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Zum Stand der deutsch-türkischen Beziehungen im Rahmen der türkischen
Beitrittsphase zur EU.
Im folgenden möchten wir die Rede des deutschen Botschafters
in Ankara, Schmidt, gehalten am 11. April 2001 auf der gleichnamigen Konferenz
in Istanbul, wiedergeben. In diplomatischer Sprache werden Stärken
und Schwächen der deutsch-türkischen Beziehungen aufgezeigt
und aus deutscher Sicht unterstrichen, daß Voraussetzung für
einen Beitritt der Türkei zur EU Reformwille und Veränderungsbereitschaft
sind.
Sehr geehrter Herr Staatsminister,
Sehr geehrte Frau Rektorin,
Herr Landtagspräsident,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
den Veranstaltern der heutigen Konferenz und allen, die an ihrer Vorbereitung
mitgewirkt und sie unterstützt haben, gilt mein herzlicher Dank.
Es ist besonders bedeutsam, dass Sie, Herr Staatsminister, zu Beginn dieser
Konferenz sprechen werden. Wir kennen Sie als eine der Triebkräfte
in der türkischen Regierung auf dem Weg zu Reformen und auf dem Wege
der Vorbereitung für die europäische Union. Sie haben auch wesentlich
an dem nationalen Programm mitgearbeitet, dass kürzlich veröffentlicht
wurde und an die Europäische Kommission übergeben wurde.
Die Türkei hat damit ein umfassendes und ehrgeiziges Dokument vorgelegt,
dass ihrer Selbstverpflichtung auf dem Weg zur Europäischen Union
konkreten Ausdruck verleiht. Das Programm stellt einen wichtigen und anerkennenswerten
Schritt in die richtige Richtung dar. Die Regierung weicht darin auch
den für sie schwierigen Themen nicht aus. Die Türkei stellt
damit unter Beweis, dass es ihr ernst ist mit der Fortsetzung des Reformprozesses
und der weiteren Heranführung an die europäische Union.
Das ist eine schwierige Aufgabe, und das Programm wird in einigen Punkten
noch weiter entwickelt werden müssen; entscheidend ist nun die konsequente
Bewältigung der selbstgestellten Aufgaben im Lichte der Beitrittspartnerschaft.
Dabei wird die Durchführung der angekündigten Massnahmen in
den Bereichen Menschen- und Bürgerrechte, der kulturellen Rechte
einschliesslich des Gebrauchs der eigenen Sprache und der zivilen Kontrolle
des Militärs weiterhin besondere Aufmerksamkeit finden.
Beitrittsverhandlungen werden aufgenommen werden, wenn die politischen
Kopenhagen-Kriterien tatsächlich erfüllt sind. Die Türkei
kann sich auf diesem Wege weiterhin auf die Unterstützung Deutschlands
wie der europäischen Union verlassen.
Die heutige Konferenz, meine Damen und Herren, findet nicht nur zum richtigen
Zeitpunkt statt, auch ihr Thema scheint mir gut gewählt. Herr Tempel
von der Europäischen Kommission wird demnächst die Sicht seiner
Behörde darstellen, später wird der Präsident des Landtags
von Bremen aus der Sicht eines deutschen Landes das Thema beleuchten,
und schliesslich wird heute nachmittag ein Mitglied es Deutschen Bundestages
zu Ihnen sprechen.
Ich selbst möchte einige Gedanken dazu beitragen, was die Deutsch-Türkischen
Beziehungen aus meiner Sicht für die EU-Kandidatur der Türkei
bedeuten und welche Rückwirkungen diese Kandidatur auf die Deutsch-Türkischen
Beziehungen haben kann.
Obwohl wir keine unmittelbaren Nachbarn sind, hat die Türkei kaum
mit einem anderen Land heute so enge Verbindungen wie mit Deutschland.
Die Geschichte unserer Beziehungen hat uns dabei geholfen, uns als Freunde
zu sehen. Spuren davon sehen Sie auf Schritt und Tritt, gerade hier in
Istanbul, aber auch, wenn Sie durch das Land reisen. Nie aber waren unsere
Verbindungen auf gesellschaftlichem, auf wirtschaftlichem und auf kulturellem
Gebiet enger als heute.
Die wichtigste Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte wurde 1962 durch
die Entscheidung der Bundesregierung eingeleitet, Arbeiter im Ausland
anzuwerben. Die Türken stellten von ihnen die weitaus grösste
Gruppe. Die meisten von ihnen kannten Deutschland nicht, als sie sich
dorthin auf den Weg machten, aber sie gingen mit grossen Erwartungen.
Wir waren uns auf beiden Seiten zu Beginn nicht klar, was diese ungeheure
Zuwanderungswelle bedeutete. Die vielen Probleme, die sich daraus ergaben,
sind viel diskutiert worden und wedren auch heute noch diskutiert. Es
gab enttäuschte Erwartungen und auch manchen Streit.
Heute sind wir uns einig, dass die Integration der Weg ist, den die türkischen
Mitbürger sollten, wenn sie in Deutschland bleiben wollen. Das ist
kein leichter Prozess, wie Präsident Rau in seiner Rede im Haus der
Kulturen der Welt in Berlin am 12. Mai vergangenen Jahres gesagt hat:
Integration braucht langen Atem und Geduld, sie braucht Offenheit
der angestammten Bevölkerung, noch mehr aber braucht sie die Bereitschaft
und die Anstrengung der neu dazukommenden, die Bereitschaft, auch dazu
gehören zu wollen.
Gelingt dies, so wird das von vielen auch als wichtiges Indiz für
die Integrationsfähigkeit der Türkei als Land in die Europäische
Union angesehen werden. Die Zweifel, die es daran gibt, gründen sich
ja oft darauf, dass viele Türken in Deutschland sich angeblich nicht
integrieren können oder wollen. Ich persönlich meine, dass die
vielen Fälle geglückter Integration oft übersehen und die
Problemfälle überschätzt werden.
Die Türken leisten in Deutschland einen wichtigen Beitrag, nicht
nur in der Wirtschaft als Arbeitnehmer und als Unternehmer, sondern auch
in der Kultur und in der Politik. Dieser Integrationsprozess hat in der
Tat vieles mit dem Charakter der Europäischen Union zu tun. Wir alle
müssen lernen, dass wir nicht nur eine Identität haben, wir
Deutsche sind zum Beispiel gleichzeitig auch Bayern oder Schwaben oder
Mecklenburger. Wir sind gleichzeitig in der Europäischen Union, und
diese Identität wird immer wichtiger. So sind wir dabei, zum Ende
dieses Jahres unsere eigene Währung, die Deutsche Mark, aufzugeben
und stattdessen den Euro zu übernehmen.
Als Deutscher kann man christlichen, jüdischen und islamischen Glaubens
sein. Das ist heute eine Selbstverständlichkeit. Man kann sich als
Deutscher zum Islam bekennen und als Moslem eingebürgert werden.
Wir freuen uns darüber das mehr und mehr Türken bei uns die
Einbürgerung beantragen. Sie können dabei selbstverständlich
nicht nur ihre Religion behalten und ausüben, sondern auch ihre Sprache
und Kultur. Niemand hat je daran gedacht, ihnen den Gebrauch ihrer eigenen
Sprache zu verwehren. Im Gegenteil es gibt Zeitungen und Rundfunksendungen
in türkischer Sprache. Türkische Fernsehanstalten gibt es nur
deshalb in Deutschland nicht, weil die in der Türkei hergestellten
Fernsehprogramme auch in Deutschland empfangen werden können.
Aber natürlich erwarten wir, dass die türkischen Mitbürger
auch Deutsch lernen. Darum ist, wie Bundespräsident Rau gesagt hat,
Deutsch für Ausländer ein zentrales Bildungsprojekt für
die Zukunft unserer Gesellschaft. Es ist in unserem gemeinsamen Interesse,
dass die Türken in Deutschland möglichst gute Bildungschancen
haben.
Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit noch eine Bemerkung machen zu Spekulationen,
die wir immer wieder in der türkischen Presse lesen, dass Deutschland
demnächst wieder zur Anwerbung von Arbeitskräften übergehen
möchte. Dies ist zu diesem Zeitpunkt Spekulation.
Die Bundesregierung hat, wie Sie wissen, eine Einwanderungskommission
eingesetzt, die in diesem Augenblick berät und zwar in einem vertraulichen
Prozess. Das ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.
Wenn das Ergebnis dieser Kommission vorliegt, wird es an Bundesregierung
und Bundestag sein, zu entscheiden, welche von diesen Empfehlungen übernommen
werden. Bis dahin zu spekulieren auf eine Öffnung des Arbeitsmarkts
bei uns, ist nicht berechtigt und man sollte möglichst sich hüten,
ein solches Missverständnis zu wecken.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung unterstützt seit vielen
Jahren die Anstrengungen der Türkei, ihre Infrastruktur weiter zu
verbreitern, regionale Ungleichgewichte zu vermindern und die Wirtschaft
durch Modernisierung Europa-fähig zu machen. Im Rahmen der wirtschaftlichen
Zusammenarbeit hat sie bisher insgesamt 8.5 Milliarden DM zur Verfügung
gestellt, zum Teil als Zuschüsse, zum Teil als günstige Darlehen.
Das Volumen der laufenden und geplanten Projekte beläuft sich auf
1 Milliarde Mark.
Ein Schwerpunkt ist der Umweltschutz. Wir helfen der Türkei damit,
sich auf die Umweltstandards der Europäischen Union vorzubereiten.
Auf dem Gebiet des Verkehrswesens haben wir zum Beispiel die Stadtbahn
in Bursa finanziert, mit unserer Unterstützung wurde das grösste
und modernste Abwasserklärwerk der Türkei in Ankara errichtet
und ähnliche Anlagen entstehen in Tarsus und Diyabakir. Wir stimmen
unser Programm natürliche besonders eng mit der Europäischen
Union ab, deren Programm von uns ja zu etwa einem Drittel mitfinanziert
wird.
In der gegenwärtigen Wirtschaftkrise begrüssen wir die eingeleiteten
Reformen und besonders die Entschlossenheit der türkischen Regierung,
auch die Probleme auf dem Bankensektor anzupacken. Sie haben sicher bemerkt,
dass Staatsminister Derviþ auf seiner kürzlichen Auslandsreise
zuerst nach Berlin kam und von dort auch ermutigt zurückgekehrt ist.
Dies, meine Damen und Herren, war ein Versuch, an einigen Beispielen zu
zeigen, welche Bedeutung die deutsch-türkischen Beziehungen im Kontext
der Beziehungen der Türkei zur Europäischen Gemeinschaft haben.
Die Entwicklung unserer Beziehungen und die weitere Annäherung der
Türkei an die Europäische Union, das sind eng miteinander verbundene
und sich gegenseitig ergänzende Prozesse. Ohne Antrengungen auf beiden
Seiten wird es allerdings nicht gehen.
Für die Türkei ist der Weg vorgezeichnet. Im Dezember letzten
Jahres hat die Kommission der Europäischen Union nach Konsultationen
mit der türkischen Regierung das Beitrittspartnerschafts-Dokument
vorgelegt. Als Antwort hat die Türkei das Nationale Programm präsentiert,
das uns - wenn ich die Tagesordnung richtig verstehe - Botschafter Boskin
heute nachmittag noch erläutern wird.
Wann die politischen Kriterien erfüllt sind, wann also die Beitrittsverhandlungen
beginnen können, hängt nun von der Türkei ab. Das Reformtempo
hat sich seit Ende 1999 verlangsamt. Es gibt auch aus den Reihen der türkischen
Parteien, die die Regierung bilden, Kritik an der Europäischen Union,
die uns in ihrer Schärfe überrascht hat und die wir für
unbgründet halten. Das Nationale Programm nimmt auf die innenpolitische
Diskussion in der Türkei Rücksicht. Wir hoffen aber, dass von
dieser Basis aus der Reformprozess neuen Schwung gewinnt. Die Bundesregierung
wird ihn weiterhin nach Kräften unterstützen.
Sie hat sich in Vorbereitung auf den Europäischen Rat in Nizza und
auch bei den Beratungen dort dafür eingesetzt, dass Europa erweiterungsfähig
gemacht wird. In einer Europäischen Union mit künftig 28 oder
noch mehr Mitgliedern müssen die Entscheidungsprozesse verändert
werden. Mehr Entscheidungen des Ministerrats werden mit Mehrheit getroffen
werden müssen. Dafür hat sich die Bundesregierung eingesetzt.
Der Europäische Rat ist nicht soweit gegangen, wie wir es gewollt
hätten, aber er hat doch wichtige Fortschritte gemacht.
Auch die Zahl der Sitze für die Mitgliedstaaten im Rat und im Europäischen
Parlament wurde angepasst. Ich weiss, dass man in der Türkei enttäuscht
war, in dem entsprechenden Dokument nicht erwähnt zu sein. Das bedeutet
aber keineswegs, dass die Europäische Union nicht mit dem Beitritt
der Türkei rechnet.
Natürlich wird die Türkei, sobald sie beitritt, zur Kategorie
der grossen Mitgliedstaaten zählen und dementsprechend in den EU-Organen
vertreten sein. In einer erweiterten Union wird von den Mitgliedern noch
mehr Fähigkeit und Bereitschaft zum Kompromiss gefordert werden.
Es wird für einzelne Mitgliedstaaten immer weniger Möglichkeiten
geben, Entscheidungen zu verhindern. Wer das versucht, wird immer öfter
überstimmt werden. Noch mehr als bisher wird von der Möglichkeit
Gebrauch gemacht werden, dass einige Mitgliedstaaten auf gewissen Gebieten
mit Integrationsschritten vorangehen, zu denen andere Mitgliedstaaten
noch nicht bereit sind.
Nur so können wir die Dynamik der Union bewahren und unser gemeinsames
Ziel erreichen: eine Union, die ihren Bürgern ein immer grösseres
Mass an Entfaltungsmöglichkeiten, und als Konsequenz daraus auch
mehr Wohlstand bietet, eine Union, die gleichzeitig immer mehr globale
Verantwortung übernimmt, nicht nur auf wirtschaftlichem, sondern
auch auf politischem Gebiet.
Es ist offensichtlich, dass dies nicht eine Union der Regierung und Bürokraten
sein kann, sondern eine Union der Bürger. Das aber bedeutet, dass
der Integrationsprozess nicht nur die Regierungen fordert, sondern auch
die Gesellschaften. Das gilt für die EU-Mitglieder wie für die
Kandidaten. Für Deutsche und Türken bedeutet das, dass wir uns
noch mehr aufeinander einstellen, noch mehr bereit sein müssen, die
Position des anderen zu verstehen, auch wenn wir sie nicht immer teilen.
Unsere Nationen werden sich ja im Prozess der europäischen Integration
nicht auflösen. Sie werden weiter bestehen.
Unsere Staaten allerdings müssen einen Teil ihrer Kompetenzen an
die europäischen Institutionen abgeben. Sie wollen dabei von dem
Grundsatz ausgehen, dass jede Entscheidung so nahe wie möglich beim
Bürger getroffen werden sollte. Zunächst bei den Gemeinden,
dann beim Staat und schliesslich, wo dies im gemeinsamen Interesse erforderlich
ist, auf der Ebene der Union. Wir Deutsche haben seit langem ein föderales
System, insofern ist für uns die Aufteilung von Kompetenzen auf verschiedene
Ebenen etwas durchaus vertrautes. So zufrieden wir mit unserem Systen
des Bundesstaates sind, wir wollen es niemandem aufdrängen.
Meine Damen und Herren, besondere Hoffnungen setze ich bei dem Prozess
des einander verstehens auf die nachwachsenden Generationen. Sie haben
die Möglichkeit, sich vom Ballast an Vorurteilen zu befreien, den
manche von den älteren noch mitschleppen. Sie sollten sich in aller
Unbefangenheit neuen Erfahrungen öffnen. Auch das geht nicht ohne
Mühe aber ich bin sicher, dass die Professoren und Studenten der
Marmara-Universität und besonders diejenigen, die am Europäischen
Gemeinschafts-Institut arbeiten, zu dieser Anstrengung bereit sind, ebenso
wie ihre Partner in Deutschland. Diese Konferenz ist ein Teil dieser Bemühungen
und ich wünsche ihr viel Erfolg.
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