Istanbul Post

Kurzmeldungen: Alle Kurzmeldungen

Die Woche vom 19. bis zum 26. September 2025

Die Justiz ist der CHP weiter auf den Fersen. Das 45. Zivilgericht in Istanbul entschied, dass der von ihm eingesetzte Treuhänder im Amt bleibt, obgleich zwei Tage zuvor bei einem außerordentlichen Provinzparteitag Özgür Çelik wiedergewählt wurde. Mit einer Festnahmewelle bei der Metropole Ankara wurde ein neuer Schauplatz eröffnet. Befürchtet wird, dass weitere Ermittlungswellen folgen. Wirtschaftspolitisch konnten wir einen Minister für Arbeit und Soziales erleben, der zunächst Einsparungen bei Renten und sozialen Leistungen anregt, dann aber eine Senkung des Rentenalters für Selbständige ankündigt.

Ein Besuch im Weißen Haus

Für die Kritiker des türkischen Staatspräsidenten war es einfach ein ausgesprochen teurer Fototermin. Von 50 Mrd. Dollar ist die Rede – für Boing Flugzeuge für die Turkish Airlines, F16 und vielleicht auch F35 Kampfflugzeuge. Dazu noch ein großes Flüssiggasabkommen. Auch wird kritisiert, dass vom israelischen Vorgehen gegen Gaza beim öffentlichen Eröffnungsgeplänkel des Gesprächs keine Rede war.

Hilfreich war auch nicht die Einschätzung des US-Botschafters in Ankara Barrak, der meinte, dass die USA dem türkischen Präsidenten das böte, was er am nötigsten brauche: Legitimität.

Was tatsächlich alles vereinbart wurde, werden wir auf die Schnelle nicht erfahren. Neben den bereits abgeschlossenen Käufen ging es für die türkische Regierung um mehr: insbesondere um die Syrien-Politik und eine Lösung für den Palästina-Konflikt. Offen wiederholt hat Trump zudem seine Erwartung, dass NATO-Staaten kein Erdöl mehr in Russland kaufen sollten. Wie weit sich die Türkei fügt, bleibt offen.

Am Rande der Gespräche wurde außerdem eine Absichtserklärung zur Kooperation bei der zivilen Nutzung der Kernenergie unterzeichnet. Wenn man bedenkt, dass ein solches Abkommen zuvor bereits mit Süd Korea unterzeichnet wurde, lehnt man sich zurück und wartet ab, ob man sich dieses Mal tatsächlich einigen kann. Aber auch hierzu sind bisher keine Einzelheiten bekannt.

Ähnlich verhält es sich auch bei der UN-Generalversammlung. Wieder stand Gaza im Vordergrund. Zahlreiche Länder erkennen einen palästinensischen Staat an, doch hat dies wenig praktische Konsequenzen. Die Staaten zeigen sich hilflos gegenüber dem israelischen Vorgehen, es ist vielmehr der Druck der öffentlichen Meinung, der zu konkreten Konsequenzen führt – wie die Verhinderung von Israel-Exporten in italienischen Häfen. Ein weiteres Thema der Generalversammlung war die Klimapolitik. Im November wollen die Staaten ihre Klimaziele aktualisieren. Für eine positive Überraschung sorgte China, Umweltorganisationen dagegen zeigten sich enttäuscht über die Präsentation von Staatspräsident Erdoğan, dessen Ziele bei der Emissionsverringerung auf einen realen Anstieg um 16 Prozent bis 2035 hinauslaufen. Ein Blick auf die Müllcontainer an der Straßenecke zeigt zudem, wie es um das stolz präsentierte Ziel von „Null-Abfall“ steht. Mülltrennung findet nicht statt und damit auch kaum eine Rückgewinnung von Rohstoffen.

Zähes Ringen

Das 45. Zivilgericht Istanbul macht weiter Politik. Zunächst hatte es im Rechtsstreit um den CHP-Provinzparteitag 2023 die bisherige Provinzführung abgesetzt und einen Treuhänder eingesetzt, der einen neuen Parteitag durchführen sollte. Zugleich wurden die laufenden Kreisparteitage zur Vorbereitung eines regulären Provinzparteitages gestoppt. All dies erfolgte auf der Grundlage einer einstweiligen Anordnung. Da die Zuständigkeit für Wahlen – auch bei Gremienwahlen von Parteien – nicht beim Zivilgericht, sondern dem Hohen Wahlrat liegt, hatte dieser die einstweilige Anordnung im Hinblick auf die laufenden Kreisparteitage aufgehoben.

Auf der Grundlage eines Antrags der Parteitagsdelegierten wurde für den 24. September ein außerordentlicher Parteitag der CHP-Istanbul einberufen, mit dem die abgesetzte Provinzführung wieder eingesetzt werden sollte. Das 45. Zivilgericht beharrte jedoch auf seine einstweilige Anordnung und versuchte die Durchführung dieses außerordentlichen Parteitages zu verhindern. Wieder entschied der Hohe Wahlrat, dass es dazu nicht befugt ist.

Derweil erklärt der eingesetzte Treuhänder Gürsel Tekin, dass sich die Partei zu ihrem Besten seiner Führung anvertrauen solle. Auch fabulierte er in einem Gespräch, dass es verdeckte Gülen Anhänger seien, die die Partei benutzten, um Unruhe zu stiften. Sein Versuch, die Istanbuler Parteigliederung lahm zu legen, in dem er die Stilllegung ihrer Fahrzeuge beantragte, wurde gerichtlich gestoppt. Sein Hinweis, dass sein Amt als Treuhänder erst endete, wenn das Gericht dies anordnet, klingt nur auf den ersten Blick wie eine juristische Feststellung. Er könnte ohne weiteres von seiner Beauftragung zurücktreten. Am 26. September entschied nun das 45. Zivilgericht, dass Tekin im Amt bleibt. Implizit erkennt es damit den außerordentlichen Provinzparteitag vom 24. September nicht an. Nun gibt es eine Doppelspitze: den beinahe einstimmig wiedergewählten Provinzvorsitzenden Özgür Çelik und Gürsel Tekin, der die Partei gegen ihren Willen führen möchte.

Bleibt anzumerken, dass das 45. Zivilgericht Istanbul mit seiner Position recht einsam dasteht. Es hatte mehrere Klagen gegen den Istanbuler Parteitag 2023 gegeben. Die meisten waren in der vergangenen Woche von einem Gericht in Ankara abgelehnt worden, dass zugleich feststelle, dass der Gerichtsort für solche Klagen Ankara ist. Daraufhin wurden die übrigen in Istanbul anhängigen Klagen zu diesem Parteitag von Istanbuler Gerichten nach Ankara überwiesen und werden nun eingestellt.

Staatsgewalt

Vor der Villa des Vorsitzenden des türkischen Verbandes der Exporteure TIM erschien die Polizei. Die Tür wurde aufgebrochen, die Polizei drang in das Gebäude ein. Er selbst war nicht zu Hause. Später ließ er mitteilen, dass es sich um eine Verwechselung gehandelt habe. Man sei der Auffassung gewesen, das Handy eines Gesuchten an den Koordinaten seines Hauses geortet zu haben.

Der Inhaber eines größeren Unternehmens im High Tech Sektor berichtet, er sei in seinem Büro verhaftet worden. Man brachte ihn zunächst ins Krankenhaus zur Gesundheitskontrolle, dann direkt in eine Zelle des Justizgebäudes. Dort ließ man ihn mit zehn weiteren Personen warten. Die Kontaktaufnahme zu seinem Anwalt wurde ihm verweigert. Als er schließlich zu einem Staatsanwalt gebracht wird, erfährt er, dass eine Anzeige vorliegt. Eine Telefonnummer, die früher von seinem Unternehmen genutzt wurde, sei für einen Betrug benutzt worden. Doch hatte man sich nicht die Mühe gemacht zu überprüfen, ob das Unternehmen die Nummer nach wie vor nutzt. Nachdem sich dies herausstellte, ließ man den Geschäftsmann gehen.

Dieser zeigte sich erbost und machte die Sache öffentlich. Man hätte zunächst die Telefonnummer überprüfen müssen. Wenn man von ihm eine Aussage wollte, hätte man ihn anrufen oder einladen können. Das Recht auf einen Anwalt wurde missachtet.

Die hemdsärmlichen Methoden, mit denen bei den Ermittlungen gegen CHP-Kommunalpolitiker vorgegangen wird, können auch andere treffen. Da weder bei Polizei noch bei Justiz ein Mindestmaß an Dienstaufsicht greift, werden alltägliche Rechte in Frage gestellt.

Kommission gibt sich einen Zeitplan

Die Parlamentskommission zur Begleitung des Friedensprozesses wird noch zwei weitere Wochen mit Anhörungen verbringen. Mitte Oktober soll dem Parlamentsplenum ein Bericht vorgelegt werden, der zumindest als Überschriften die nötigen Gesetzesänderungen enthalten soll. Die Ausarbeitung soll dann in den parlamentarischen Fachausschüssen erfolgen. Offen bleibt nach wie vor, ob auch der inhaftierte PKK-Führer Abdullah Öcalan angehört werden soll. Die MHP hatte vorgeschlagen, eine Delegation von vier oder fünf Abgeordneten auf die Gefängnisinsel Imrali zu schicken, hat bisher jedoch nicht darauf bestanden.

Nach den Waldbränden die Flut

Während der Westen und Süden der Türkei unter Dürre leiden, hat das östliche Schwarzmeergebiet mit großen Überschwemmungen zu kämpfen. Zahlreiche Straßen und Brücken wurden zerstört, Häuser fortgerissen. Wirklich außergewöhnlich ist dies nicht – in jedem Sommer und Herbst ereignen sich in diesem Gebiet Überschwemmungen. Und jedes Mal wiederholt sich die Diskussion über menschengemachte Faktoren, die das Unglück vergrößern. Vornan steht die Missachtung der Bebauungsplanung. Doch betrachtet man die Prognosen für den Klimawandel, so wird davon ausgegangen, dass in weiten Teilen der Türkei die Niederschläge zurückgehen, in der mittleren und östlichen Schwarzmeerregion jedoch zunehmen werden.

Probleme der Statistik

Das Sozialforschungsinstitut der Union der Türkischen Kammern und Börsen TEPAV beschäftigt sich regelmäßig mit dem Arbeitsmarkt. Es stützt sich dabei auf die Daten der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Dies ist eine recht genaue Grundlage, da die Sozialversicherung SGK regelmäßig Versichertendaten veröffentlicht. Im Juni 2025 wird die Zahl der versicherten Arbeitnehmer mit 25,6 Mio. angegeben. Das Türkische Statistikinstitut (TUIK) wiederum führt für seine Arbeitsmarktstatistik regelmäßig eine Umfrage durch. Hier wird die Zahl der Beschäftigten mit 32,6 Mio. angegeben. Demnach befindet sich jeder Vierte in einem irregulären Beschäftigungsverhältnis. In der Landwirtschaft erreicht dieser Anteil sogar mehr als 80 Prozent. In den übrigen Sektoren liegt er bei 16,8 Prozent.

Als einer der Gründe für die hohe Zahl irregulärer Beschäftigungsverhältnisse wird in der Landwirtschaft der Einsatz „unbezahlter Familienmitglieder“ vermutet. Dabei handelt es sich überwiegend um Frauen. Einen Anreiz, sie zu versichern, gibt es nicht, weil sie ohnehin durch die Familienversicherung abgesichert sind. Und dann gibt es noch die Saisonbeschäftigten, die zu registrieren, beträchtlichen Aufwand erfordert.

Wenn aber auch in den übrigen Sektoren jeder sechste Beschäftigte ohne Versicherung beschäftigt wird, wirft dies andere Fragen auf. Zu bedenken wäre jedoch, dass sich Daten aus einer Umfrage (TUIK) nicht einfach mit denen einer Zählung (SGK) vergleichen lassen. Bei ersteren handelt es sich um eine Schätzung, bei letzteren um die Zählung von Versicherungsverhältnissen. Die tatsächliche Beschäftigung wird sich vermutlich dazwischen befinden.

Ähnlich verworren wird es, wenn der Minister für Arbeit und Soziales angibt, dass sich seit 2002 (dem Regierungsantritt der AKP) der Mindestlohn um den Faktor 120 erhöht habe. Es gäbe einen realen Lohnzuwachs von 242 Prozent. Dem antwortet der Ökonom Dr. Yakup Küçükkale, dass die Anstiegsrate zwar stimme, der Preisanstieg kumulativ jedoch beim Faktor 234 liege. Demzufolge habe sich die Kaufkraft des Reallohns um die Hälfte verringert. Sinnvoller jedoch als die nicht immer plausiblen Inflationsdaten heranzuziehen, wäre es vielleicht von einem Warenkorb auszugehen, wie es die Sozialforschungsinstitute der Gewerkschaftsbünde tun. Sowohl Türk İş als auch DISK veröffentlichen regelmäßig solche Daten, die ausgehend von den Lebenserhaltungskosten in Ankara zeigen, dass ein Mindestlohn weit entfernt davon ist, eine vierköpfige Familie zu ernähren.

Sinngemäß äußerte sich der Minister für Arbeit und Soziales im Hinblick auf die Rente mit Hinweis auf die deutsche Diskussion über die Bezahlbarkeit des Sozialstaates, dass Kürzungen im Zeitgeist lägen. Er führt dazu aus, dass in Deutschland ein Versicherter 40 Jahre arbeiten müsse, um einen Rentenanspruch zu erwerben, in der Türkei in manchen Fällen nur 20 Jahre. Demgegenüber bezöge man in Deutschland 15-20 Jahre eine Rente, in der Türkei dagegen 40 Jahre. Im Hinblick auf die Zukunftsfähigkeit dieser Verfahrensweise mag man dem Minister mit Blick auf die Beschäftigungsentwicklung beipflichten. Er lässt dabei jedoch außer Acht, dass es seine Regierung war, die um die letzte Präsidentenwahl zu gewinnen, eine frühzeitige Verrentung ermöglichte. Zudem lässt er außer Acht, dass aufgrund der niedrigen Erhöhungen eine Mindestrente nicht ausreicht, einen Haushalt zu ernähren.

Kurios ist zudem, dass derselbe Minister tags darauf ankündigt, die Zahl der Mindestbeitragstage für Selbstständige auf das Niveau der abhängig Beschäftigten zu senken. Damit werden wiederum Zehntausende neue Rentner geschaffen. Und dann wird wieder erklärt, dass man die Rente nicht finanzieren kann. Man teilt sie einfach immer weiter unter immer mehr Personen. Eine Alterssicherung ist sie dann nicht mehr.