Jahrgang 2 Nr. 0 vom 28.07.2001
 

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Zum Stand der deutsch-türkischen Beziehungen im Rahmen der türkischen Beitrittsphase zur EU.

 

Im folgenden möchten wir die Rede des deutschen Botschafters in Ankara, Schmidt, gehalten am 11. April 2001 auf der gleichnamigen Konferenz in Istanbul, wiedergeben. In diplomatischer Sprache werden Stärken und Schwächen der deutsch-türkischen Beziehungen aufgezeigt und aus deutscher Sicht unterstrichen, daß Voraussetzung für einen Beitritt der Türkei zur EU Reformwille und Veränderungsbereitschaft sind.

 

Sehr geehrter Herr Staatsminister,
Sehr geehrte Frau Rektorin,
Herr Landtagspräsident,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
den Veranstaltern der heutigen Konferenz und allen, die an ihrer Vorbereitung mitgewirkt und sie unterstützt haben, gilt mein herzlicher Dank. Es ist besonders bedeutsam, dass Sie, Herr Staatsminister, zu Beginn dieser Konferenz sprechen werden. Wir kennen Sie als eine der Triebkräfte in der türkischen Regierung auf dem Weg zu Reformen und auf dem Wege der Vorbereitung für die europäische Union. Sie haben auch wesentlich an dem nationalen Programm mitgearbeitet, dass kürzlich veröffentlicht wurde und an die Europäische Kommission übergeben wurde.
Die Türkei hat damit ein umfassendes und ehrgeiziges Dokument vorgelegt, dass ihrer Selbstverpflichtung auf dem Weg zur Europäischen Union konkreten Ausdruck verleiht. Das Programm stellt einen wichtigen und anerkennenswerten Schritt in die richtige Richtung dar. Die Regierung weicht darin auch den für sie schwierigen Themen nicht aus. Die Türkei stellt damit unter Beweis, dass es ihr ernst ist mit der Fortsetzung des Reformprozesses und der weiteren Heranführung an die europäische Union.
Das ist eine schwierige Aufgabe, und das Programm wird in einigen Punkten noch weiter entwickelt werden müssen; entscheidend ist nun die konsequente Bewältigung der selbstgestellten Aufgaben im Lichte der Beitrittspartnerschaft. Dabei wird die Durchführung der angekündigten Massnahmen in den Bereichen Menschen- und Bürgerrechte, der kulturellen Rechte einschliesslich des Gebrauchs der eigenen Sprache und der zivilen Kontrolle des Militärs weiterhin besondere Aufmerksamkeit finden.
Beitrittsverhandlungen werden aufgenommen werden, wenn die politischen Kopenhagen-Kriterien tatsächlich erfüllt sind. Die Türkei kann sich auf diesem Wege weiterhin auf die Unterstützung Deutschlands wie der europäischen Union verlassen.
Die heutige Konferenz, meine Damen und Herren, findet nicht nur zum richtigen Zeitpunkt statt, auch ihr Thema scheint mir gut gewählt. Herr Tempel von der Europäischen Kommission wird demnächst die Sicht seiner Behörde darstellen, später wird der Präsident des Landtags von Bremen aus der Sicht eines deutschen Landes das Thema beleuchten, und schliesslich wird heute nachmittag ein Mitglied es Deutschen Bundestages zu Ihnen sprechen.
Ich selbst möchte einige Gedanken dazu beitragen, was die Deutsch-Türkischen Beziehungen aus meiner Sicht für die EU-Kandidatur der Türkei bedeuten und welche Rückwirkungen diese Kandidatur auf die Deutsch-Türkischen Beziehungen haben kann.
Obwohl wir keine unmittelbaren Nachbarn sind, hat die Türkei kaum mit einem anderen Land heute so enge Verbindungen wie mit Deutschland. Die Geschichte unserer Beziehungen hat uns dabei geholfen, uns als Freunde zu sehen. Spuren davon sehen Sie auf Schritt und Tritt, gerade hier in Istanbul, aber auch, wenn Sie durch das Land reisen. Nie aber waren unsere Verbindungen auf gesellschaftlichem, auf wirtschaftlichem und auf kulturellem Gebiet enger als heute.
Die wichtigste Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte wurde 1962 durch die Entscheidung der Bundesregierung eingeleitet, Arbeiter im Ausland anzuwerben. Die Türken stellten von ihnen die weitaus grösste Gruppe. Die meisten von ihnen kannten Deutschland nicht, als sie sich dorthin auf den Weg machten, aber sie gingen mit grossen Erwartungen. Wir waren uns auf beiden Seiten zu Beginn nicht klar, was diese ungeheure Zuwanderungswelle bedeutete. Die vielen Probleme, die sich daraus ergaben, sind viel diskutiert worden und wedren auch heute noch diskutiert. Es gab enttäuschte Erwartungen und auch manchen Streit.
Heute sind wir uns einig, dass die Integration der Weg ist, den die türkischen Mitbürger sollten, wenn sie in Deutschland bleiben wollen. Das ist kein leichter Prozess, wie Präsident Rau in seiner Rede im Haus der Kulturen der Welt in Berlin am 12. Mai vergangenen Jahres gesagt hat: „Integration braucht langen Atem und Geduld, sie braucht Offenheit der angestammten Bevölkerung, noch mehr aber braucht sie die Bereitschaft und die Anstrengung der neu dazukommenden, die Bereitschaft, auch dazu gehören zu wollen.
Gelingt dies, so wird das von vielen auch als wichtiges Indiz für die Integrationsfähigkeit der Türkei als Land in die Europäische Union angesehen werden. Die Zweifel, die es daran gibt, gründen sich ja oft darauf, dass viele Türken in Deutschland sich angeblich nicht integrieren können oder wollen. Ich persönlich meine, dass die vielen Fälle geglückter Integration oft übersehen und die Problemfälle überschätzt werden.
Die Türken leisten in Deutschland einen wichtigen Beitrag, nicht nur in der Wirtschaft als Arbeitnehmer und als Unternehmer, sondern auch in der Kultur und in der Politik. Dieser Integrationsprozess hat in der Tat vieles mit dem Charakter der Europäischen Union zu tun. Wir alle müssen lernen, dass wir nicht nur eine Identität haben, wir Deutsche sind zum Beispiel gleichzeitig auch Bayern oder Schwaben oder Mecklenburger. Wir sind gleichzeitig in der Europäischen Union, und diese Identität wird immer wichtiger. So sind wir dabei, zum Ende dieses Jahres unsere eigene Währung, die Deutsche Mark, aufzugeben und stattdessen den Euro zu übernehmen.
Als Deutscher kann man christlichen, jüdischen und islamischen Glaubens sein. Das ist heute eine Selbstverständlichkeit. Man kann sich als Deutscher zum Islam bekennen und als Moslem eingebürgert werden. Wir freuen uns darüber das mehr und mehr Türken bei uns die Einbürgerung beantragen. Sie können dabei selbstverständlich nicht nur ihre Religion behalten und ausüben, sondern auch ihre Sprache und Kultur. Niemand hat je daran gedacht, ihnen den Gebrauch ihrer eigenen Sprache zu verwehren. Im Gegenteil es gibt Zeitungen und Rundfunksendungen in türkischer Sprache. Türkische Fernsehanstalten gibt es nur deshalb in Deutschland nicht, weil die in der Türkei hergestellten Fernsehprogramme auch in Deutschland empfangen werden können.
Aber natürlich erwarten wir, dass die türkischen Mitbürger auch Deutsch lernen. Darum ist, wie Bundespräsident Rau gesagt hat, Deutsch für Ausländer ein zentrales Bildungsprojekt für die Zukunft unserer Gesellschaft. Es ist in unserem gemeinsamen Interesse, dass die Türken in Deutschland möglichst gute Bildungschancen haben.
Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit noch eine Bemerkung machen zu Spekulationen, die wir immer wieder in der türkischen Presse lesen, dass Deutschland demnächst wieder zur Anwerbung von Arbeitskräften übergehen möchte. Dies ist zu diesem Zeitpunkt Spekulation.
Die Bundesregierung hat, wie Sie wissen, eine Einwanderungskommission eingesetzt, die in diesem Augenblick berät und zwar in einem vertraulichen Prozess. Das ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.
Wenn das Ergebnis dieser Kommission vorliegt, wird es an Bundesregierung und Bundestag sein, zu entscheiden, welche von diesen Empfehlungen übernommen werden. Bis dahin zu spekulieren auf eine Öffnung des Arbeitsmarkts bei uns, ist nicht berechtigt und man sollte möglichst sich hüten, ein solches Missverständnis zu wecken.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung unterstützt seit vielen Jahren die Anstrengungen der Türkei, ihre Infrastruktur weiter zu verbreitern, regionale Ungleichgewichte zu vermindern und die Wirtschaft durch Modernisierung Europa-fähig zu machen. Im Rahmen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit hat sie bisher insgesamt 8.5 Milliarden DM zur Verfügung gestellt, zum Teil als Zuschüsse, zum Teil als günstige Darlehen. Das Volumen der laufenden und geplanten Projekte beläuft sich auf 1 Milliarde Mark.
Ein Schwerpunkt ist der Umweltschutz. Wir helfen der Türkei damit, sich auf die Umweltstandards der Europäischen Union vorzubereiten. Auf dem Gebiet des Verkehrswesens haben wir zum Beispiel die Stadtbahn in Bursa finanziert, mit unserer Unterstützung wurde das grösste und modernste Abwasserklärwerk der Türkei in Ankara errichtet und ähnliche Anlagen entstehen in Tarsus und Diyabakir. Wir stimmen unser Programm natürliche besonders eng mit der Europäischen Union ab, deren Programm von uns ja zu etwa einem Drittel mitfinanziert wird.
In der gegenwärtigen Wirtschaftkrise begrüssen wir die eingeleiteten Reformen und besonders die Entschlossenheit der türkischen Regierung, auch die Probleme auf dem Bankensektor anzupacken. Sie haben sicher bemerkt, dass Staatsminister Derviþ auf seiner kürzlichen Auslandsreise zuerst nach Berlin kam und von dort auch ermutigt zurückgekehrt ist.
Dies, meine Damen und Herren, war ein Versuch, an einigen Beispielen zu zeigen, welche Bedeutung die deutsch-türkischen Beziehungen im Kontext der Beziehungen der Türkei zur Europäischen Gemeinschaft haben. Die Entwicklung unserer Beziehungen und die weitere Annäherung der Türkei an die Europäische Union, das sind eng miteinander verbundene und sich gegenseitig ergänzende Prozesse. Ohne Antrengungen auf beiden Seiten wird es allerdings nicht gehen.
Für die Türkei ist der Weg vorgezeichnet. Im Dezember letzten Jahres hat die Kommission der Europäischen Union nach Konsultationen mit der türkischen Regierung das Beitrittspartnerschafts-Dokument vorgelegt. Als Antwort hat die Türkei das Nationale Programm präsentiert, das uns - wenn ich die Tagesordnung richtig verstehe - Botschafter Boskin heute nachmittag noch erläutern wird.
Wann die politischen Kriterien erfüllt sind, wann also die Beitrittsverhandlungen beginnen können, hängt nun von der Türkei ab. Das Reformtempo hat sich seit Ende 1999 verlangsamt. Es gibt auch aus den Reihen der türkischen Parteien, die die Regierung bilden, Kritik an der Europäischen Union, die uns in ihrer Schärfe überrascht hat und die wir für unbgründet halten. Das Nationale Programm nimmt auf die innenpolitische Diskussion in der Türkei Rücksicht. Wir hoffen aber, dass von dieser Basis aus der Reformprozess neuen Schwung gewinnt. Die Bundesregierung wird ihn weiterhin nach Kräften unterstützen.
Sie hat sich in Vorbereitung auf den Europäischen Rat in Nizza und auch bei den Beratungen dort dafür eingesetzt, dass Europa erweiterungsfähig gemacht wird. In einer Europäischen Union mit künftig 28 oder noch mehr Mitgliedern müssen die Entscheidungsprozesse verändert werden. Mehr Entscheidungen des Ministerrats werden mit Mehrheit getroffen werden müssen. Dafür hat sich die Bundesregierung eingesetzt. Der Europäische Rat ist nicht soweit gegangen, wie wir es gewollt hätten, aber er hat doch wichtige Fortschritte gemacht.
Auch die Zahl der Sitze für die Mitgliedstaaten im Rat und im Europäischen Parlament wurde angepasst. Ich weiss, dass man in der Türkei enttäuscht war, in dem entsprechenden Dokument nicht erwähnt zu sein. Das bedeutet aber keineswegs, dass die Europäische Union nicht mit dem Beitritt der Türkei rechnet.
Natürlich wird die Türkei, sobald sie beitritt, zur Kategorie der grossen Mitgliedstaaten zählen und dementsprechend in den EU-Organen vertreten sein. In einer erweiterten Union wird von den Mitgliedern noch mehr Fähigkeit und Bereitschaft zum Kompromiss gefordert werden. Es wird für einzelne Mitgliedstaaten immer weniger Möglichkeiten geben, Entscheidungen zu verhindern. Wer das versucht, wird immer öfter überstimmt werden. Noch mehr als bisher wird von der Möglichkeit Gebrauch gemacht werden, dass einige Mitgliedstaaten auf gewissen Gebieten mit Integrationsschritten vorangehen, zu denen andere Mitgliedstaaten noch nicht bereit sind.
Nur so können wir die Dynamik der Union bewahren und unser gemeinsames Ziel erreichen: eine Union, die ihren Bürgern ein immer grösseres Mass an Entfaltungsmöglichkeiten, und als Konsequenz daraus auch mehr Wohlstand bietet, eine Union, die gleichzeitig immer mehr globale Verantwortung übernimmt, nicht nur auf wirtschaftlichem, sondern auch auf politischem Gebiet.
Es ist offensichtlich, dass dies nicht eine Union der Regierung und Bürokraten sein kann, sondern eine Union der Bürger. Das aber bedeutet, dass der Integrationsprozess nicht nur die Regierungen fordert, sondern auch die Gesellschaften. Das gilt für die EU-Mitglieder wie für die Kandidaten. Für Deutsche und Türken bedeutet das, dass wir uns noch mehr aufeinander einstellen, noch mehr bereit sein müssen, die Position des anderen zu verstehen, auch wenn wir sie nicht immer teilen. Unsere Nationen werden sich ja im Prozess der europäischen Integration nicht auflösen. Sie werden weiter bestehen.
Unsere Staaten allerdings müssen einen Teil ihrer Kompetenzen an die europäischen Institutionen abgeben. Sie wollen dabei von dem Grundsatz ausgehen, dass jede Entscheidung so nahe wie möglich beim Bürger getroffen werden sollte. Zunächst bei den Gemeinden, dann beim Staat und schliesslich, wo dies im gemeinsamen Interesse erforderlich ist, auf der Ebene der Union. Wir Deutsche haben seit langem ein föderales System, insofern ist für uns die Aufteilung von Kompetenzen auf verschiedene Ebenen etwas durchaus vertrautes. So zufrieden wir mit unserem Systen des Bundesstaates sind, wir wollen es niemandem aufdrängen.
Meine Damen und Herren, besondere Hoffnungen setze ich bei dem Prozess des einander verstehens auf die nachwachsenden Generationen. Sie haben die Möglichkeit, sich vom Ballast an Vorurteilen zu befreien, den manche von den älteren noch mitschleppen. Sie sollten sich in aller Unbefangenheit neuen Erfahrungen öffnen. Auch das geht nicht ohne Mühe aber ich bin sicher, dass die Professoren und Studenten der Marmara-Universität und besonders diejenigen, die am Europäischen Gemeinschafts-Institut arbeiten, zu dieser Anstrengung bereit sind, ebenso wie ihre Partner in Deutschland. Diese Konferenz ist ein Teil dieser Bemühungen und ich wünsche ihr viel Erfolg.

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