Jahrgang 2 Nr. 0 vom 29.09.2001
 

Jetzt kostenlos!



 

Die türkische Haltung zur Europäischen Union - Eindrücke aus der Türkei

Europäische Identität der Türkei

Die Geschichte der Beziehungen zwischen der Türkei und Europa ist eine lange Reihe der Aufs und Abs, der Einverständnisse und Mißverständnisse, der Täuschungen und Enttäuschungen. Aus türkischer Sicht gehört die Türkei zu Europa und hat einen "Anspruch" auf eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union, weil sie seit dem 19. Jahrhundert Europa als Inkarnation westlichen Denkens zum Vorbild hat. Die grundlegenden, ja radikalen Reformen, die unter Mustafa Kemal Atatürk nach dem Ende des ersten Weltkrieges die Türkei von einem fendalistischen Staat zu einer modernen Republik nach europäischem Vorbild gemacht haben, belegen dies. Das türkische Rechtssystem, sein Bildungssystem, sein Verwaltungssystem, der Aufbau des Militärs, die Entwicklung von Industrie und Wirtschaft, das Modell einer parlamentarisch-repräsentativen Demokratie haben sich in der Türkei immer an Europa orientiert.

Zwar ist nicht alles so wie in Europa umgesetzt und adaptiert worden und natürlich bestehen noch zahlreiche Unzugänglichkeiten und Schwächen des Systems, aber unbestreitbar ist, daß sich die Türkei in jedem Fall seit Gründung der Republik vor 75 Jahren den westlichen Werten und der westlichen Wertegemeinschaft verbunden fühlt. Im Vergleich zu den islamischen Staaten dieser Region steht die Türkei trotz aller Rückstände und Unvollkommenheiten deshalb vorbildlich dar. Die Türen sind stolz darauf, daß ihr politisches und wirtschaftliches System im Vergleich zu den übrigen islamischen Staaten noch am ehesten den westlichen Kriterien entspricht, und sie meinen, daß dies zunächst einmal auch von Europa gewürdigt werden sollte. Im übrigen wäre nicht nur für die Türkei, sondern auch für Europa und den Westen eine politische Katastrophe, wenn das türkische Modell eines islamischen Landes mit einer laizistischen, westlich orientierten Republik scheitern würde. Daran könnten nur islamistische Fundamentalisten ein Interesse haben.

Von deutschen und europäischen Politikern, die die Türkei besuchen, wird man immer wieder gefragt, warum eigentlich für die Türkei die EU-Mitgliedschaft so wichtig sei, denn schließlich sei doch die Türkei militärisch, politisch und wirtschaftlich viel weniger auf die EU-Mitgliedschaft angewiesen als z.Bsp. die Beitrittskandidaten aus Osteuropa, die sich aus dem Schatten Rußlands lösen wollten. Nach meinem Eindruck ist für die Türkei die EU-Mitgliedschaft so wichtig, weil sie die letzte und endgültige Bestätigung ihrer europäischen Identität, ihrer Zugehörigkeit zum Westen ist; sie ist der Endpunkt und die Krönung dieses im 19. Jahrhundert begonnenen
geistigen Weges der Türkei nach Europa.

Die Türkei fühlt sich von feindlichen Nachbarn umgeben oder von Nachbarn, mit denen sie nicht viel gemein hat oder nichts zu tun haben will. Von ihrer politischen und wirtschaftlichen Interessenlage her, von ihrer psychischen Befindlichkeit und ihren tragenden politischen Prinzipien her, kommt für sie nur eine Anbindung an Europa infrage. Und die Anbindung an eine größere politische Gemeinschaft, mit deren Zielen und Grundwerten sie übereinstimmt, gibt der Türkei das Gefühl, dadurch ihre innere Stabilität absichern zu können und dem Land eine positive gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Zukunftsperspektive zu eröffnen. Deshalb gibt es für die Türkei zur EU keine Alternative, auch wenn immer wieder einmal von einigen türkischen Politikern und Intellektuellen das Gegenteil gesagt wird. Aber die militärische Zusammenarbeit mit Israel, die sicherheitspolitische und strategischen Partnerschaft mit den USA oder die wirtschaftlichen Perspektiven in den zentralasiatischen und den Turkstaaten sind für die Türkei keine Alternative zur EU, sondern eine Ergänzung ihres außenpolitischen und wirtschaftlichen Instrumentariums.

Für manche türkische Politiker, hohe Beamte und Wissenschaftler ist die EU-Mitgliedschaft auch ein Vehikel, um den als dringend erforderlich angesehenen Reformprozeß im eigenen Land voranzutreiben. Denn daß Reformen im Hinblick auf mehr Demokratie, mehr Rechtstaatlichkeit, mehr soziale Sicherheit und ein besseres Bildungssystem notwendig und überfällig sind, - das wird ernsthaft in der Türkei nicht mehr bestritten. Diese Reformen sind notwendig im Interesse der Bürger des Landes und unabhängig davon, ob die Türkei EU-Mitglied wird oder nicht. Einige gehen sogar so weit und sagen, die EU-Mitgliedschaftsperspektive sei erforderlich, um die notwendigen Veränderungen in der Türkei überhaupt durchsetzen zu können, weil das Land ohne Druck und ohne Hilfe von außen diese aus eigener Kraft nicht schaffen werde. Wenn man dann einmal den europäischen Standard auf den wichtigsten Gebieten erreicht habe und die Kopenhagen-Kriterien erfülle, dann sei es für sie eher zweitrangig, ob die Türkei noch EU-Mitglied werde oder nicht.

Die Türkei ist weit weg

Für Europa dagegen lag die Türkei bewußtseinsmäßig immer in weiter Ferne, im Orient. Sie wurde und wird wahrscheinlich auch heute noch von der Mehrzahl der Europäer nicht selbstverständlich zu Europa gezählt. Europa, vor allen Dingen auch Deutschland, legte immer Wert auf gute Beziehungen zu diesem wichtigen Land in einer schwierigen Region. Aber an eine EU-Mitgliedschaft der Türkei haben sicherlich die wenigsten europäischen Politiker ernsthaft geglaubt. Für sie stand dieses Thema nicht auf der Tagesordnung. Sie haben die Türkei hingehalten und letztlich wenig Verständnis dafür gehabt, das sie wirklich Mitglied im Europäischen Club werden wollte. Auch in Deutschland, das schon aus historischen Gründen der Türkei immer freundschaftlich verbunden war - wenngleich diese Verbundenheit in der Türkei immer stärker als in Deutschland verwurzelt war -, wurde viele Jahre die EU-Mitgliedschaft der Türkei nicht ernsthaft ins Auge gefaßt, egal, was man in öffentlichen Erklärungen sagte.

Eine Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft oder in der späteren Sechser-Gemeinschaft der Europäische Union wäre auch schwer vorstellbar gewesen; aber mit dem beginnenden Erweiterungsprozeß der EU durch die Aufnahme von Mitgliedern wie Griechenland, die von manchen europäischen Politikern im nachhinein als Fehler angesehen wurde, und mit der Aufnahme von Spanien und Portugal hat die EU eine neue Dynamik und Attraktivität erfahren. Durch das Ende des Kalten Krieges und den Zerfall der Sowjetunion erhielt allerdings der Erweiterungsprozeß der EU einen bis dahin kaum vorstellbaren Schwung. Für Westeuropa war es selbstverständlich, die osteuropäischen Nachbarstaaten, die bis zum kalten Krieg kulturell, wirtschaftlich und politisch immer zu Europa gehört hatten, in den Beitrittsprozeß einzubeziehen. Insbesondere Deutschland hat hierin auch eine Vorreiterrolle übernommen. Großzügige Mitgliedschaftsangebote an Länder wie Ungarn, die Slowakei, Tschechien, Polen, die baltischen Staaten sowie Rumänien und Bulgarien waren die Folge.

Weil sich aber die EU nicht vor Beginn dieses umfassenden Erweiterungsprozesses auf dessen Finalität und Folgen verständigt hat, weil unklar blieb, wo die Grenzen Europas liegen und anhand welcher Interessenlagen über die Aufnahme von neuen Mitgliedern entschieden werden sollte, war man auf den nunmehr dringlich vorgetragenen Beitrittswunsch der Türkei nicht vorbereitet. Deshalb hat die EU darauf auch mißverständlich, hinhaltend und abwehrend reagiert. Die mit der Osterweiterung von der EU selbst in Gang gesetzte Erweiterungsdynamik mußte automatisch den Mitgliedswunsch der Türkei revitalisieren, was die EU aber nicht erkannte. Offensichtlich glaubte man, die Türkei durch die Gewährung der Zollunion für einige Zeit ruhigstellen zu können.

Die Türkei war damit aber nicht zufrieden und reagierte entsprechend enttäuscht. Die EU wiederum fühlte sich von der damaligen türkischen Ministerpräsidentin Tansu Çiller getäuscht, da diese die Notwendigkeit der Zollunion vor allem auch mit der ansonsten drohenden islamistisch-fundamentalistischen Gefahr begründete, um anschließend der islamistischen Refah in die Regierung zu verhelfen.

Die Erklärungen des EVP-Vorsitzenden Martens vom März 1997 in Brüssel, daß die Türkei nicht EU-Mitglied werden könne, weil die EU ein "kulturelles Projekt" sei, und der Luxemburger EU-Gipfel, der der Türkei ebenfalls die Mitgliedschaftsperspektive verweigerte, waren der letzte Versuch der EU, eine EU-Mitgliedschaft der Türkei abzuwehren und sie mit einer EU-Anbindung unterhalb der Mitgliedschaft zufriedenzustellen, sozusagen mit einer Zollunion plus.

Insbesondere die böse Interpretation der EU als "Christenclub" hatte in der Türkei politisch verheerende Folgen und führte zu entsprechend scharfen Reaktionen, die man auch unter der Überschrift "enttäuschte Liebe" subsumieren kann. Das Argument, die Türkei könne nicht EU-Mitglied werden, weil es ein islamisches Land und die EU ein Club von christlich geprägten Ländern sei, war und ist deshalb falsch, weil es von der Prämisse ausgeht, daß ein islamisches Land per definitionem die tragenden politischen Werte und Prinzipien der Europäischen Union nicht unterstützen und realisieren könne. Dieses Argument wäre aber nur dann richtig, wenn man von einer fundamentalistisch-dogmatischen Interpretation und Praxis des Islam nach dem Vorbild des Iran ausginge. Gerade die Türkei hat aber trotz aller Rückschläge und Schwierigkeiten bewiesen, daß die Grundprinzipien von Demokratie, Rechtsstaat, Laizismus und Pluralismus in einem islamischen Land realisierbar sind. Es mag andere Gründe geben, die gegen die EU-Mitgliedschaft der Türkei sprechen, über die ernsthaft gestritten werden kann; und die Türkei wäre gut beraten, sich mit diesen Argumenten der Skeptiker sachlich und differenziert auseinanderzusetzen -, aber das "muslimische" Argument sollte künftig in dieser Debatte nicht mehr ernsthaft vertreten werden, weil es nicht überzeugend ist und die Beziehungen zwischen Europa und der Türkei nur vergiftet.

Folgen der EU-Perspektive für die Türkei

Mit der Entscheidung des EU-Gipfels in Helsinki im Dezember letzten Jahres zugunste einer Kandidatenperspektive für die Türkei hat die EU die Phase der Unklarheiten und Unsicherheiten beendet und eine eindeutige Positionsbestimmung gegenüber der Türkei vorgenommen. Die EU hat damit Vertrauen in die politische Stringenz ihrer Politik und die Gleichbehandlung von Mitgliedschaftsaspiranten zurückgewonnen. Die Türkei kann und muß nun zeigen, wie ernst es ihr ist mit der Erfüllung der Kopenhagener Kriterien. Die Helsinki-Entscheidung der EU ist in der Türkei mit großer Zustimmung, wenn nicht gar Euphorie aufgenommen worden. Aus der Sicht der Türkei sind damit die langen Jahre des Hinhaltens und der Diskriminierung vorbei und die Türkei muß jetzt zeigen, ob ihre "europäische Berufung" auch den harten Anforderungen einer EU-Mitgliedschaft im praktischen Handeln und Vollzug gerecht wird. In der Euphorie der ersten Wochen nach der Helsinki-Entscheidung hat der türkische Ministerpräsident Ecevit seine Hoffnung zum Ausdruck gebracht, daß in vier Jahren konkrete Beitrittsverhandlung zwischen der Türkei und der EU beginnen könnten.

Angesichts der Vielzahl der noch zu lösenden Probleme und anstehenden Veränderungen erscheint diese Aussage allzu optimistisch und schließt die Gefahr ein, daß die Enttäuschung in der Türkei groß ist, wenn sie dieses Ziel in 4 Jahren nicht erreicht und daß dies dann der EU angelastet wird. Zwar hat die jetzige Regierungskoalition, die seit Mai letzten Jahres im Amt ist, bisher eine erstaunlich Entschlußkraft bei der Realisierung längst überfälliger, häufig durchaus unpopulärer Reformen auf den Gebieten der Wirtschaft, des Haushalts und der Sanierung der sozialen Sicherungssysteme bewiesen, übrigens auch bei der Realisierung wichtiger, rechtlicher und politischer Reformen. Trotzdem kann man den Eindruck gewinnen, daß einer Vielzahl von Politikern, Beamten, Publizisten und sonstigen Meinungsführern im Land nicht klar ist, welch ungeheurer Veränderungs- und Anpassungsprozeß der Türkei noch bevorsteht, bis sie die EU-Mitgliedschaft erreicht.

Dies hängt auch damit zusammen, daß es keine systematische, differenzierte und kontinuierliche Berichterstattung in den türkischen Medien über politische Vorgänge in den wichtigsten EU-Ländern gibt. Auch die Gesprächskontakte zwischen der Türkei und den wichtigsten europäischen Ländern existieren nur auf höchster Ebene, aber nicht in der Breite und in der Tiefe zwischen Abgeordneten, Beamten, Journalisten, Wirtschafts- und Gewerkschaftsverbänden, NGO's usw. Über den komplizierten politischen Entscheidungsprozess im Europäischen Parlament, im Ministerrat und in der EU-Kommission, über den politischen Diskurs in Europa, über die dortigen politischen Prioritäten und Empfindlichkeiten haben die türkischen Führungskräfte aus allen Bereichen aufgrund der geringen Kontaktdichte nur sehr vage oder oft falsche Vorstellungen. Obwohl die Konrad Adenauer Stiftung, das Zentrum für Türkeistudien und die anderen deutschen politischen Stiftungen versuchen, dieses Defizit durch zahlreiche Begegnungen und Dialogveranstaltungen auszugleichen, kann dies natürlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein. Das Gefühl des sich gegenseitig Fremdseins und aneinander Vorbeiredens ist noch vorherrschend.

Auch in Europa gibt es - wenn man von den wenigen wissenschaftlichen Experten einmal absieht - nur wenige Entscheidungsträger in Politik, Bürokratie, Medien, Wirtschaft usw., die die Türkei kennen und sich um einen regelmäßigen Gesprächskontakt, einen Meinungs- und Erfahrungsaustausch bemühen. Dies ist deshalb problematisch, weil dadurch auf beiden Seiten Mißverständnisse und Fehleinschätzungen vorprogrammiert sind. Dies wird einem immer wieder bei Diskussionen zwischen türkischen und europäischen Politikern schmerzlich bewußt.

Aber noch gefährlicher könnte sein, daß durch einen sehr schnellen Veränderungs- und Annäherungsprozeß der Türkei an die EU die türkische Bevölkerung, der Mann auf der Straße, von dieser Entwicklung völlig überrollt und überfordert wird. Es wird noch sehr viel Aufklärungs- und Informationsarbeit in der Türkei erforderlich sein, um die Zustimmung in der Bevölkerung zur EU-Mitgliedschaft erhalten zu können. Noch stimmen ca. 60-70 % der Bevölkerung einer EU-Mitgliedschaft zu, aber es ist eine allgemeine Zustimmungserklärung, ohne sich naturgemäß über die Konsequenzen einer EU-Mitgliedschaft im Detail im klaren zu sein. Wir wissen aus anderen Beitrittskandidaten-Ländern, wie z.Bsp. Polen, wie schwer es ist, die Notwendigkeit schmerzlicher und unpopulärer Veränderungen klar zu machen und dafür Unterstützung zu erfahren. Wir wissen aus Deutschland, wie lange die Bevölkerung der Einführung des Euro ablehnend gegenüberstand. Und auch in den einzelnen EU-Mitgliedsländern wird noch ungeheuer viel Überzeugungsarbeit geleistet werden müssen, um dort in der Bevölkerung eine Zustimmung zur EU-Mitgliedschaft der Türkei erreichen zu können. Dies ist ganz sicher auf beiden Seiten noch ein langer Weg. Er verlangt auf beiden Seiten viel Fingerspitzengefühl, gegenseitige Unterstützung und Rücksichtnahme. Absolut kontroproduktive wäre es, wenn dieses Thema aus innenpolitisch motivierten taktischen Gründen in Wahlkämpfen mißbraucht werden würde.

Die Haltung der wichtigsten gesellschaftlichen Gruppen gegenüber der EU

Auf dem ersten Blick ist die jetzige Ausgangslage für die Türkei im Hinblick auf die Erreichung der Kopenhagen-Kriterien gar nicht so schlecht, denn alle im türkischen Parlament vertretenen Parteien unterstützen die EU-Mitgliedschaft der Türkei und haben den Kandidatenstatus begrüßt. Die nationalistische MHP, immerhin die zweitstärkste Partei im türkischen Parlament und Regierungspartei, sowie die islamische Fazilet, immerhin stärkste Oppositionspartei, haben noch vor wenigen Jahren einer türkischen EU-Mitgliedschaft eindeutig kritisch bis ablehnend gegenübergestanden. Inwieweit dieser politische Kurswechsel ein wirklich tiefgehender und in der gesamten Partei mitgetragener Überzeugungswandel oder nur eine oberflächliche kosmetische Korrektur ist, wird sich dann herausstellen, wenn die ersten schwierigen politischen Entscheidungen auf dem Weg zur EU anstehen, wie z.B. die Abschaffung der Todesstrafe, die Garantie der Meinungsfreiheit, Reform der Verfassung usw.

Türkische Politiker und Medien müssen sich z.B. zunächst erst einmal daran gewöhnen, daß künftig von Seiten der EU berechtigte Forderungen gestellt und kritische Anmerkungen zur türkische Politik gemacht werden, die man vor Helsinki immer als ungerechtfertigte, arrogante Einmischung in die inneren Verhältnisse der Türkei oder mit der Ignoranz der EU abwehren konnte. Nunmehr steht die Türkei unter Begründungszwang.

Wie schwer es der Türkei immer noch fällt, sich bei Entscheidungen
von nationaler Bedeutung supranationalen Gremien im Konfliktfall anzuvertrauen bzw. "auszuliefern", hat die Diskussion über die rechtliche Anerkennung der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit bei Großprojekten in Streitfällen zwischen den Vertragspartnern gezeigt. Bisher hat die Türkei im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern in derartigen Fällen eine internationale Schiedsgerichtsbarkeit nicht anerkannt mit der Folge, daß ausländische Investoren in ihrem Engagement bei der Finanzierung von Großprojekten außerordentlich zurückhaltend waren. Nach langer, sehr kontroverser Diskussion in der Öffentlichkeit und im Parlament ist die erforderliche Gesetzesänderung verabschiedet worden. Aber sowohl im Zusammenhang mit diesem Thema wie auch bei der Privatisierung von staatlichen Energie- oder Telekommunikationskonzernen wird hier immer noch ganz schnell das Argument des "nationalen Ausverkaufs" vorgebracht. Dies ist insofern verständlich, weil die Türkei in osmanischer Zeit von einigen westlichen Staaten in der Tat erbarmungslos ausgebeutet wurde und die Türkei in totale Abhängigkeit von ausländischen Gläubigern geriet. Diese traumatische Erfahrung wirkt bei Türken ähnlich stark nach wie bei uns Deutschen die Inflationserfahrung.

Ohnehin hat die Türkei keine oder nur sehr wenig oder eher schlechte Erfahrungen mit einer engen Kooperation mit Nachbarstaaten, da diese in der Vergangenheit entweder kommunistisch waren oder wie heute noch islamische Diktaturen oder Militärdiktaturen sind. Die Europäische Gemeinschaft ist aber ein Integrationsmodell. Als EU-Mitglied muß die Türkei nicht nur kooperieren, sondern sich gemeinschaftlichen Zielen unterwerfen, die nur erreicht werden können, wenn im Interesse eines gemeinsamen Ganzen auf allen Seiten Kompromisse und Zugeständnisse gemacht werden, die weit über das hinaus gehen, was bisher für die Türkei notwendig war. Als EU-Mitglied ist sie zum Kompromiß und zur Zusammenarbeit gezwungen. Als EU-Mitglied ist die Türkei kein souveräner Staat mehr, sondern muß sich gemeinsam gefällten Entscheidungen unterwerfen, auch wenn sie diese für falsch hält. Dies verlangt von der türkischen Politik einen grundlegenden Bewußtseinswandel, denn für national motivierte Einzelgänge besteht dann wie bisher keine Möglichkeit mehr. Und die Möglichkeit, die Verhandlungen abzubrechen, oder aus der EU wieder auszutreten, besteht auch nicht.

In der türkischen Wirtschaft ist die EU-Mitgliedschaft immer eindeutig und klar unterstützt und gefördert worden. Obwohl die türkische Wirtschaft als Folge der Zollunion nunmehr einem erheblich schärferen Wettbewerb unterliegt, hat sie diesen bisher erstaunlich gut bestanden. Aufgrund der intensiven Handelsbeziehungen zwischen der Türkei und der EU, aber insbesondere zwischen der Türkei und Deutschland, sind in diesem Bereich die Kontakte und Erfahrungen mit Europa und mit Deutschland in der praktischen Zusammenarbeit wahrscheinlich noch am größten und die Erwartungen an die EU-Mitgliedschaft am realistischsten.

Das Militär hat in der Türkei traditionell immer eine politisch sehr einflußreiche Rolle gespielt, die für Europäer nur schwer verständlich, geschweige denn akzeptabel ist. Im Gegensatz zu Deutschland hat z. B. das Militär hier in der gesamten Gesellschaft ein sehr hohes Ansehen. Die dreimalige Übernahme der Macht durch das Militär wurde in aller Regel von der Bevölkerung gutgeheißen, weil die Politik am Ende war oder bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten. Jedesmal hat das Militär aber auch wieder von sich aus die Macht an die Politik abgegeben. Diese Suspendierung des demokratischen Systems und deren Ersatz durch eine Militärherrschaft hat dem Ansehen des Militärs in der Türkei nicht geschadet. Es versteht sich selber als Wahrer und Garant der Grundideale des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk. In dieser Rolle wird das Militär auch aus der Sicht der Bevölkerung gesehen. Viele Türken erzählen einem, daß das Militär die einzige funktionsfähige, gut ausgebildete, nicht-korrupte und vertrauenswürdige Institution in der Türkei sei und es ein beruhigendes Gefühl für sie sei, daß man wisse, das Militär werde eingreifen, wenn sich die Politik als allzu unfähig erweisen sollte. So wird auch nicht ganz zu Unrecht der politische Einfluß des Militärs in der türkischen Politik erklärt: Je instabiler die Regierungen und je unfähiger die Politiker seien, desto mehr Einfluß gewinne das Militär - es fülle sozusagen das entstandene Macht-Vakuum aus.

Die Politik hat daher auf die Sicherheits- und Verteidigungsstrategie des Landes und die damit verbundenen Rüstungs- und Ausgabenentscheidungen praktisch keinen Einfluß, weil das Militär selbständig entscheidet. Wichtiger ist aber, daß sich das Militär auch verantwortlich fühlt für die innere Sicherheit des Landes und damit tief in die Kompetenzen der Politik eingreift oder mit ihr rivalisiert. Den Primat der Politik gegenüber dem Militär durchzusetzen, so wie es in Europa als selbstverständlich praktiziert und auch von dem künftigen EU-Mitglied Türkei verlangt werden wird, ist in der Türkei nur schrittweise realisierbar; aber ich halte die Forderung für umsetzbar. Denn das Militär befürwortet die Westbindung der Türkei und damit auch deren Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Je eher die Politik zu kraftvollen Reformen in der Lage ist, um so eher wird auch das Militär bereit sein, schrittweise auf seinen politischen Einfluß zu verzichten. Gerade in diesen Tagen wurde aus Kreisen des türkischen Generalstabes berichtet, daß dieser mit der Abschaffung der Todesstrafe einverstanden sei und auch prinzipiell mit einer mehrheitlichen Besetzung des Nationalen Sicherheitsrates durch Politiker einverstanden sein könnte; dabei geht es beim Nationalen Sicherheitsrat weniger um die Zusammensetzung, sondern v.a. darum, ob auch künftig allein das Militär die Entscheidungen des Nationalen Sicherheitsrates vorbereitet und die Politiker sie nachvollziehen oder ob die Politiker zum gleichberechtigten Entscheidungspartner und mittelfristig zum bestimmenden Entscheidungsfaktor dieses Gremiums werden.

Im Frühjahr letzten Jahres hat die Konrad Adenauer Stiftung in Ankara eine umfangreiche Jugenduntersuchung veröffentlicht, in der landesweit repräsentativ 2200 Jugendliche im Alter von 15-27 Jahren befragt wurden. Ein Thema der Befragung war auch die Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union. Auf die Frage, an welche internationalen Organisationen sich die Türkei anschließen sollte, befürworteten 39% die Europäische Union, 13% die islamischen Länder, 21% die Turkrepubliken und 22% gar keine; die Unterstützung für eine EU-Mitgliedschaft ist also keineswegs so eindeutig, wie man dies vielleicht annehmen würde. Allerdings sind 69% der Befragten der Auffassung, daß eine EU-Mitgliedschaft die Demokratie und Menschenrechte in der Türkei voranbringen und diese auch der türkischen Wirtschaft helfen würde. Gleichzeitig befürchten 30%, daß die Türkei mit einer EU-Mitgliedschaft ihre eigenen Werte und ihre eigene Identität verliere. Dieses eher diffuse Gefühl, daß mit einer EU-Mitgliedschaft die nationale Identität und Selbstbestimmung der Türkei verloren gehe, ist in den nationalbewußten oder gar nationalistischen Kreisen sehr stark verbreitet; die islamischen oder gar islamistischen Gruppen, darunter auch viele Intellektuelle, befürchten, daß mit einer weiteren Verwestlichung als Folge der EU-Mitgliedschaft die Türkei ihre muslimische Identität, ihre muslimischen Werte verliere.

Auch diese Umfrageergebnisse belegen noch einmal, daß für die Türkei die EU-Mitgliedschaft innenpolitisch keineswegs ein Selbstläufer ist. Viel Skepsis und Mißvertrauen müssen noch überwunden und viel Überzeugungsarbeit muß noch geleistet werden, um wenigstens die Mehrheit der Bevölkerung von der Richtigkeit dieser weichenstellenden Entscheidung zu überzeugen. Dies werden die politischen Entscheidungsträgern der Türkei und die Medien alleine nicht schaffen, zumal die jetzige Geschlossenheit in dieser Frage nicht Bestand haben wird. Deshalb wird vor allen Dingen den Nichtregierungsorganisationen in diesem Prozeß eine wichtige Rolle zukommen.

Dazu müßte aber die Zivilgesellschaft in der Türkei, die sich in den letzten 10 Jahren durchaus positiv entwickelt hat, noch erheblich kräftiger und eigenständiger werden. Noch ist der Staat in den Augen zu vieler Bürger die einzig entscheidende Institution, auf die er blickt, die ihn fördert, ermahnt, erzielt und bestraft. Der türkische Staat mit seiner schwerfälligen, zentralistischen und teilweise korrupten Bürokratie muß sich erst einmal vom Selbstverständnis des allwissenden, die Gesellschaft mißtrauisch kontrollierenen Staates freimachen und erkennen, daß er eine dienende Funktion gegenüber dem Bürger hat und nicht umgekehrt. Die Emanzipation des Bürgers und der Gesellschaft vom Staat, die Vitalisierung und Mobilisierung einer freiheitlichen und pluralistischen Gesellschaft innerhalb eines vom Staat großzügig gesetzten rechtlichen Rahmens ist eine zentrale Voraussetzung für die Fortentwicklung und Stabilisierung der Demokratie und des Rechtsstaates in der Türkei.

Weil dafür aber eine Mentalitäts- und Bewußtseinänderung in der politischen, bürokratischen und militärischen Elite erforderlich ist, kann dieses Ziel nicht von heute auf morgen erreicht werden. Gesetze lassen sich relativ schnell ändern, wenn die parlamentarischen Mehrheit und der politische Wille dafür vorhanden ist. Aber die dem Geiste der Gesetze entsprechende Umsetzung und Anwendung der Gesetze ist nur dann garantiert, wenn sich auch die Einstellungen derjenigen, die diese Gesetze anwenden, entsprechend geändert haben. Schon jetzt aber hat die Türkei ein großes Defizit bei der Umsetzung und Anwendung der bestehenden Gesetze, die häufig genug je nach Opportunität streng, milde oder gar nicht angewandt werden. Und wenn man dann noch den politischen und administrativen Entwicklungsstand im Osten der Türkei berücksichtigt, wird das Ausmaß der erforderlichen Reformen und Veränderungen besonders deutlich. Es ist zu hoffen, daß die neuen Chancen, die sich mit dem Ende des PKK-Terrors im Südosten eröffnen, von allen Seiten zielstrebig genutzt werden, um diesem lange vernachlässigten Teil des Landes eine positive Zukunftsperspektive zu geben.

Dr. Wulf Schönbohm

Dossier EU

 

Archiv

Zurück