Jahrgang 2 Nr. 0 vom 18.08.2001
 

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"Mein Ziel ist eine Gesellschaft, die auf Erdbeben vorbereitet ist"

Gespräch mit Professor Isikara vom Erdbeben-Observatorium der Bosporus Universität Istanbul

(16. August 2001)

IP: Nach dem Marmara-Erdbeben sind Sie häufig im Fernsehen und in Schulen aufgetreten und haben darüber gesprochen, wie man sich im Falle eines Erdbebens verhalten muß. Sind für Verhaltensänderungen solche Maßnahmen ausreichend? Wie bewerten Sie Ihre Erfahrungen?


Ich habe mit diesen Arbeiten bereits im Jahr 1991 begonnen. Aber, um es offen zu sagen: Es gab nicht viele die darauf gehört haben. 1996 habe ich zusammen mit dem obersten Schulrat von Istanbul begonnen, in Istanbul Erdbeben-Wochen durchzuführen. Drei Jahre vor dem Erdbeben. Und in diesen drei Jahren haben wir in den Schulen Istanbuls diese Veranstaltungen durchgeführt. Wann haben wir den Nutzen davon gesehen? Am 13. September 1999, am Tag der Schuleröffnung, als das erste starke Nachbeben war. Die Schüler haben sich genau richtig verhalten. Die Schulräte haben mir erklärt, daß die Schüler zu 95 Prozent nicht in Panik geraten sind. Genau im Gegenteil: sie haben eingesetzt, was sie gelernt haben.
Wenn Sie nun auf die Tätigkeiten nach dem Erdbeben schauen, dann bin ich seitdem in 47 Provinzen und drei Großstädte gegegangen. Ohne jetzt von Istanbul zu sprechen. In diesen Provinzen und Städten wurden von den Landräten oder Gouverneuren Konferenzräume zur Verfügung gestellt. Dorthin haben wir Schüler verschiedener Schulen eingeladen. Dann haben wir uns unterhalten - genau wie ich es an Istanbuler Schulen gemacht habe.
Warum habe ich Kinder als Zielgruppe gewählt? Zum ersten: sie lernen sehr schnell. Zum zweiten: ich erreiche mit einem Schüler gleich drei Personen. Denn die Schüler geben ihr Wissen an Vater und Mutter weiter. Ich habe auch mit vielen Eltern getroffen. Nachdem die Kinder mir zugehört hatten und nach Hause kamen, haben sie beispielsweise das Bett vom Fenster weggerückt oder dafür gesorgt, daß die Schränke in der Wand verankert wurden. Sie haben angefangen, was sie gelernt haben an ihre Eltern weiterzugeben.
Kann ich diese ganze Arbeit allein leisten? Natürlich nicht. Man muß realistisch sein. Darum sind wir im Gespräch mit dem Bildungsministerium. Ich habe dem Bildungsminster sehr nachdrücklich vorgeschlagen, Katastrophenschutz-Stunden in den Lehrplan aufzunehmen. Anfang vergangener Woche habe ich mit dem Vorsitzenden der Lehrplankommission (Talim ve Terbiye Kurulu) gesprochen. Sie haben sich meine Vorschläge angehört. Mein Vorschlag ist, es als ein besonders Fach zu unterrichten. Sie wollen es eher zwischen verschiedene Unterrichtreihen einstreuen. Die Katastrophenschutz-Unterrichtsreihe soll als Schwerpunkt Erdbeben haben. Aber daneben gibt es auch noch andere Naturkatastrophen wie beispielsweise Überflutungen. Wir wollen den Schülern dann, gemäß ihrer Altersgruppe, einfache Lebensrettungsmaßnahmen und Erste Hilfe beibringen. Auch dies werden die Schüler wieder mit nach Hause tragen. Für diese Lebensrettungs- und Erste-Hilfe-Kurse können sie von den regionalen Gesundheitsdiensten Unterstützung erhalten.
Warum nun diese Kursinhalte? Nach einem Erdbeben sind Sie zunächst mit Ihrer Familie, Ihren Nachbarn, in Ihrem Stadtviertel allein. Es dauert bis Notfallhelfer und Erste-Hilfe-Kräfte eintreffen. Aber wenn ein Nachbar oder Freund verschüttetet worden oder ein Bekannter verletzt worden ist, können Sie, wenn Sie vorbereitet sind, zumindest bis Helfer eintreffen, dem Verschütteten die Hand reichen. Wenn sie einfache Rettungstechniken beherrschen, können Sie ihn vielleicht befreien. Wenn es eine Blutung gibt, können Sie sie vielleicht stillen. Schnell zu helfen ist sehr wichtig. Sie können vielleicht das Leben Ihres Nachbarn oder Ihres Freundes retten. Darum bestehe ich auf diese Vorbereitungsprogramme.
Es zielt darauf, das Bewußtsein zu schärfen.

 

Daneben haben wir in Istanbul ein Projekt zur Vorbereitung auf Katastrophen. Im Rahmen dieses Projektes planen wir, zusammen mit dem Gouverneur von Istanbul, in den 32 Stadtteilen von jeder Schule je einen Lehrer in dreißiger Gruppen Katastrophenschutz-Fortbildungen durchzuführen. Danach verlangen wir von diesen Lehrern, daß sie in ihre Schulen gehen und ihre Kenntnisse zunächst an das Lehrerkollegium und das Personal weiterzugeben. Danach sollen die Lehrer ihre Kenntnisse den Schülern vermitteln. Wir denken, daß wir bis Januar aus den 32 Stadtteilen ca. 3000 Lehrer weiterbilden. Das wird für die Vorbereitung Istanbuls auf ein Erdbeben sehr nützlich sein.


Ich habe es schon oft gesagt. Die Frage, ob ein Erdbeben stattfindet, ist nebensächlich. Wenn die nötigen Vorbereitungen getroffen sind und Sie vorbereitet sind, können sie ein Erdbeben überstehen, ohne Schaden zu nehmen. Das ist die Botschaft, die ich der Gesellschaft geben möchte.

 

Und natürlich in Zusammenarbeit mit dem Bildungsministerium zwei- oder dreitägig eine ähnliche Veranstaltung mit Lehrern aus den 81 Provinzen in Ankara durchzuführen. Dabei sollen aus jeder Provinz zwei oder drei Lehrer kommen. Wir werden ihnen ebenfalls eine grundlegende Erdbebenschutzausbildung geben. Und diese Lehrer werden in ihre Heimatprovinzen zurückkehren und versuchen, ihr Wissen weiterzuverbreiten.


IP: In kürze wird der zweite Jahrestag des Marmara-Erdbebens sein. Eigentlich weiß jeder, daß dies nicht das letzte zerstörerische Erdbeben gewesen ist. Ist nach Ihrer Meinung die Türkei heute besser auf ein Erdbeben vorbereitet?


Ist die Türkei nun besser vorbereitet? Ja, sie ist besser vorbereitet. Aber dennoch ist diese Vorbereitung noch nicht ausreichend. Da müssen wir noch eine Menge tun.
Auch müssen die Bemühungen, von denen ich bereits sprach, unbedingt institutionalisiert werden.
Am Freitag wird die „SOS 2001", eine Katastrophenschutz-Messe eröffnet. Das ist eine Primiere für die Türkei. Dort wird insbesondere auf Selbsthilfemöglichkeiten jenseits bautechnischer Maßnahmen hingewiesen. Es ist nötig, daß wir unsere Möbel in einer Weise aufstellen, daß sie durch ein Erdbeben nicht beeinflußt werden. Ich habe mich in besonderer Weise dafür eingesetzt: In dem Maße, in dem die Bevölkerung sehen kann, was getan werden muß, in dem Maße wird auch das Bewußtsein geschärft.

 

IP: In den vergangenen zwei Jahren haben nationale und internationale Teams die seismischen Bruchstellen im Marmara-Meer untersucht. Können solche Untersuchungen Ergebnisse liefern, die es ermöglichen ein Erdbeben in Istanbul vorauszusagen oder sind sie vor allem aus wissenschaftlicher Sicht nützlich?


Untersuchungen im Marmara-Meer zu machen, ist aus wissenschaftlicher Sicht sehr schön. Aber dies ist eine Aufgabe von Wissenschaftlern und muß unbedingt gemacht werden. Die Angelegenheit, die die Gesellschaft angeht ist die Frage, ob wir auf ein Erdbeben, daß im Marmara-Meer entstehen kann, vorbereitet sind. Wie groß es auch immer sei - wichtig ist es, vorbereitet zu sein.


IP: Es soll ein Vorwarnsystem installiert werden. Gibt es dabei Fortschritte? Welchen Nutzen wird es haben? Wann wird es in Betrieb genommen?


Eigentlich geht es nicht einfach um ein Vorwarnsystem, sondern um ein Notfall-Leit- und Vorwarnsystem. Zum jetzige Zeitpunkt haben wir mit den Untersuchungen für die Anordnung der Meßstationen für das Notfall-Leitsystem begonnen. An 100 Punkten in Istanbul werden Meßgeräte für Erdbewegungen aufgestellt. Außerdem befindet sich in unseren Händen ein Plan über die Gebäudedichte der Stadt. Innerhalb von drei Minuten nach einem Erdbeben gehen im Kandili Observatorium in zwei Zentren, dem Polizeipräsidium, dem Gouverneur, der Großstadtverwaltung, dem Amt des Ministerpräsidenten und der 1. Armee die Daten ein. Im Falle eines Erdbebens wird die Größenordnung der Schäden, d.h. gibt es schwere oder mittlere Schäden, und deren Ausbreitung in den ersten drei Minuten offensichtlich werden. Wenn man eine gute Koordination macht, können die Notfallkräfte schnell vor Ort sein und eingreifen. Je schneller sie an den Schadensstellen sind, desto geringer wird der Verlust an Menschenleben sein.
Was das Vorwarnsystem betrifft - das Zentrum des Erdbebens ist ziemlich nahe und darum wird die Vorwarnzeit vielleicht 7 bis 8 Sekunden, höchstens 10 Sekunden betragen. Wir werden hier ein Signal geben und an diejenigen, die sich angemeldet haben, senden. Wozu kann man dieses Signal verwenden? Z.B. um den Betrieb von Chemie-Fabriken oder die Energieversorgung zu stoppen oder auch um Metro-Züge zu bremsen. Das eigentliche Ziel ist es, Bränden vorzubeugen. Die Brände nach einem Erdbeben können weit größere Schäden anrichten als das Beben selbst.
Im Oktober werden voraussichtlich die ersten 20 Geräte aufgestellt und eine Erprobungsphase begonnen. Die Installation der übrigen Geräte und die Einführung des Vorwarnsystems planen wir bis April nächsten Jahres.

 

 

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