
und eine Erprobungsphase begonnen. Die Installation der übrigen Geräte
und die Einführung des Vorwarnsystems planen wir bis April nächsten
Jahres.
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