Istanbul Post

Kurzmeldungen: Alle Kurzmeldungen

Die Woche vom 7. bis zum 14. Juni 2024

Das zweite Treffen der Vorsitzenden von AKP und CHP hatte zwar keine unmittelbaren Effekte im Hinblick auf die dort besprochenen Themen. Doch die MHP machte noch einmal deutlich, dass sie zu viel Dialog für überflüssig hält. Letztlich lief die Polemik darauf hinaus, dass sie der AKP vorschlug, sie könne das Bündnis ja auch mit der CHP weiterführen. Hintergrund war jedoch nicht allein das Spitzengespräch, sondern der bevorstehende Prozessbeginn um die Ermordung von Sinan Ateş, an dem mehrere Politiker von MHP und Ülkü Ocakları beteiligt sind. Wirtschaftspolitisch konzentrieren sich die Diskussionen auf ein Sammelgesetz, das noch vor der Sommerpause des Parlaments verabschiedet wird und überwiegend Steuerbestimmungen enthalten soll.

Das zweite Spitzengespräch

Am 11. Juni nahm Staatspräsident Erdoğan den versprochenen Gegenbesuch in der CHP-Parteizentrale wahr. Seit dem ersten Gespräch im Mai wird mit diesen Gesprächen eine hohe politische Erwartung verbunden. Im Vorfeld des zweiten Treffens merkten CHP-Politiker an, dass seit dem ersten Gespräch immerhin eines der angesprochenen Probleme gelöst wurde: die Freilassung der pensionierte Generäle, die wegen des „postmodernen Putsches“ 1998 verurteilt wurden.

In dem 90minütigen Gespräch ist ein breites Fragenspektrum angesprochen worden. Zunächst forderte der Gastgeber Özgür Özel, dass die Lasten des Inflationsprogramms nicht allein den Geringverdienern aufgelastet werden können und forderte darum eine Erhöhung des Mindestlohns für das zweite Halbjahr, sowie eine Anhebung der Mindestrente. Özel bot eine Zusammenarbeit bei der Reform der Steuergesetze an, um zu größerer Steuergerechtigkeit beizutragen. Dazu könnte ein Treffen mit Finanzminister Şimşek stattfinden. Angesprochen wurden politische Strafverfahren wie der Mord am früheren Vorsitzenden der Ülkü Ocakları Sinan Ateş, dem an dem Vorsitzenden der Anwaltskammer Diyarbakır Tahir Elçi sowie der Morde an Mitgliedern der Familie Şenyaşar. Nachdem auch die Inhaftierten des Gezi Park Prozesses beim letzten Gespräch angesprochen wurden, ist ein Antrag auf Aufhebung der Verurteilung aus öffentlichem Interesse gestellt und die Akte dem Justizministerium zugestellt worden. Özel wiederholte seine Kritik, dass die Einsetzung von Zwangsverwaltern in Kommunen der Verfassung und Grundsätzen der Demokratie wiederspricht. Erdoğan wiederum lag die Unterstützung der CHP für eine neue Verfassung am Herzen, erhielt jedoch anscheinend eine Absage.

Hoffnungen darauf, dass die Gespräche zu einer Entspannung in der Politik und einer Drosselung der Repression führen könnten, erwiesen sich bisher jedoch als verfrüht. Auch wenn für ein mögliches drittes Gespräch der 50. Jahrestag der türkischen Zypern Operation genannt wird, geht eine Analyse des türkischen Dienstes der BBC davon aus, dass dies vor allem davon abhängt, ob tatsächlich greifbare Schritte auf der Grundlage der ersten beiden Gespräche erfolgen.

Gerangel in der Justizaufsicht

Alican Uludağ vom türkischen Dienst der Deutschen Welle berichtet, dass es bei der Sitzung des Rates der Richter und Staatsanwälte am 5. Juni zu einer Auseinandersetzung zwischen Justizminister Tunç und einigen Ratsmitgliedern kam. Es ging um die Ernennungsliste für 40 Justizinspektoren. Hier scheint es – ob offiziell oder Usus – eine Kontingentverteilung zwischen Rat und Justizministerium zu geben. Der Rat weigerte sich, die Kandidaten von Vize-Minister Can anzunehmen. Justizminister Tunç versuchte dann zunächst seine Autorität auszuspielen und weigerte sich schließlich, die Ernennungsliste in ihrer aktuellen Fassung zu unterzeichnen. Damit liegen die Ernennungen auf Eis.

Bedenkt man, dass es die Aufgabe der Inspektoren ist, nach dem Beschluss des Rates eine Untersuchung einzuleiten erfolgt ist, diese durchzuführen bzw. zu leiten. Es liegt auf der Hand, dass ihre Arbeit von erheblicher politischer Bedeutung ist.

Auf der anderen Seite wirkt es doch sehr ironisch, dass die AKP-Regierungen im Dialog mit der EU stets betont hatten, der Ratsvorsitz des Justizministers habe nur formelle Bedeutung und habe keinerlei Einfluss auf die Autonomie des Rates.

Kokettieren mit der Ost-Alternative

Aus Frust über den Stillstand der EU-Verhandlungen hatte vor Jahren Staatspräsident Erdoğan als Alternative die Schanghai Kooperation angeführt. Später mag noch hinzugekommen sein, dass dieses wirtschaftliche Kooperationsgebiet bei Verhandlungen nicht immer mit Menschenrechten nerven würde. Es ist inzwischen still geworden um die türkischen Beitrittsinteressen. Doch im vergangenen Jahr hatte die Staatengruppe BRICS, der ebenfalls Russland und China angehören, eine Erweiterung angekündigt. Außenminister Fidan erklärte das türkische Interesse zum Beitritt. Bei einem Empfang durch Präsident Putin wurde dieser Schritt mit Wohlwollen aufgenommen.

Das Interesse Russlands und Chinas dürfte angesichts des um sich greifenden Wirtschaftskriegs mit dem Westen auf der Hand liegen. Zum einen würde ein Land des westlichen Bündnisses ins Boot geholt. Zum anderen verfügt die Türkei in einigen asiatischen und afrikanischen Staaten Gewicht. Ob ein Beitritt zur Shanghai Kooperation oder zu BRICS türkischen Interesse entspricht? Legt man die Außenhandelsbeziehungen zugrunde, so sind die westlichen Staaten mit Abstand die wichtigsten Exportmärkte der Türkei. Bei den Importen liegen Russland und China vorn, beiden Ländern gegenüber herrscht ein ausgesprochen hohes Handelsbilanzdefizit. Da man Shanghai Kooperation bzw. BRICS schon als Gegensatz zur EU betrachten kann, wird ein Engagement mit diesen östlichen Zusammenschlüssen oder gar die Mitgliedschaft im gleichen Maße zur Verringerung von Handel und politischer Kooperation mit den westlichen Staaten führen.

Man kann natürlich die aktuelle BRICS Offerte als weitere Runde türkischer Schaukelpolitik betrachten. Doch wenn dies so ist, trägt sie nur zum Ansehensverlust der türkischen Außenpolitik bei.

Die Warnungen häufen sich

Im März wurde die Zulassungsprüfung für die Fachärzteausbildung durchgeführt. Nun haben sich die Absolventen der Prüfung auf die Branchen ihrer Wahl verteilt. Pädiatrie und pädiatrische Chirurgie, d.h. Kindermedizin, konnten nicht die Hälfte der ausgeschriebenen Ausbildungsplätze besetzen. Dies ist nicht zum ersten Mal so, die Istanbul Post hat bereits im vergangenen Jahr darüber berichtet. Wenn über mehrere Jahre die Ausbildungskapazität beider Fächer nicht ausgeschöpft wird, bedeutet dies, dass in absehbarer Zeit landesweit Facharztmangel auftreten wird. In einigen Landesteilen soll er bereits schon heute bestehen.

In einem Interview zur Abwanderung von Ärzten ins Ausland wurde über einige mögliche Ursachen für die geringe Popularität der Pädiatrie und insbesondere der pädiatrischen Chirurgie berichtet. Als spezifischer Grund wird auf den geringen Schutz von Ärzten gegen Schadenersatzforderungen aufgrund des Vorwurfs von Kunstfehlern hingewiesen. Was auf der einen Seite wie ein Schutz der Patientenrechte aussieht, stellt Ärzte häufig vor die Frage, ob sie ein Risiko eingehen sollen oder nichts unternehmen. Am schärfsten soll dieses Problem in der Pädiatrie auftreten. Im Interview wurde eine Klarstellung des Tatbestandes Kunstfehler sowie eine deutliche Anhebung der Berufshaftpflicht als eine Möglichkeit zur Linderung des Problems angeregt. Zwei weitere Faktoren sind Angst vor Gewalt durch Angehörige sowie Arbeitsüberlastung aufgrund der unterbesetzten Facharztstellen.

Die Tränen der Mädchen

Absolventinnen, die zur Abschlussfeier ihrer Schule in eleganten Kleidern kamen, wurden von der Schulleitung nicht eingelassen, weil sie diese als „unzüchtig“ bewertete. Auf den Fotos zum Ereignis sieht man den Protest von Eltern und Schülern, aber auch, dass einige Mädchen in Tränen ausbrachen.

1998 machten Tränen von Mädchen Schlagzeilen, weil sie wegen ihres Kopftuches nicht in die Universität eingelassen wurden. Es wurden „Überzeugungsgespräche“ geführt, doch wer sich nicht fügte, mitleidslos an den Rand gedrängt. Seit dem ist viel Zeit vergangen. Die AKP hat bereits bei ihrem Machtantritt erklärt, sich werde sich in den Lebensstil der Menschen nicht einmischen. Das erklärt sie auch heute noch. Heute können auch Richterinnen und Polizistinnen Kopftuch tragen. Aber wenn es um die Kleidung der Frauen geht, mischt man sich nicht in Lebensstile ein, sondern sichert nur die Moral und damit die Zukunft der türkischen Familie, die die Zukunft der türkischen Gesellschaft ist. Den Mädchen, die nicht zur Absolventenfeier zugelassen wurden, ist ein Abend verdorben worden, der sich nicht wiederholen lässt. Man könnte sagen, es seien ja nur ein paar junge Mädchen, doch wer die Werte von etwa 10 Prozent der Bevölkerung den übrigen 90 Prozent der Bevölkerung aufoktroyieren will, löst schnell eine Revolte aus.

Weizen

Zu Zeiten der Pandemie und anschließend mit dem Beginn des Ukraine Krieges erinnerte man sich des Weizens als „strategisches Produkt“. Es liegt auf der Hand: ist nicht ausreichend vorhanden, gibt es Engpässe in der Brot- und Nudelversorgung, d.h. der grundlegenden Versorgung der Bevölkerung mit Kohlehydraten. Das Ergebnis bedeutet Hunger.

Im Zuge des Übergangs zur geplanten Landwirtschaft, mit dem in diesem Jahr angefangen werden soll, wurde Weizen als eines der Startprodukte gewählt (neben Ölsaaten). Doch seit vor einigen Tagen die Ankaufspreise für Weizen bekannt gegeben wurden, verliert das neue Modell bereits an Glanz, bevor mit seiner Umsetzung begonnen wurde. Die Landwirte geben an, dass der festgesetzte Preis nicht die Produktionskosten decke. Auf den ersten Blick fällt auf, dass der aktuelle Preis bei Weizen um 12 Prozent, der für Gerste um 3,6 Prozent über dem des Vorjahres liegt. Bei einem Anstieg der Verbraucherpreise im Jahresverlauf von 75 Prozent wirkt dies nicht einmal bescheiden.

Ali Ekber Yıldırım, Landwirtschaftskolumnist von ekonomim, ist den Hintergründen nachgegangen. Anfang 2022 wurde aufgrund von Dürre mit einer schlechten Ernte in der Türkei ausgegangen. Zudem war die Türkei Ausgangspunkt des Getreidekorridors, mit dem ukrainisches und russisches Getreide dem Weltmarkt zugeführt wurde. In diesem Zusammenhang erklärte Staatspräsident Erdoğan, dass viele afrikanische Länder, die Ziel dieser Getreideexporte werden sollten, über keine ausreichende Kapazität verfügten, das Getreide in Mehl zu verarbeiten. Unter der Prämisse einer niedrigen Ernte in der Türkei und hohen Mehlexporten wurden große Mengen Getreide vor allem aus Russland importiert. Tatsächlich erwies sich die Ernte 2023 jedoch als durchschnittlich. Der Aufkaufpreis war großzügig festgesetzt worden, um im Vorfeld der Wahlen die Bauern nicht zu verstimmen. Doch zeichnete sich damit bereits seit Winter 2023 ab, dass für den Aufkauf neuen Getreides 2024 weder Geld noch Lagerkapazität vorhanden ist. Die Lösung wurde nicht in einem unverzüglichen Importstopp oder Ausbau der Lagerkapazitäten gesucht. Sie war einfacher: ein geringer Ankaufspreis sollte die Bauern vom Verkauf an den Staat abschrecken. Verkaufen Bauern jedoch an die Privatwirtschaft, werden sie nicht mehr durch den Abnahmepreis geschützt und verlieren außerdem die staatliche Anbauprämie.

Wer nach dieser Erfahrung im Herbst Bauern davon überzeugen will, Anbauplanung böte Sicherheit für die Betriebe, wird große Glaubwürdigkeitsprobleme haben. Denn die Planung wird durch dieselbe Verwaltung vorgenommen, die die aktuelle Situation verursacht hat.

Das Steuerpaket

Offiziell gibt es noch keinen Termin für das Ende des Gesetzgebungsjahrs, aber für mehr als ein oder zwei Gesetze bleibt vermutlich keine Zeit. Die Priorität ist offensichtlich, vor den Sommerferien wird das Parlament ein Sackgesetz verabschieden, das überwiegend Steuerbestimmungen enthält. In diesem Zusammenhang hatte Finanzminister Şimşek verschiedene Neuerungen ins Gespräch gebracht. So soll sich die Erdgasrechnung künftig nicht mehr allein nach dem Verbrauch richten, sondern auch nach dem Einkommen. Niedrige Einkommen sollen weniger bezahlen, höhere mehr. Außerdem will der Finanzminister eine Transaktionssteuer für Börsengeschäfte einführen, die jedoch in diesem Paket wohl nicht enthalten sein wird. Auch der Plan, durch die Vorlage eines Wertermittlungsgutachtens beim Immobilienkauf sicherzustellen, dass der eingetragene Verkaufspreis dem Marktwert entspricht, ist zunächst verschoben. Angekündigt wird auch die Einführung einer Karbon-Steuer, die wohl auch noch nicht in diesem Paket enthalten sein wird. Neben ihrem Beitrag zum Haushalt spielt sie eine wichtige Rolle im Hinblick auf den Emissionshandel sowie die Vorbereitung auf die Emissionsbesteuerung bei Importen in die EU. Geplant ist zudem eine Steuer für Kuriere, die auf eigene Rechnung arbeiten. Sie ist insofern wichtig, als das Modell auch auf viele andere Steuernischen anwendbar ist. Das Problem dieser Selbständigen ist, dass die Hürde für das Zahlen von Steuern nicht unbedingt mangelnde Zahlungsmoral ist. Der Aufwand an Buchführung und Registrierung ist für Selbstständige meist unverhältnismäßig. Erstmals für „Soziale Medien Phänome“ entwickelt, soll ein Konto eingerichtet werden, über das alle Einnahmen laufen. Die Bank teilt monatlich der Finanzverwaltung den Umsatz mit und führt 15 Prozent als Steuern ab. Ob nach Etablierung dieses Systems in einem zweiten Schritt neben der Einkommenssteuer auch noch die Mehrwertsteuer abgezogen wird, bleibt offen. Dann nämlich würde die Kürzung statt 15 Prozent immerhin 35 Prozent betragen.

Neben neuen Steuern wird es beim bevorstehenden Paket auch um die Erhöhung von Gebühren gehen. Derzeit muss ein türkischer Bürger 150 TL bei der Ausreise entrichten. Nun soll diese Gebühr auf 1.000-1.750 TL angehoben werden. Bedenkt man, dass diese Gebühr 2018 noch 15 TL betragen hat, wirkt der Anstieg Atemberaubend.

Wenn nun schon drastisch an der Schraube für die Gebühren auf Auslandsreisen gedreht wird, lässt dies nichts Gutes für die nächste Halbjahressteuererhöhung (z.B. Alkohol, Tabak) erwarten. Im vergangenen Jahr war die Inflation im Juli nicht zuletzt aufgrund dieser Steuererhöhungen stark gestiegen. Fällt sie dieses Jahr wieder hoch aus, dürfte die Hoffnung auf den Basiseffekt bei der Inflation enttäuscht werden. Sie beruht darauf, dass die Inflation im Juli 2023 äußerst gestiegen war und dies in diesem Jahr nicht eintreten werde, so dass es zu einem schnellen Rückgang der Jahresinflation käme.