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Die Woche vom 29. März bis zum 5. April 2024

Nach der Wahl geht es mit vielen Einsprüchen noch um die Details. Zäh wird um jede Stimme gerungen und zum Teil wird noch versucht, den Wahlsieger durch Tricks zu Fall zu bringen. Am Tenor der Kommunalwahl wird es nichts mehr ändern. Das Regierungsbündnis hat wichtige Städte verloren und vielerorts stellt die CHP seit mehr als vierzig Jahren wieder den Bürgermeister. Was dies für die nationale Politik bedeuten wird, stellt sich vermutlich erst nach den Ramadan-Feiertagen heraus.

Ein überraschendes Ergebnis

Mit 37,1 Prozent ist die CHP erstmals seit den 1970er Jahren zur stärksten Partei geworden. Sie konnte nicht nur ihre Führung in Istanbul, Ankara und Izmir behalten, sondern auch in Westanatolien Fuß fassen. In Istanbul erreicht Ekrem İmamoğlu 51,09 Prozent und damit mehr als zehn Prozentpunkte als sein Herausforderer. Zudem konnte die CHP viele Stadtbezirke hinzugewinnen und wird die Mehrheit im Rat der Metropole erhalten.

Die AKP musste bedeutende Stimmrückgänge verzeichnen und verlor vier der bisher von ihr regierten 15 Metropolen. Die Wahlbeteiligung fiel von 87 Prozent im Mai 2023 auf 76 Prozent, so dass davon ausgegangen wird, dass ein Teil des Rückgangs darauf zurückgeht. Aber auch die Neue Wohlfartspartei (YRP) hat der AKP Stimmen und eine Großstadt gekostet. Die YRP gewann den Oberbürgermeister von Urfa.

Auch die MHP musste Einbußen hinnehmen und musste Manisa an die CHP abgeben. Außerdem verlor sie Kütahya, Amsya, Bartın und Kastamonu an die CHP.

DEM konnte die 2019 errungenen Städte und Diyarbakır mit Ausnahme von Kars und Şırnak wieder gewinnen. Im Westen dagegen scheinen sich ihre Anhänger eher den CHP-Kandidaten zugewandt zu haben.

Im Vergleich zur Kommunalwahl 2019 fällt auf, dass Nichtwähler und ungültige Stimmen zusammen ein Niveau von 15 Mio. erreichen. Die AKP verlor 4,2 Mio. Stimmen, die Iyi Partei 1,7 Mio. und die MHP 1,1 Mio. Stimmen. Demgegenüber erhielt die CHP 3,3 Mio. mehr Stimmen, die YRP 2,8 Mio. und DEM 639.000 zusätzliche Stimmen.

Interessant ist auch der Unterschied zwischen den Bürgermeister- und den Ratswahlen. Bei den Wahlen zu Provinz- und Kreisräten ist die AKP an vielen Orten, an denen sie den Bürgermeister verlor, weiter stärkste Kraft. Dies könnte darauf hindeuten, dass die AKP bei der Kandidatenauswahl Fehler gemacht hat.

Doch der wichtigste Faktor für den Wahlausgang dürfte vermutlich der gesunkene Lebensstandard für weite Bevölkerungsteile sein. Insbesondere die Lage der Rentner ist schwierig. In einem Kommentar wirft der Ökonom Mahfi Eğilmez die Frage auf, was sich denn seit Mai 2023 geändert hat. Die meisten Faktoren, die die Lebensbedingungen beeinträchtigen waren auch zu diesem Zeitpunkt bereits vorhanden. Doch anders als im Frühjahr 2023 fehlt es schlicht am Geld, um wenigstens vorübergehend beispielsweise durch eine weitere Erhöhung der Mindestrente und des Mindestlohns eine Linderung für die Haushalte herbeizuführen.

Auf der anderen Seite waren die Ausgangsbedingungen für die Wahlen alles andere als gleich. Galt bei Parlamentswahlen bis 2017 die Regel, dass Innen- und Justizminister, in deren Zuständigkeitsbereich die Durchführung von Wahlen fällt, zurücktreten, wurden sie bei dieser Wahl als Propagandisten eingesetzt. Auch der Medienzugang war – besonders für die kleineren Parteien – sehr unterschiedlich und führte zu starken Benachteiligungen.

Es war erwartet worden, dass die schlechte Stimmung auch der rechtsextremen Zafer Partei zugute kommen würde. Sie konnte ihre Stimmen jedoch nur um 0,2 Prozentpunkte auf 2,44 Prozent erhöhen.

Die Iyi Partei errang nur eine Provinzhauptstadt und 24 Landkreise. Deva eine Kreisstadt, ebenso Saadet. Die Demokratische Partei erreichte zwei Kreisstädte, die Gelecek Partei keine.

Eine neue politische Landschaft

Für die CHP ist das Ergebnis ein doppelter Meilenstein. Zum einen durchbrach sie die Schwelle von 24 Prozent, an der sie für Jahre wie festgekettet verharrt war. Zum anderen konnte sie auch in West- und Mittelanatolien Bürgermeister gewinnen – in Afyon beispielsweise zum ersten Mal seit 44 Jahren wieder. Spannend wird jedoch, wie sich das Verhältnis zwischen dem CHP-Vorsitzenden Özgür Özel und Istanbul Bürgermeister Ekrem İmamoğlu weiter entwickelt. Mit seinem Sieg in Istanbul hat İmamoğlu seinen Führungsanspruch weiter ausgebaut. Er kann jedoch nicht Parteivorsitzender sein, ohne das Bürgermeisteramt aufzugeben.

Zumindest für den Moment zeigt das Ergebnis außerdem, dass für die CHP ihre bisherigen Bündnisparteien entbehrlich geworden sind.

Zweiter Wahlsieger ist die YRP, die sich nun vermutlich weitgehend unangefochten als Erbe des Milli Görüş betrachten kann. Sie hat ihr Stimmenpotenzial ausgebaut und der AKP viele Stimmen gekostet. Es ist darum anzunehmen, dass die AKP stärker auf Positionen der YRP Rücksicht nehmen wird, als sie es bisher tat.

Offen bleibt die Zukunft der Iyi Partei. Am Tag nach der Wahl hat ihre Vorsitzende Meral Akşener die Einberufung eines außerordentlichen Parteitages angekündigt, bei der auch eine Vorstandswahl durchgeführt werden soll. Ob sie erneut kandidiert, steht noch nicht fest. Laut Satzung der Partei muss ein solcher Parteitag nach Einberufung durch die Vorsitzende binnen 60 Tagen durchgeführt werden – dies hieße Ende Mai. Die Partei hatte seit dem Herbst vor einer Zerreißprobe gestanden, nachdem sie beschlossen hatte, das Oppositionsbündnis zu verlassen und mit eigenen Kandidaten an den Kommunalwahlen teilzunehmen. Daraufhin hatten mehrere Parlamentarier und Vorstandsmitglieder die Partei verlassen. In den letzten zwei Wochen vor der Kommunalwahl hatte sie sich mehrfach gegen die CHP gestellt und versucht, Polemiken mit İmamoğlu und Yavaş zu beginnen. Betrachtet man das Ergebnis dieser Politik, so hat sie letztlich die CHP nur gestärkt.

Eine Rückkehr zur früheren Bündnispolitik dürfte schwer fallen. Das Grundproblem, dass es eine beträchtliche Schnittmenge zwischen der Wählerschaft von Iyi Partei und CHP gibt, bleibt erhalten. Dass sich diese Wählerinnen und Wähler bei dieser Wahl für die CHP entschieden haben, macht es nicht einfacher. Zudem dürfte der Wahlerfolg das Bedürfnis der CHP deutlich verringern, sich wieder in eine Bündnis mit kleinen Parteien einzulassen. Ebenso spannend wie die Vorsitzfrage wird darum beim Parteitag wohl auch, welche Richtung die Iyi Partei einschlagen wird.

Unfair

In der Metropole Van hat die DEM die Bürgermeisterwahl gewonnen. Sie tritt immer mit einer Doppelspitze auf, der männliche Kandidat war Abdullah Zeylan. Ihm war 2022 die Wählbarkeit zurückerstattet worden. Auch ist er vom Wahlrat zugelassen worden. Doch am 29. März 2024 – zwei Tage vor der Wahl – wandte sich das Justizministerium an die zuständige Staatsanwaltschaft mit der Aufforderung, die Wählbarkeit wieder aufzuheben. Ein Gericht folgte diesem Antrag. Daraufhin erteilte der Wahlrat der Provinz dem mit 130.000 Stimmen unterlegenen AKP-Kandidaten den Bürgermeisterauftrag. Gegen Proteste wurde mit Wasserwerfern vorgegangen.

Gegen diese Entscheidung zur Aberkennung der Wählbarkeit ist Berufung möglich. Da sie noch nicht rechtskräftig ist, wirkt es sonderbar, dass der Wahlrat der Provinz bereits die Wählbarkeit aberkannt hat. Doch dies wirkt wie ein Vorbote. Nach der Kommunalwahl 2019 waren die meisten HDP-Bürgermeister abgesetzt und an ihrer Stelle Provinzgouverneure und Landräte als Zwangsverwalter eingesetzt worden. Es wäre nicht überraschend, wenn solche Entscheidungen in den nächsten Tagen wieder ergehen.

Es ist ein Lichtblick, dass der CHP-Vorsitzende Özgür Özel diesen Vorgang ebenso wie die frühere Einsetzung von Zwangsverwaltern für HDP-Kommunen für inakzeptabel hält. Dass sich eine von der CHP nach Van geschickte Delegation den dortigen Protestkundgebungen anschloss, zeigt, dass die CHP an Bewegungsspielraum gewonnen hat. Die Schwäche der Iyi Partei mag dazu beigetragen haben.

Nationalistische Parteien haben verloren

Liberale Medien greifen Deutungen auf, dass die eigentlichen Verlierer der Kommunalwahl nationalistische Parteien sind. Dies ist quasi eine Korrektur der Analyse der Wahlen 2023, bei denen die nationalistischen Positionen als wahlentscheidend betrachtet wurden.

Es dürfte für eine solche Deutung jedoch wohl zu früh sein. An vielen Orten stammen die CHP-Kandidaten aus den nationalistischen Parteien. In Ankara wurden in mehreren Stadtbezirken frühere MHP-Politiker aufgestellt. In Afyon zeigte eine Analyse von Yıldıray Oğuz in der Tageszeitung Karar, dass die harte Position der CHP-Bürgermeisterkandidatin gegen die DEM auf die dortige lokale Wahlkampfdynamik zurückging. Dort versuchten MHP und AKP der CHP ein geheimes Bündnis mit der DEM zu unterstellen. Diese wiederum erklärte, die Pforten der Gemeinde werden allen offenstehen außer Hüda Par und DEM. Während dies einerseits im Wahlkampf von Politikern des Regierungsbündnisses als „rassistische, anti-kurdische Entgleisung“ dargestellt wurde, hat diese Haltung der CHP in dieser Provinz mehr als die Hälfte der Stimmen eingebracht.

Andere Deutungen wirken vielleicht realistischer. Parteien wie MHP, Iyi Partei und Zafer Partei, sowie auch die AKP haben in hohem Maße Stimmen verloren. Der CHP wiederum gelang es, sowohl Kurden als auch nationalistische Wählerinnen und Wähler in sich aufzunehmen und damit gleichsam zu verschmelzen. Ob daraus jedoch eine tragfähige Politik wird, die zu einer Änderung des nach wie vor nationalistischen Klimas in weiten Teilen des Landes führt, bleibt abzuwarten.

Interessant wird in diesem Zusammenhang sein, ob die CHP-Führung den angekündigten Parteitag verwirklicht, mit dem die Erneuerung der Partei durch Satzungsänderungen weitergeführt werden sollte.

Und die Wirtschaft?

Als eine der wichtigsten Ursachen für die Ergebnisse der Kommunalwahlen wird die Verarmung weiter Bevölkerungsteile angesehen. Während bis zur Parlaments- und Präsidentenwahl 2023 alle öffentlichen Mittel eingesetzt wurden, um die Türkische Lira zu stützen, die Inflation zu dämpfen und den Zugang zu Krediten zu fördern, begann unmittelbar nach diesen Wahlen die (teilweise) Freigabe der Devisenkurse, Steuererhöhungen und eine Politik, die die Kompensation bei Renten und Gehältern zurücknahm.

Prof. Burak Arzova beschreibt in der ekonomim drei mögliche Szenarien für die weitere Wirtschaftspolitik. Das erste Szenario geht davon aus, dass die angekündigte Politik einer restriktiven Geldpolitik fortgesetzt wird. Außerdem wird es in den kommenden vier Jahren keine weiteren Wahlen geben und die Regierung bemüht sich um eine Kooperation auch mit den Kommunen, die sie bei dieser Wahl verloren hat. Prof. Arzova bewertet dies als ein Szenatio, das sowohl rationell ist als auch Unterstützung finden dürfte.

Das zweite Szenario wäre eine Rückkehr zur Politik im ersten Halbjahr 2023. Selbst innerhalb des Regierungslagers gibt es jedoch dafür nicht wirklich Unterstützung.

Das dritte Szenario ist eine Mischung aus den beiden ersten. Vordergründig bleibt Inflationsbekämpfung vorrangiges Ziel, doch weil zugleich auf das Wirtschaftswachstum Rücksicht genommen wird, werden Inflationsziele verfehlt. Zudem könnte die Regierung versuchen, verloren gegangene Kommunen zu bestrafen. Das Ergebnis wäre anhaltend hohe Inflation und politische Spannung.