Istanbul Post

Kurzmeldungen: Alle Kurzmeldungen

Die Woche vom 28. März bis zum 4. April 2025

Gleich nach den Feiertagen folgte ein allgemeiner Boykott. Studenten hatten einen allgemeinen Konsumverzicht für einen Tag angestoßen. Die CHP schloss sich an, die Regierung reagierte aufgeregt. Und die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu wurde erwischt, als sie mit nicht vorhandenen statistischen Daten die Erfolglosigkeit des Boykotts zu beweisen suchte. Derweil sinkt die Inflation auf ebenfalls nicht wirklich nachvollziehbare Weise.

30 Millionen Unterschriften

Zum Wochenbeginn hat die CHP in Rize ihre Unterschriftenaktion gestartet. Nach der hohen Beteiligung an der Vorwahl von Ekrem İmamoğlu zu ihrem Präsidentschaftskandidaten will sie nun mehr als die Hälfte der Wähler:innen für ihre Forderung nach unverzüglichen Neuwahlen mobilisieren. Eine rechtliche Bedeutung hat die Unterschrift nicht – Neuwahlen können nur vom Parlament oder vom Staatspräsidenten beschlossen werden. Aber ähnlich wie die Vorwahl handelt es sich um eine niedrigschwellige Aktionsform, die sich über mehrere Wochen durchführen lässt.

Am 6. April führt die CHP außerdem einen außerordentlichen Parteitag durch. Zunächst war das Ziel, durch die Wiederwahl des Vorsitzenden einer Absetzung von Özgür Özel zuvorzukommen, nachdem die Staatsanwaltschaft sowohl zum nationalen Parteitag als auch zum Istanbuler Provinzparteitag Ermittlungen wegen angeblicher Manipulationen begonnen hat. Darüberhinaus bietet der außerordentliche Parteitag jedoch auch die Möglichkeit, Geschlossenheit zu demonstrieren.

Außerdem ist im Gespräch, vielleicht im April oder Mai einen Programmparteitag durchzuführen. Legt die Partei ein plausibles Programm vor, könnte sie zeigen, dass sie jederzeit für eine Wahl bereit ist.

Boykott

Seit der Verhaftung von Ekrem İmamoğlu sind Boykotte in aller Munde. Zunächst waren es wohl Studenten, die einige Unternehmen boykottieren wollten, die sie als „Regierungsunterstützer“ bewerteten. Dann stellte sich auch die CHP hinter die Aktion. Es gab drei Websites, die Boykottlisten enthielten, jedoch gerichtlich gesperrt wurden. Die Regierung reagierte mit dem Vorwurf, die CHP würde Chaos stiften wollen und dem Land schaden.

Und dann schloss sich die CHP einem Totalboykottaufruf von Studenten an, die jedes Einkaufen am 2. April einstellen wollten. Während der Handelsminister darauf hinwies, dass sich die Aufrufer zu einem solchen Boykott Schadenersatzklagen ausgesetzt sehen können, kontern Befürworter mit einem Urteil des Verfassungsgerichts, das diese Aktionsform als Teil der Meinungsfreiheit bewertet hat. Wirtschaftsverbände wie die Union der Türkischen Kammern und Börsen TOBB riefen dazu auf, am 2. April doppelt soviel zu kaufen, wie bisher…

Es gibt Beispiele für erfolgreiche Boykotts. In der aktuellen Auseinandersetzung beispielsweise den gegen den Veranstaltungsorganisator DBL Entertainment. Aktivist:innen hatten sich mit mehreren Musiker:innen in Verbindung gesetzt und sie aufgerufen, Veranstaltungen abzusagen. Nachdem einige diesem Aufruf gefolgt sind, hat sich DBL zunächst aus allen Aktivitäten im Frühjahr zurückgezogen. Insgesamt jedoch lässt sich schwer sagen, ob Boykotte befolgt werden. Vermutlich besteht der Reiz darin, Massen bewegen zu wollen. Vielfach wird dabei jedoch übersehen, dass die aktuelle Auseinandersetzung nicht für die ganze Bevölkerung Lebensmittelpunkt ist.

Beachtlich ist gleichwohl die Aufregung, die der Aufruf im Regierungslager ausgelöst hat. Ein Minister lässt sich beim Einkauf im Supermarkt fotografieren. Kleiner Schönheitsfehler: der Laden ist offensichtlich leer. Die regierungsnahe Hürriyet meldet, dass die Menschen nur so zum Einkauf geströmt seien.

Zwei EU-Entscheidungen

Am 2. April erklärte EU-Kommissarin für Erweiterung, dass sie nicht am Diplomatie Forum in Antalya teilnehmen und ein Gespräch mit Außenminister Fidan nicht stattfinden werde. Sie begründete dies mit der Verhaftung von Ekrem İmamoğlu. Auf der anderen Seite fand am 3. April erstmals seit 2019 wieder der Hochrangige Wirtschaftsdialog statt. Die Türkei wird dabei von Wirtschaftsminister Şimşek vertreten, die EU durch den Wirtschaftskommissar Valdis Dombrovskis. Im Vorfeld warb Mehmet Şimşek, dass eine Aktualisierung der Zollunion um öffentliche Aufträge, Dienstleistungen und Landwirtschaft sowie Visumserleichterungen für Geschäftsleute und Studenten beiden Seiten große Vorteile bringe. Als Ergebnis der Gespräche wurde mitgeteilt, dass sich beide Seiten einig darin seien, die gegenseitigen wirtschaftlichen Beziehungen zu vertiefen. Die türkische Seite meldete außerdem, dass das nächste Treffen in der Türkei stattfinden werde. Und dann gibt es noch einen Satz von Mehmet Şimşek, der klingt, als sei er Teil des Abschlussprotokolls: „Um in den Beziehungen von EU und Türkei Vertrauen aufzubauen, bedarf es EU-Türkei Beziehungen, die auf gemeinsamen demokratischen Werten gründen und eine weitere wirtschaftliche Integration unterstützen.“

Es gab ein kleineres Ereignis am Rande. An der Beratung in Brüssel nahmen auch Wirtschaftsvertreter teil. Geladen war unter anderem auch der TÜSIAD-Vorsitzende. Doch weil die Regierung gegen ihn ein Verfahren wegen „Desfinformation“ eröffnen ließ, erhielt dieser ein Ausreiseverbot. Auch für die Brüsseler Konferenz wurde keine Ausnahme gemacht. TÜSIAD schickte darum A. Dilek Aydın, die auch die Arbeitgebervereinigung TISK und Business Europe vertritt. Die „gemeinsamen demokratischen Werte“ wirken dabei ein wenig ironisch.

Türkische Militärbasen in Syrien

Die britische Webseite Middle East Eye berichtete am 1. April 2025 über Pläne der türkischen Regierung, in der syrischen Wüste nahe Palmyra einen Luftwaffenstützpunkt aufzubauen. Grundlage soll eine Absprache zwischen dem Übergangspräsidenten Schara und Staatspräsident Erdoğan am 4. Februar sein, die u.a. Hilfe beim Wiederaufbau der syrischen Armee beinhaltet. Der türkische Kolumnist der Nachrichtenplattform T24 Akdoğan Özkan geht davon aus, dass die geplanten Basen eines der zentralen Themen bei den Gesprächen der Außenminister Fidan und Rubio in den USA waren.

Auf Misstrauen und Ablehnung treffen diese Pläne vor allem bei der israelischen Regierung, die sich vorbehält, durch regelmäßige Bombardierung der militärischen Infrastruktur Syriens ein Wiedererstarken des Landes zu verhindern.

Interessantes Rechtsverständnis

BTK ist die zentrale Aufsichts- und Regulierungsbehörde für die Telekommunikation und hat darum auch eine Schlüsselstellung bei Internet und sozialen Medien. Diese Position benutzt diese Institution zuweilen auf recht eigenwillige Weise. Man sollte davon ausgehen, dass Eingriffe staatlicher Institutionen in private Kommunikation stets einer Rechtsgrundlage bedürfen. Doch als nach dem Erdbeben vom 6.02.2023 die Erreichbarkeit sozialer Medien unterbunden und damit selbst Hilferufe Verschütteter verhindert wurden, hielt sich BTK nicht lange mit Rechtfertigungen auf. Auch nach der Verhaftung von Ekrem İmamoğlu wurden soziale Medien blockiert.

Nun meldet die Tageszeitung Karar, dass eine neue Verordnung für die BTK-Kompetenzen bei sozialen Medien ausgearbeitet wurde. Eine Bestimmung darin berechtigt BTK im Namen der „nationalen Sicherheit“ und „öffentlichen Ordnung“ der Zugang zu sozialen Medien zu unterbinden. Sieht man einmal von den unbestimmten Rechtsbegriffen wie „öffentliche Ordnung“ ab, so sieht die Verfassung vor, dass Einschränkungen von Grundrechten nur durch Gesetz erfolgen können. Die Kommunikations- und Informationsfreiheit kann als nicht per Verordnung eingeschränkt werden. Und schon gar nicht ohne Verordnung, d.h. ohne Rechtsgrundlage.

Eine andere Irritation in Sachen Rechtsstaatlichkeit sind die Festnahmen bei den Demonstrationen der vergangenen zwei Wochen. Geht man von Berichten von Anwälten aus, so lautet der Vorwurf „Verstoß gegen das Demonstrationsrecht“. Bei der Untersuchungshaft wird zudem teilweise auf „Fluchtgefahr“ hingewiesen. In der bisherigen Rechtspraxis führt ein Verstoß gegen das Versammlungsrecht allein nicht zu einer Haftstrafe. Darüber hinaus reichende Vorwürfe wie „Verletzung eines Beamten“ etc. werden nicht erhoben. Die Beschuldigung ist meist abstrakt: „Teilnahme an einer Kundgebung“. Mehr nicht.

Hinzu kommen Vorwürfe über Misshandlungen und Erniedrigungen bei Festnahme und im Polizeigewahrsam. Unverhältnismäßige Gewalt bei der Festnahme, zum Teil vollkommen unmotivierte Gewalt, Besprühen von Gefangenen mit Tränengas, die dann keine Möglichkeit haben, ihre Kleidung zu wechseln und so stundenlang dem Gas ausgesetzt sind. Plastikhandschellen, die über Stunden nicht abgenommen werden und zu Verletzungen an den Handgelenken führen. Personen, denen die Einnahme ihrer Medikamente verweigert wird. Entrüstet zeigt sich die Polizeiführung angesichts von Vorwürfen sexueller Belästigung bei Festnahmen. Die übrigen Vorwürfe hält sie vermutlich für unwichtig.

Über Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamte ist nichts bekannt. Über Ermittlungen wegen Einsatzbefehlen, die das Demonstrationsrecht demontieren, ist ebenfalls nichts bekannt. Auch scheint es keine Ermittlungen gegen Richter und Staatsanwälte zu geben, die für Untersuchungshaft mit Vorwürfen sorgen, denen in der Regel keine Haftstrafe folgt. Der Vorwurf würde Freiheitsberaubung im Amt lauten…

Preise für Schuhe und Bekleidung wieder zurückgegangen

Das Türkische Statistikinstitut hat die Inflation für März mit 2,46 Prozent monatlich und 38,1 Prozent jährlich bekannt gegeben. Modellrechnungen und Erwartungen hatten ebenfalls bei 2,5 Prozent gelegen. Doch die Handelskammer Istanbul ermittelte für die Metropole einen Preisanstieg von 3,79 Prozent. Bis zum Übergang zum Präsidialsystem und einer Änderung der Transparenzpolitik des Instituts waren der staatliche und der Kammer-Index weitgehend parallel verlaufen.

Dabei gibt es immer wieder Werte, die das Türkische Statistikinstitut zumindest erklären müsste. Seit Jahresbeginn beispielsweise werden die Preise für die Warengruppe Schuhe und Bekleidung als rückläufig angegeben. Im März sollen es 2,48 Prozent gewesen sein. Die Handelskammer Istanbul dagegen ermittelt einen Preisanstieg um 0,09 Prozent. In den zwei Vormonaten zeigte sich bei dieser Gruppe die gleiche Diskrepanz ohne dass bisher eine einleuchtende Erklärung dafür veröffentlicht wurde.